«Jüdische Einrichtungen sind gefährdet»

Neue Zürcher Zeitung: Herbert Winter, Präsident des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebunds, zum Vorfall bei einer jüdischen Schule in Zürich

Die Behörden nähmen den Schutz jüdischer Einrichtungen ernster als früher, sagt Herbert Winter. Eine Auswanderungswelle fürchtet der oberste Schweizer Jude nicht.

Herr Winter, die Polizei hat am Donnerstag in Zürich eine jüdische Schule abgeriegelt, weil zuvor verdächtige Aktivitäten beobachtet wurden. Beunruhigt Sie das?

Ja, zumal es nicht das erste Mal ist, dass so etwas passiert. Bis am Donnerstag musste allerdings noch nie die Polizei ausrücken. Der Vorfall zeigt, dass die Verunsicherung gross ist.

Sie fühlen sich aber sicher?

Ja, ich fühle mich sicher, bin aber auf der Hut.

Ist die Verunsicherung nach Paris stärker geworden?

Wir müssen feststellen, dass jüdische Einrichtungen im Ausland vermehrt Zielscheibe von terroristischen Attacken geworden sind. Etwa der jüdische Supermarkt in Paris nach der Attacke auf «Charlie Hebdo», das jüdische Museum in Brüssel oder die Synagoge in Kopenhagen. Diese Entwicklung ist natürlich auch bei uns Thema. Jüdische Einrichtungen sind auch in der Schweiz gefährdet und müssen geschützt werden.

Gibt es auch hierzulande mehr antisemitische Übergriffe?

Nein, bis jetzt nicht. Wir verzeichnen immer wieder antisemitische Vorfälle, vor allem in den sozialen Netzwerken, und es gab kürzlich ähnlich diffuse Aktivitäten vor der Synagoge in Genf, aber sonst blieben jüdische Einrichtungen bisher verschont. Die Attacke von Neonazis auf einen orthodoxen Juden im Juli blieb zum Glück eine Ausnahme.

Die Auswanderung französischer Juden nach Israel sorgte im letzten Jahr für Aufsehen. In der Schweiz blieb es dagegen ruhig. Täuscht der Eindruck?

Nein, er täuscht nicht. Ich kenne persönlich keinen einzigen Schweizer Juden, der aus Angst nach Israel ausgewandert ist. Aber auch in Frankreich herrscht diesbezüglich keine Panik. Gegenüber 2014, als rund 7000 jüdische Franzosen ihrer Heimat den Rücken kehrten, hat die Auswanderung um vielleicht 10 bis 15 Prozent zugenommen.

Sie haben die Behörden auch schon für ihre laxe Haltung kritisiert. Werden Ihre Warnungen aus Ihrer Sicht inzwischen genügend ernst genommen?

Seit den Anschlägen in Paris stelle ich ein Umdenken fest. Die Polizei nimmt Meldungen sehr ernst, wie der Vorfall bei der jüdischen Schule in Zürich gezeigt hat. Mir ist auch lieber, die Polizei rückt einmal zu viel aus als zu wenig.

Hat der Vorfall Folgen für die jüdische Gemeinschaft in Zürich?

Es gibt schon Eltern, die besorgt sind und sich fragen, ob sie ihre Kinder noch in die Schule schicken sollen. Das Leben soll aber weitergehen. Zumal die Sicherheit für die jüdische Gemeinschaft seit Jahren ein grosses Thema ist. Die Juden sind verstärkte Sicherheitsmassnahmen seit Jahren gewohnt.

Bis jetzt tragen die jüdischen Gemeinden die Sicherheitskosten alleine. Sie fordern seit längerem eine Unterstützung durch den Staat. Laut der «NZZ am Sonntag» tut sich nun etwas in dieser Frage.

Ja. Wir erwarten, dass sich der Staat personell oder finanziell beteiligt. Bundesrat Maurer hat Arbeitsgruppen eingesetzt, die sich damit befassen sollen, wie der Schutz der jüdischen Einrichtungen konkret verbessert werden kann. Darin sind der Bund, Kantone und die jüdische Gemeinschaft vertreten. Auch der Zürcher Polizeivorsteher Richard Wolff will mehr für den Schutz unternehmen. Ich halte das für ein positives Zeichen.

Sind die Arbeitsgruppen überhaupt schon eingesetzt?

Bis jetzt noch nicht. Anfang des Jahres ist jedoch ein erstes Treffen geplant.

Durch die Flüchtlingswelle kommen gegenwärtig sehr viele Menschen aus dem Nahen Osten in die Schweiz.

Es ist richtig und wichtig, dass die Schweiz Menschen in Not Schutz bietet. Allerdings kommen manche Flüchtlinge aus Ländern, wo Judenhass weit verbreitet ist. Darauf sollten die Behörden ein Auge haben. Zudem müssen die Flüchtlinge schnell integriert werden.

Soll die Schweiz restriktiver vorgehen, damit Terroristen nicht ins Land gelangen können?

Wir sind überzeugt, dass sich die Behörden dieser Problematik bewusst sind. Beim allergrössten Teil der Flüchtlinge gibt es ja auch keinen Grund, sich Sorgen zu machen.

Polizei geht Hinweisen nach

fbi. · Verdächtige Aktivitäten im Umfeld der jüdischen Schule an der Schöntalstrasse im Zürcher Kreis 4 hatten am Donnerstag einen grösseren Polizeieinsatz ausgelöst. Mehrere Stunden lang wurde das Gebiet um die Schule abgesperrt. Auslöser waren unter anderem ein Fahrzeug mit belgischem Kennzeichen, das mehrfach an der Liegenschaft vorbeifuhr, und ein Mann, der das Schulgebäude fotografierte. Strafrechtlich relevantes Verhalten liegt laut der Stadtpolizei Zürich bis anhin nicht vor. Man gehe verschiedenen Hinweisen nach. Dazu dürfte auch gehören, dass Bildmaterial mit Fahndungslisten abgeglichen wird.