Der gespaltene Kanton

Der Bund: Die einen reissen Häuser ab, damit keine Flüchtlinge ins Dorf kommen – die anderen nehmen Asylsuchende im eigenen Haus auf. Kein Kanton ist in Asylfragen so gespalten wie der Aargau.

In Aarburg legten 500 Leute Würste auf den Grill, um gegen die Eröffnung einer Asylunterkunft zu protestieren. In Bettwil zogen Bauern mit Güllenwagen auf die Strasse und verhinderten mit ihrem Aufstand die Eröffnung eines Bundes­asylzentrums. Und in Bremgarten wollte man Flüchtlingen den Aufenthalt in der Badi verbieten. Drei medienwirksame Geschichten aus den letzten drei Jahren, die etwas gemeinsam haben: Sie spielten sich im Kanton Aargau ab. Zurzeit platzen die Asylunterkünfte aus allen Nähten. Gegen jede grössere Unterkunft wird sofort eine Facebook-Gruppe gegründet und der Widerstand geprobt. Und irgendwie fragt man sich: Tickt ­dieser Kanton anders als andere?

Beginnen wir in Aarburg, diesem Städtchen bei Olten, in dessen Burg straffällige Jugendliche wohnen. Warum gab es hier Mahnwachen, Grillgelage und am Schluss sogar eine Auto­blockade, um zu verhindern, dass 90 Asylsuchende in einen Wohnblock ziehen? Trotz Widerstand sind in den letzten Wochen die ersten Flüchtlingsfamilien eingezogen. Es gab danach noch ein letztes Protestgrillieren, an dem auch Pfarrer Peter Hürlimann teilnahm. Wir unterhalten uns am Telefon. Er erzählt, dass er extra Pouletfleisch und Brot mitgenommen habe, falls auch ein Bewohner der Asylunterkunft hätte mitessen wollen. Er habe einen afghanischen Buben vom Balkon in den Garten gehoben und mit dessen Vater geplaudert. Dann grillierte er seine Protestwurst.

Liebe deinen Nächsten?

«Wir haben uns vorher im Quartier ­unterhalten und fanden: Zwei oder drei Familien, das schaffen wir», sagt er. Ein paar Leuten könne man beibringen, wie der Müll getrennt werde. Wie man Grüezi sage und sich in der Schweiz verhalte. Aber 90 Personen? «Das ist einfach zu viel.» Er sei mehrmals gefragt worden, wie er als Pfarrer den Protest gegen eine Asylunterkunft mit christlicher Nächstenliebe vereinen könne. Er hat mittlerweile eine Antwort gefunden: «Liebe deinen Nächsten wie dich selbst – das heisst doch auch, dass man sich ­selber nicht vergessen darf.»

Hürlimann hat sich viele Gedanken über die neuen Nachbarn gemacht. Wie alt sind die Kinder? Brauchen sie eher ­einen Ball oder eher ein Fahrrad? Und: Entfremdet man die Kleinen von ihren Eltern, wenn man ihnen ein Geschenk macht? Solche Dinge gehen durch seinen Kopf. Er befürchtet, das Falsche zu sagen oder unhöflich zu sein. Wie die meisten anderen Gegner der Asylunterkunft sagt er, dass er nichts gegen Fremde habe. Aber er wolle einfach, dass sie sich einfügen könnten.

Der Fall Aarburg sei kein Fall von Fremdenfeindlichkeit, sagen auch Nicht- Griller. Die Gemeinde habe eher ein Problem mit der Stadtplanung. Es gibt zu viel günstigen Wohnraum und zu viele Sozialhilfebezüger im Ort, bereits jetzt bezahlen die Aarburger die höchsten Steuern des Kantons. Wenn die Asyl­suchenden blieben, würden sie irgendwann auch Sozialhilfe beziehen, wodurch der Steuerfuss weiter ansteige. So lautet die Prämisse, die dem Protest zugrunde liegt. Es herrscht ein latentes Gefühl des Niedergangs, und alle Hoffnungen lagen bisher auf dem Südteil der Stadt: Dorthin waren die Schweizer gezogen, die nicht wollten, dass ihre Kinder mit Ausländern zur Schule gingen. Dorthin wollte man auch in Zukunft weitere gute Steuerzahler locken. Und ausgerechnet dorthin ziehen nun 90 Asylsuchende, in einen Block mitten im Wohngebiet. Asylanten seien wie Flugzeuge, sagt man mir. Sie drückten die Immobilienpreise.

