«Achtung Verachtung»

Der Bund

BILDUNG / Der Umgang mit Rechtsextremismus ist Thema eines neuen Lehrmittels.

Lehrmittel über Rechtsextremismusbel. Die Themen Rassismus und Rechtsextremismus sollen in den bernischen Schulen künftig besser thematisiert werden können. Drei Autorinnen haben dafür ein neues Lehrmittel geschaffen.

Dieses Lehrmittel mit dem Titel «Achtung Verachtung», das ab dem 7. Schuljahr eingesetzt werden kann, hat als Grundlage die Erklärung der schweizerischen Erziehungsdirektorenkonferenz, wonach «die Schule zur Achtung vor den Mitmenschen, zur Toleranz unter religiösen, ethischen, sozialen und andern Gruppen und zum Frieden unter den Völkern zu erziehen hat».

Mit «Achtung Verachtung» gegen Rechts

BILDUNG / Mit Hilfe eines neuen Lehrmittels sollen die bernischen Lehrkräfte im Unterricht das Thema Rassismus und Rechtsextremismus aufgreifen: Mit «Achtung Verachtung» wollen die Autorinnen eine Lücke schliessen und die Zunahme des Rechtsextremismus stoppen – im Bewusstsein, dass die Schule allein dazu nicht fähig ist.

? CHRISTINE BRAND

«Skinhead sein bedeutet für mich: ,Singen, Tanzen, Spass, Zusammenhalt, Kanaken und Linken auf die Schnauze hauen, mein Leben!‘ A., 23 Jahre.» – «Skinheads erzählen» heisst der Titel eines Arbeitsblatts zum Thema Rechtsextremismus im neuen vierteiligen Lehrmittel «Achtung Verachtung». Die anonymisierten Aussagen der Skinheads müssen von den Schülerinnen und Schülern analysiert und eingeordnet werden. Weiter hinten im Heft sind Zeitungsartikel wiedergegeben, die über «Rechte Gewalt» berichten und Anlass zu Diskussionen geben sollen. Auch rassistische Lieder sind im Lehrmittel zu finden, ebenso wie Auszüge aus dem Staatsschutzbericht, Comics zum Thema Gewalt und ein Abriss über die Entstehung der Skinheads – über die Jugendbewegung der weissen und schwarzen (!) Engländer Ende der 60er-Jahre.

«Wir haben gemerkt, dass ein geeignetes Lehrmittel zum Thema Rassismus und Rechtsextremismus gerade für die Real- und Sekundarstufe I fehlt», sagt Luise Treu. Deshalb hat sie gemeinsam mit Maria Zimmermann und Rahel Beyeler kurzum ein eigenes Lehrmittel kreiert. «Es ist in der Besorgnis darüber entstanden, dass Gewaltakte mit rechtsextremem Hintergrund zunehmen und rassistische Einstellungen und rassistisches Verhalten in der breiten Gesellschaft immer mehr akzeptiert werden.» Der Fremdenfeindlichkeit und der Vorstellung von Ungleichheit der Menschen werde ein Menschenbild der Gleichwertigkeit und der gegenseitigen Akzeptanz gegenübergestellt (vgl. unten). «Unser Hauptziel ist es, die Jugendlichen für das Thema zu sensibilisieren, bevor sich rechtsextremistische Weltbilder festgesetzt haben», sagt Luise Treu. Auch sollen junge Menschen, die gegenüber Fremdem tolerant seien, in ihrer Haltung bestärkt werden. «Die Unterrichtsmaterialien sind aber auch als Denkanstösse für bereits rechtsgesinnte Jugendliche einsetzbar.» Ihnen dürfe das Gespräch nicht verweigert, sie müssten zu einer Auseinandersetzung aufgefordert werden.

Ab der 7. Klasse

Die drei Autorinnen möchten, dass ihr Lehrmittel ab dem 7.Schuljahr eingesetzt wird. Der bernische Lehrplan schreibt zwar keine konkreten Lehrmittel vor. Laut Luise Treu passt «Achtung Verachtung»aber genau in den Stoffplan des Lehrplans. «Sich gegen jede Art von Diskriminierung und Benachteiligung von Menschen einsetzen», lautet eines der darin formulierten Ziele – zu erreichen beispielsweise, indem die Themen Rassismus, Sexismus und Fremdenfeindlichkeit bearbeitet werden. Laut Luise Treu eignet sich das Lehrmittel auch, um einer Erklärung der Schweizerischen Erziehungsdirektorenkonferenz nachzukommen: «Die Schule hat zur Achtung vor den Mitmenschen, zur Toleranz unter religiösen, ethischen, sozialen und anderen Gruppen und zum Frieden unter den Völkern zu erziehen. Unterricht und Erziehung in der Schule wirken darauf hin, dass offene und versteckte Formen von Rassismus bewusst gemacht und bekämpft werden und dass die Begegnung mit fremden Menschen angstfrei und offen verlaufen kann.»

