1944 der Deportation entkommen, kämpft sie nun gegen das Vergessen

NZZ am Sonntag

Eva Stocker ist als Baby vor dem Konzentrationslager gerettet worden. In siebenjähriger Arbeit hat sie einen Film mit Holocaust-Überlebenden realisiert. Das Schweizer Fernsehen will ihn nicht zeigen

Andreas Schmid

Andreas Schmid

Ihren Geburtstag kennt Eva Stocker nicht. Dass sie im April 1945 in Ungarn auf die Welt kam, wie amtliche Dokumente festhalten, kann nicht sein. Stocker fand heraus, dass sie als Baby im Sommer 1944 vor dem Transport ins Konzentrationslager gerettet worden war. Ihre Mutter hatte sie bei einem Halt in Košice in der heu­tigen Slowakei aus einem Zugwagen heraus einem Bahnhofvorstand übergeben, damit sie nicht mit ihr nach Auschwitz deportiert wurde. Der Bahn-Mitarbeiter brachte das Kleinkind in ein Waisenhaus. Er und seine Frau seien vermutlich mittellos gewesen und hätten keine andere Wahl gehabt, sagt Stocker. «Auf jeden Fall denke ich noch heute dankbar an meinen Retter.»

Nähere Umstände ihres Überlebens hätten sich nicht mehr rekonstruieren lassen. Fälschlicherweise sei 1945 als ihr Geburtsjahr registriert worden, weil sie in diesem Frühling dem Waisenhaus übergeben worden sei.

Später wurde Stocker adoptiert, doch bei ihren Stiefeltern in Budapest verbrachte sie eine Kindheit mit Demütigungen und Qualen. Die Mutter habe sie als «uneheliche Jüdin» beschimpft. «Ich habe nie Elternliebe erfahren und war früh auf mich allein gestellt.» Stocker spricht denn auch nicht gerne über diese traurigen Erinnerungen.

Unerfüllter Traum

Viel lieber erzählt Stocker davon, wie sie zur Regisseurin und Fil­memacherin wurde. Der Jugend­traum, Schauspielerin zu werden, blieb ihr zwar verwehrt; doch in Budapest bildete sich Stocker berufsbegleitend – sie arbeitete als Lehrerin – in bildnerischem Gestalten aus. Über Assistenzarbeiten beim Fernsehen erhielt sie schliesslich eine Festanstellung und absolvierte an einer Hochschule für Theater und Film ein Studium als Regisseurin.

Seit 27 Jahren lebt Eva Stocker in Biel. In den letzten sieben Jahren arbeitete sie an einem Film über den Holocaust. Mit 22 Überlebenden führte sie unzählige Gespräche, besuchte Gedenkfeiern und Anlässe, so dass 300 Stunden Filmmaterial zusammenkamen. Die dreiteilige, je rund zweistündige Dokumentation beleuchtet tragische jüdische Schicksale aus dem Zweiten Weltkrieg. Den ersten Teil des Films, er trägt den Titel «Der Krieg gegen die Juden», zeigt Stocker derzeit in Kinos, an Festivals und an Schulen in der Schweiz und in Deutschland.

In den vergangenen Wochen starben mit Gábor Hirsch und Eduard Kornfeld zwei Protagonisten der Dokumentation. Die beiden wurden in der Schweiz mit Büchern und Auftritten gegen Rassismus bekannt. Hirsch war es, der 2013 den Impuls für Stockers Film gab. Er schenkte ihr damals sein Buch über den Holocaust. Sie habe es sich auf der Fahrt von Zürich nach Biel angesehen und im Zug laut geweint, berichtet Stocker. Das sei die Initialzündung gewesen, die Schicksale von KZ-Überlebenden zu dokumentieren.