Auf der Facebook-Seite der Griller klingt es härter. Bei einem Beitrag über ein Bootsunglück im Mittelmeer beklagt sich jemand über die italienische Küstenwache: «Seitdem sie sie retten, ist es viel schlimmer geworden.» Ein anderer meint: «Verlöhnd aarburg…!!! ALLI ZÄME…!!!» Schweizer würden bald selber zu Flüchtlingen im eigenen Land. Kein Wunder, sprang die rechtsextreme Pnos auf den Zug auf und verteilte Flugblätter, auf denen sie den Aarburgern Unterstützung in ihrem Kampf gegen die «Völkerwanderung» versprach. Da war es dann auch dem Gemeindeammann, der voll hinter dem Protest steht, nicht mehr ganz wohl bei der Sache.

Analysiert man die Abstimmungs­resultate des Aargaus der letzten 20 Jahre, sieht man: Der Kanton tickt in Asylfragen tatsächlich anders. «Der Aargau war gewissermassen die Avantgarde in Sachen Asylprotest», sagt der Politgeograf Michael Hermann. Bereits zu Beginn der 90er-Jahre hätten die Stimmbürger eine harte Linie in Asylfragen gefordert, und der Südaargau gehörte jahrelang zu den nationalen Spitzenreitern in Sachen Migrationsfeindlichkeit. Auch die Ini­tiative, die den Ausländeranteil der Schweiz auf 18 Prozent senken wollte, entstand auf diesem Boden. Was aber sind die Gründe für diese Härte und Verschlossenheit? Hermann erklärt sich die konservative Wende in den 90er-Jahren als Reaktion auf tiefgreifende Veränderungen: Die ursprünglich ländliche ­Region geriet in den Einfluss der Urbanität. «Die Bürger wurden damals aus ­ihrer kleindörflichen Idylle gerissen und reagierten mit starker ­Abwehr auf ­Fremdes.»

Es sind die Sandwichregionen zwischen Stadt und Land, in denen die Spannungen besonders gross sind. Im Gegensatz zu den ganz ländlichen Regionen leben hier tatsächlich vermehrt Ausländer, und weil sich im Gegensatz zu den urbanen Regionen noch keine migrationsfreundliche Kultur etabliert hat, reiben sich die Welten. «In einer zweiten Phase beruhigt sich die Lage wieder», sagt Hermann. Dieser Entspannungsprozess habe im Aargau bereits eingesetzt.

Wiesen statt Asylunterkünfte

Die Bürgerproteste werden mittlerweile von extremen Politikern systematisch geschürt, weil sie hoffen, dass «Bern» dadurch ein Problem bekommt. Einer, der besonders gerne provoziert, ist Andreas Glarner, der Fraktionspräsident der SVP Aargau und gleichzeitig der Gemeindeammann von Oberwil-Lieli. In seinem Dorf lässt Glarner alte Häuser abreissen, damit sie nicht als Flüchtlingsunterkunft genutzt werden können. «Notfalls würde ich ein Haus auch mit eigenem Geld kaufen, wenn ich damit verhindern kann, dass Asyl­suchende einziehen», sagt Glarner, während wir in seinem schwarzen Audi durch das Dorf fahren. Bisher wurden drei alte Häuser abgerissen. Da, wo sie standen, blühen nun Wiesen.

Der Mann, der im Dorf ohne Asylbewerber lebt, möchte mit seinem Widerstand ein Zeichen setzen, dass es jetzt genug sei. Aber wovor hat er eigentlich Angst? In seinem Büro – Glarner betreibt ein Internetversandhaus für Rollstühle, Rollatoren und anderen Pflegebedarf – zeigt er ein Youtube-Video von Pro-Palästina-Protesten in Paris. Es sind wüste Ausschreitungen, junge vermummte Männer kippen in ihrer Wut einen Transporter um. «Sehen Sie dieses Pack, das man sich da herübergeholt hat? Achten Sie auf die Hautfarbe!», kommentiert er das Video. «Herr Glarner, Sie sind fremdenfeindlich.» Er widerspricht. «Doch, Sie sprechen von Pack.» – «Ja, sehen Sie hier etwa ­Original-Franzosen?»

Die Gefahr, sie lauert irgendwo da draussen. Sobald man sich öffnet, ist es vorbei mit der Idylle. Damit lassen sich Ängste schüren. Doch nicht alle lassen sich Angst machen. Neben den lautstarken Bürgerprotesten gibt es im Aargau auch ein grosses Netzwerk von Freiwilligen, die Flüchtlinge manchmal zwanzig Jahre lang als Privatleute begleiten. Einfach so. Sie bezahlen ihnen Sprachkurse, begleiten sie bei Behördengängen und helfen bei der Wohnungssuche. Auch das zeigen die Abstimmungsresultate: Der Kanton ist im Durchschnitt zwar sehr konservativ. Aber er ist in der Asylfrage auch tief gespalten.

