«Das ist eine neue Dimension»

Tages-Anzeiger: Herbert Winter, Präsident des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebunds, ist bestürzt wegen des antisemitischen Angriffs auf einen orthodoxen Juden in Zürich. Laut Winter nehmen solche Vorfälle zu. Und die Täter würden immer dreister.

Mit Herbert Winter sprach

Am 4. Juli wurde ein orthodoxer Jude in Zürich-Wiedikon von einer Gruppe Neonazis angepöbelt, bespuckt und mit antisemitischen Parolen beschimpft. Wie beurteilen Sie den Vorfall?

Ich bin sehr betroffen. Wir verzeichnen zwar immer wieder antisemitische Vorfälle, vor allem in den sozialen Medien, gelegentlich auch auf der Strasse. Aber dass zwanzig Neonazis am helllichten Tag in Zürich einen orthodoxen Juden anpöbeln, ist eine neue Dimension. Die Täter gingen trotz der Anwesenheit von Passanten ohne jede Hemmung vor. Das beunruhigt mich vor allem: Die Täter verstecken sich weniger als früher, sie treten öffentlich auf und stehen in den sozialen Medien mit vollem Namen zu ihren Beschimpfungen und Drohungen. Aufgrund der Rückmeldungen, die wir erhalten, nimmt die Anzahl der Vorfälle zu; hier wird einem Buben die Kippa vom Kopf gerissen, dort werden Juden aus einem Auto heraus beschimpft. Früher haben wir das kaum gehört.

Worauf führen Sie diese Entwicklung zurück?

Ich stelle eine allgemeine Verrohung in unserer Gesellschaft fest, nicht nur in Bezug auf Antisemitismus. Die Diskussion über Fremde und Flüchtlinge hat eine Dimension erreicht, in der man sich getraut, alles zu sagen. Auch die sozialen Medien tragen dazu bei, dass Menschen ihrer Wut rücksichtslos Ausdruck geben.

Wie geht es dem Opfer?

Wir stehen in Kontakt mit dem Mann. Es geht ihm relativ gut, aber er ist verunsichert. Vor allem hat er Angst, dass seine Identität öffentlich wird. Er hat sich deshalb noch nicht entschieden, ob er Anzeige erstatten will. Dankbar sind wir den Passanten, die mit viel Zivilcourage eingegriffen haben, und der Polizei, die umgehend vor Ort war.

Denken Sie, dass der Vorfall Folgen hat für die jüdische Gemeinschaft in Zürich?

Die Juden werden weiterhin präsent sein im Stadtbild. Viele sind aber besorgt, schauen sich mehr um, wenn sie unterwegs sind. Zudem wagen einige nicht mehr, mit der jüdischen Kopfbedeckung durch die Stadt zu laufen. Es gibt Eltern, die ihre Kinder anweisen, auf dem Schulweg auf die Kippa zu verzichten oder eine Mütze darüber zu ziehen.

Besteht die Gefahr, dass der Vorfall dramatisiert wird?

Nein, das denke ich nicht. Wir raten zu Aufmerksamkeit und dazu, Ruhe zu bewahren – auch wenn uns der Vorfall sehr beunruhigt. Im letzten Jahr wurden wir während des Gazakriegs vor allem von muslimischer Seite massiv angegriffen. Und jetzt kommt die Bedrohung wieder von der rechtsextremen Seite. Beides zusammen erzeugt einen grossen Druck.

Wo geht aus Ihrer Sicht berechtigte Kritik an Israel zu weit?

Ich habe Mühe damit, wenn man uns Schweizer Juden die Kritik an Israel vorhält. Wir sind Schweizer Bürger und nicht verantwortlich für die israelische Politik. Zudem wird die israelische Politik auch innerhalb der jüdischen Gemeinschaft kontrovers beurteilt. Für mich geht die Kritik dann zu weit, wenn man die Existenzberechtigung Israels ablehnt. Aber auch wenn man an die Politik Israels strengere Massstäbe anlegt als an die Politik anderer, vergleichbarer Staaten.

Wie sollten Politik und Zivilgesellschaft auf den Vorfall reagieren?

Ich hoffe auf eine breite Front von Menschen, die klar zum Ausdruck bringen: Was diese Täter und ihre Anhänger tun, ist nicht getragen von unserer Gesellschaft. Die Antwort muss sein: Wir lehnen euer Gedankengut ab, das gehört nicht zur Schweiz mit ihren Werten von Anstand und Respekt. Ich bin froh, hat die Zürcher Stadtpräsidentin Corine Mauch Stellung bezogen. Längerfristig muss in den Schulen Präventionsarbeit geleistet werden. Der Schweizerische Israelitische Gemeindebund organisiert zu diesem Zweck Begegnungen zwischen jüdischen und nicht jüdischen Schulkindern. Die Aktion ist ein Erfolg, bisher haben 10 000 Kinder daran teilgenommen.

Haben Sie konkrete politische Forderungen?

Wir würden es begrüssen, wenn sich die öffentliche Hand stärker an den Sicherheitskosten für jüdische Einrichtungen beteiligt. Heute müssen die jüdischen Gemeinden alle Sicherheitsmassnahmen selber tragen – obwohl es eigentlich Staatsaufgabe ist, die Sicherheit der Bevölkerung und die freie Religionsausübung zu garantieren. Wichtig ist zudem, dass man allen Versuchen entgegentritt, die Antirassismusstrafnorm abzuschaffen. Dank dieser Strafnorm kann der Staat rassistische Texte in Neonazi-Konzerten strafrechtlich verfolgen. Die Band des mutmasslichen Haupttäters will offenbar am 1. August ein solches Konzert veranstalten.

Was sollen die Behörden dagegen unternehmen?

Die Polizei muss den Anlass überwachen und bei einem Verstoss gegen die Antirassismusstrafnorm einschreiten. Man darf solche Konzerte nicht verharmlosen. Es geht eben nicht nur um Musik. Auch die Nationalsozialisten setzten zunächst Wort und Musik ein, um das Terrain zu ebnen. Dann folgte die Gewalt.

Herbert Winter

Vertreter der Schweizer Juden

Seit 2008 ist Herbert Winter Präsident des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebunds (SIG). Die 1904 gegründete Dachorganisation setzt sich für die Interessen der Juden in der Schweiz ein. Ihr sind 17 Mitgliedergemeinden angeschlossen. Winter ist Partner in einer Zürcher Anwaltskanzlei. Er ist verheiratet und Vater von vier Kindern. (daf)

Corine Mauch

«Absolut inakzeptabel»

Der Angriff auf einen orthodoxen Juden durch 20 Rechtsextreme Anfang Juli ist für Stadtpräsidentin Corine Mauch (SP) «absolut inakzeptabel». Dies schreibt sie auf ihrer Facebook-Seite. Politische Aussagen macht sie auf der Social-Media-Plattform sonst nicht. Sie nutzt diese, um über Auftritte oder Begegnungen zu berichten. Zum Übergriff schreibt Mauch: «Wir wollen unsere Weltoffenheit und den Respekt zwischen Menschen unterschiedlichen Glaubens und unterschiedlicher Herkunft mit Überzeugung und aller Kraft bewahren.» Kulturelle und religiöse Traditionen könnten in Zürich sichtbar gelebt werden und würden auch Wertschätzung erfahren: «Das zeichnet unsere Stadt seit Langem aus.» (zet)