Die Aufklärung über den Rechtsextremismus ist für Luise Treu somit «ganz klar einAuftrag der Schule». Ob die Lehrkräfte sich dabei auf das neue Lehrmittel stützen wollen, ist ihnen jedoch freigestellt. «Mit Hilfe der Zentralstelle für Lehrerinnen- und Lehrerfortbildung wollen wir das neue Lehrmittel allen Schulen und Lehrkräften vorstellen», sagt Treu. Mit den fixfertig vorbereiteten Arbeitsunterlagen hofft sie, Anreize für die Lehrkräfte zu schaffen, sich des Themas anzunehmen. Auch Hans Jensen, Marketingleiter des Lehrmittelverlags, hofft, dass «Achtung Verachtung» breit eingesetzt wird, «weil die Schulen im Bereich der Gewaltprävention Unterstützung brauchen können». Dieses Lehrmittel zeige für den schwierigen Unterrichtsauftrag gute Möglichkeiten auf.

Das Beispiel Unterseen

An der ersten Informationsveranstaltung zum neuen Lehrmittel gehört nebst Rechtsextremismus-Experte Hans Stutz auch Mark Kohler zu den Referenten. Kohler ist Schulleiter in Unterseen, der Gemeinde, die Anfang Jahr in die Schlagzeilen geraten war: Vier junge Männer, Mitglieder des rechtsextremistischen «Ordens der arischen Ritter», schlugen den 19-jährigen Marcel von Allmen zu Tode, weil er das Schweigegelübde des Ordens gebrochen hatte.

«Wir sind vom Autorinnenteam angefragt worden, ob wir mitmachen wollen», sagt Mark Kohler. «Wir werden über die Erfahrungen berichten, die unsere Schule gemacht hat: Eigentlich nicht wegen der Sache an sich, sondern durch die Berichterstattung der Medien sind wir gegen unseren Willen in eine schwierige Situation gebracht worden.» Manch einer habe sich sicher gefragt, was das für eine Schule sei- obwohl die Schule selber nicht direkt in die Situation einbezogen war. Kohler: «Wir sind erschrocken, wie alle anderen auch.» Vielleicht könne er aber an andere Schulen weitergeben, wie sich solche Situationen vermeiden lassen oder wie damit umzugehen sei.

Nicht bloss Sache der Schule

Sowohl Mark Kohler als auch Luise Treu betonen, dass die Prävention gegen Rassismus und Rechtsextremismus nicht alleinige Sache der Schulen sei. «Es wäre zu einfach, diese Arbeit einzelnen Lehrpersonen zu übertragen und sie dafür verantwortlich zu machen», sagt Treu. «In diesem Sinne stossen auch die Unterrichtsmaterialien an Grenzen.» Denn die Verantwortung der Lehrperson gegenüber den Jugendlichen sei begrenzt. Der Lehrer oder die Lehrerin müsse weder für das Denken noch für das Handeln des Schülers bürgen können. «Die Bildungsarbeit gegen Rechtsextremismus kann auch am Widerstand der Jugendlichen oder der Eltern scheitern», sagt Luise Treu. «Wenn bereits zuhause eine nach rechts ausgerichtete fremdenfeindliche politische Grundstimmung herrscht, können 20 Unterrichtslektionen aus dem Jugendlichen keinen offenen, toleranten Menschen machen.» Wichtig sei deshalb, dass nicht bloss einzelne Lehrkräfte, sondern die Schule, die Gemeinden und die Eltern gemeinsam dem Rechtsextremismus entgegentreten würden.

«Pommes frites raus»

cbb. «Achtung Verachtung» ist im Berner Lehrmittel- und Medienverlag und im Verlag Pestalozzianum, Zürich, erschienen. Es widmet sich den Themen «Rassismus», «Nationalsozialismus», «Rechtsextremismus» und «Reaktionen von Staat und Gesellschaft». Im ersten Teil befassen sich die Schüler unter dem Titel «Ich bin…», «Pommes frites raus» oder «Was ist Rassismus» mit Fremdem und Vertrautem. Der Nationalsozialismus und die Massenvernichtungen im Zweiten Weltkrieg werden im zweiten Teil aufgegriffen. Dass nicht alle Skinheads rechte Skinheads sind, ist in Teil drei zu erfahren. Antirassismusgesetz und Holocaustleugner sind Thema im vierten Teil. Mit Arbeitsblättern, Rollenspielen und einer Werkstatt soll das Unterrichten leichter gemacht werden. Das Begleitheft für Lehrpersonen enthält Bücher- und Filmtipps und eine Liste von Websites mit Hintergrundinfos.