Die schweigsame Männer-WG

Einer dieser Freiwilligen ist Bernhard Stamm. Der pensionierte Pathologe ist sozusagen die Antithese zu Andreas Glarner: Nach dem Tod seiner Frau wollte Stamm eigentlich aus seinem Haus in Gränichen ausziehen, weil es ihm zu gross geworden war. Nun jedoch lebt er seit einem Jahr mit dem 30-jährigen Ahmed und dem 24-jährigen Dildar zusammen: zwei afghanischen Flüchtlingen, die der Kanton Aargau vorläufig aufgenommen hat. «Wir hatten Glück, wir haben einen ähnlichen Charakter», sagt Bernhard Stamm. Alle drei seien sie still und rücksichtsvoll, würden Katzen mögen und interessierten sich für Politik.

Es klingt fast zu gut, um wahr zu sein. Aber die Männer-WG erzählt, dass sie an den Abenden zusammensässen und über NZZ-Artikel diskutierten. Stamm hilft den beiden Untermietern bei den Haus­aufgaben. Ahmed macht eine Lehre als Autolackierer, Dildar hat soeben seine Lehre als Reifenpraktiker bestanden. Er sagt, er hätte es nicht geschafft ohne die Hilfe seines Vermieters. Zum Dank flicken die beiden Mitbewohner Stamms Heizung, nähen seine ausgerissenen Knöpfe wieder an und reparieren platte Reifen. «Die beiden haben in solchen Dingen viel mehr Selbstvertrauen als ich», sagt der Schweizer.

Der Pathologe und der Rollstuhlhändler: Wie kommt es eigentlich, dass man sich für die eine oder andere Seite entscheidet? Der amerikanische Psychologe Jonathan Haidt ist überzeugt, dass politische Ansichten im Grunde in den Genen angelegt sind. Die einen Menschen mögen Abwechslung und Veränderung, die anderen brauchen Stabilität und Ordnung. Die einen zieht es deswegen in die brodelnden Städte, die anderen aufs ruhige Land. Ob nun also ­progressiv oder konservativ, alles eine Frage der DNA.

Andreas Glarner erklärt seine Härte gegenüber Ausländern unter anderem mit seinen Erfahrungen als Berufslehrer. Er, Sohn eines SP-Mitglieds und Enkel eines SP-Stadtrats, war früher Ventila­tionsspengler. An der Gewerbeschule habe er gesehen, dass alles vor die Hunde gehe. Werte wie Fleiss, Höflichkeit und Respekt seien vergessen gegangen, und dafür macht er seine politischen Feinde verantwortlich: die Linken mit ihrer Ausländerfreundlichkeit.

Bernhard Stamm hingegen erklärt seine Offenheit damit, dass er protestantisch erzogen worden sei und viel im Ausland gelebt habe. Vor allem aber war er mit einer Kanadierin mit haitianischen Wurzeln verheiratet. Er interessiert sich für die Kultur und die Religion der beiden jungen Männer. Aber das heisst nicht, dass er nicht auch seine eigenen Werte weitergibt. Esswaren zum Beispiel dürfen in seinem Haus nicht weggeworfen werden, hartes Brot wird gegessen. Und Dildar erklärt, dass er in diesen Dingen Herrn Stamm nie widersprechen würde. «In meiner Religion ist der Respekt vor Eltern, Lehrern und ­älteren Leuten sehr wichtig.»

Der Protest geht weiter

In Aarburg ist nach dem Einzug der ersten Asylsuchenden alles ruhig geblieben, aber mit den Medien dürfen die Bewohner nicht sprechen. Ob die Liegenschaft langfristig als Asylunterkunft genutzt werden darf, wird irgendwann ein Gericht entscheiden. Die Griller wollen nach einer Sommerpause weitermachen mit ihrem Protest. Aus Sorge um den Frieden in der Gemeinde haben die Kirchen nun eine Hotline und einen Beratungsnachmittag eingeführt, sie wollen damit den Dialog zwischen der Bevölkerung und den Asylsuchenden fördern. Gross genutzt wurde das Angebot bisher noch nicht. Die Schweizer seien gut darin, Kleider und Geld zu spenden, heisst es. Aber mit Fremden Kontakt aufnehmen, da hätten sie etwas Mühe.