Überlebenden zuhören

«Die Filmproduktion war ein Wettlauf gegen die Zeit», hält Stocker fest; denn ihre ins Alter gekommenen Darstellerinnen und Darsteller hätten nicht mehr lange zu leben. Sie aber wolle ihnen eine Stimme geben und ­dagegen angehen, dass der Ho­locaust in Vergessenheit gerate. Deshalb seien ihr die Vorführungen an Schulen besonders wichtig, um die Jungen mit der dunklen Geschichte vertraut zu machen. Kürzlich war Stocker mit dem Film im deutschen Bundesland Thüringen unterwegs. Sie sagt, Reaktionen tiefer Betroffenheit, gerade in einer Hochburg der rechtsnationalen Partei AfD, hätten sie berührt und bestätigt in ihrer Überzeugung. Die beiden weiteren Teile, die sie mit «Leben nach dem Überleben» betitelt, will die Filmemacherin in nächster Zeit fertigstellen.

In Deutschland erhält die Dokumentation viel Resonanz. Bedeutende Festivals haben Eva Stocker bereits für nächstes Jahr eingeladen und wollen ihren Film zeigen. Gerne hätte sie diesen auch dem Schweizer Fernsehen SRF zur Ausstrahlung überlassen. Ihr Film hätte sich Stockers Ansicht nach gut in den «Schwerpunkt 1945» eingefügt, dessen zweiter Block jetzt im November im Programm steht. Unter anderem mit dokumentarischen Produktionen widmet sich SRF dem Ende des Zweiten Weltkriegs vor 75 Jahren.

Doch das Fernsehen beschied Stocker, ihr Werk passe aus verschiedenen Gründen nicht ins Konzept. Ein Argument war, dass die Filme zu lang seien. Die Autorin sagt, sie hätte die Versionen kürzen können, doch SRF wolle ihre Beiträge offensichtlich nicht. Auf das Angebot, Ausschnitte dar­aus online zu zeigen, trat ­Stocker nicht ein. Diese Form sei ihren Filmen nicht angemessen, begründet sie die Ablehnung.

Viele der Holocaust-Überle­benden in Stockers Dokumen­tation leben in der Schweiz. Die Schilderungen erschüttern, die Bilder gehen tief. So zeigen die alten Menschen etwa ihre noch immer sichtbaren, im Konzentrationslager eintätowierten Gefangenennummern oder beschreiben am Ort der Greuel, wo und wie andere Insassen getötet ­wurden. Nach Jahrzehnten des Schweigens sprechen einige der Überlebenden mit Stocker erstmals über die Zeit im KZ. «Wenn man Fragen stellt, bekommt man Antworten», sagt die Filmema­cherin dazu. Einer der Darsteller habe ihr erklärt, es habe sich nie jemand nach seiner Vergangenheit erkundigt, deshalb habe er die Erlebnisse im Konzentrationslager für sich behalten.

Mit Selbstausbeutung

Eva Stocker kam 1993 nach Biel, um zu heiraten. Ihren zweiten Mann hatte sie 1991 bei Dreharbeiten für eine ungarische Serie zum 700-jährigen Bestehen der Schweiz kennengelernt. Den Le­bensunterhalt verdiente Stocker mit der Pflege von Betagten. So schwierig die Aufgabe gewesen sei, habe sie ihr dafür viel Befriedigung gegeben und wertvolle Bekanntschaften beschert.

Die Schweizer Medien- und Kulturszene, in der sie sich ihrer Leidenschaft hätte hingeben können, sei ihr immer verschlossen geblieben, sagt die 76-Jährige, die seit 2009 den Schweizer Pass ­besitzt. So entstand denn auch «Der Krieg gegen die Juden» ohne finanzielle Unterstützung aus der Branche. An ihrem Schnittplatz zu Hause arbeitete Stocker unzählige Stunden für das Werk. Sie sagt: «Der Film hatte nie ein Budget, er wurde mit Selbstausbeutung hergestellt.»

«Ich habe nie Elternliebe erfahren und war früh auf mich allein gestellt.»

In der Schweiz sei ihr der Zugang zur Kulturszene verschlossen, sagt Eva Stocker. (Biel, 18. 9. 2020)