«Manche sahen uns nicht als richtige Schweizer»

Neue Zürcher Zeitung

Herbert Winter, der abtretende Präsident des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebundes, erklärt im Gespräch mit Simon Hehli und Marc Tribelhorn, wie sich das Bild der Juden gewandelt hat. Der wachsende Antisemitismus im Internet bereitet ihm jedoch Sorge

Herr Winter, die Corona-Pandemie ist auch die Stunde der Verschwörungstheoretiker. Wie stark ausgeprägt ist der Antisemitismus in dieser Bewegung?

In Deutschland oder den USA ist das ein grosses Thema. In der Schweiz zum Glück noch verhältnismässig wenig. Aber auch hierzulande mischen immer wieder Antisemiten aller Couleur bei den Skeptikern und Verschwörungstheoretikern mit. Die Juden schlügen Profit aus der Corona-Krise, von einer «Weltregierung», von den Rothschilds oder George Soros ist häufig die Rede. Wir beobachten das.

Während des Lockdowns wurde auch in der Schweiz viel Netflix geschaut – unter anderem die kontroverse Serie «Unorthodox» über eine junge Frau, die aus dem streng orthodoxen Milieu ausbricht. Haben die Juden dadurch einen Reputationsschaden erlitten?

Wenn viele Zuschauer glauben, so sei das «normale» Judentum, schürt das natürlich Ressentiments. Es fehlt leider an Kontext. Die Serie handelt von einer verschwindend kleinen Minderheit innerhalb des Judentums – der streng orthodoxen Glaubensgemeinschaft der Satmarer. Hierzulande gibt es höchstens einzelne Anhänger dieser Richtung. Ich kenne in der Schweiz nur sehr wenige Fälle von Familien, die mit sogenannten Aussteigern gebrochen haben. Aber ich möchte es nicht kleinreden: Jeder Fall ist schlimm für die Betroffenen.

Ehen mit Nichtjuden werden aber selbst im liberalen Judentum nicht gern gesehen, oder?

Aus Traditions- und Identitätsgründen ist das so. Unser Selbstverständnis als Schicksalsgemeinschaft ist nach wie vor gross. Doch heute sind Ehen ausserhalb der Gemeinschaft besser akzeptiert. Das sieht man auch an den Zahlen: Der Anteil an Mischehen bei neuen Eheschliessungen macht vermutlich 50 Prozent aus.

Sehen Sie das als bedrohliche Entwicklung?

Sie führt zu einem Schwund der schon kleinen Community. Das kann langfristig ein Problem sein für das jüdische Leben in der Schweiz. Verschwinden wird es aber nicht, weil die Verbundenheit innerhalb der Gemeinschaft gross ist.

Dass die streng Orthodoxen in der Schweiz eine Parallelgesellschaft bilden, wird selbst von deren Exponenten nicht bestritten. Wie steht es um die Akzeptanz für religiöse «Sonderzüglein» in einer immer stärker säkularisierten Gesellschaft?

Mit diesen Schwierigkeiten haben alle Religionen zu kämpfen, aber ganz besonders die Minderheitsreligionen, für deren spezielle Riten und Gebräuche die Mehrheitsgesellschaft immer weniger Verständnis hat. Als liberale Gesellschaft sollten wir aber mit dieser Vielfalt auskommen können. Es widmen sich auch längst nicht alle streng Orthodoxen nur dem Thora-Studium. Die allermeisten gehen normal zur Arbeit. Und sie sprechen Schweizerdeutsch und halten sich an das Schweizer Gesetz.

Der Antisemitismus scheint sich in der Schweiz auf relativ tiefem Niveau stabilisiert zu haben, anders als in Frankreich oder Deutschland. Kein Grund zur Sorge also?

Doch, den gibt es. Tatsächlich verzeichnen wir weniger Fälle von physischer Gewalt als in den erwähnten Ländern. Aber unsere Sorge ist, dass auch bei uns jederzeit etwas passieren könnte, wie am letzten Wochenende in Hamburg, wo ein Mann einen jüdischen Studenten mit einem Spaten schwer verletzt hat. Viele Menschen in der jüdischen Community haben das Gefühl, dass der Antisemitismus in den letzten Jahren auch in der Schweiz schlimmer geworden ist – dieser Eindruck ist stark geprägt durch die Berichterstattung über Vorfälle im Ausland. Klar ist allerdings auch, dass der Antisemitismus im Internet massiv zugenommen hat und sich in der Schweiz auf einem ähnlichen Niveau wie im Ausland befindet.

Von welchen Gruppierungen geht generell die grösste Bedrohung aus?

Der islamistische Terror stand zwar in den letzten Jahren im Fokus. Doch derzeit sehen wir uns vor allem durch Rechtsextreme gefährdet. Anschläge wie im deutschen Halle sind uns eine Warnung. Unsere Lageanalyse deckt sich mit jener des Nachrichtendienstes des Bundes.

Dann gibt es noch den linken Antisemitismus. Dieser zeigt sich eher in den Debatten um die Organisation BDS, die zum Boykott gegen israelische Produkte aufruft.

Wenn die Politik des Staats Israel kritisiert wird, muss das möglich sein. Aber wir schreiten natürlich ein, wenn die Kritik antisemitische Züge trägt, etwa wenn das Existenzrecht Israels verneint wird oder Palästina-Aktivisten von einem «Nazistaat» sprechen. In Deutschland ist BDS ja bereits verboten worden. In der Schweiz ist BDS hingegen eine Randerscheinung. Aber auch in der jüdischen Community der Schweiz fordern viele ein Verbot. Das ist verständlich: Der Aufruf, nicht beim jüdischen Staat zu kaufen, weckt schlimmste Erinnerungen.

Vor zwei Jahren sagten Sie uns in einem Gespräch, Sie kennten keinen Juden, der aus Sicherheitsgründen der Schweiz den Rücken gekehrt habe. Hat sich daran etwas geändert?

Zum Glück nicht. Zu befürchten ist hierzulande aber ein Unwohlsein wegen politischer Diskussionen.

Was meinen Sie damit?

Es gibt Leute, die langsam genug haben von Debatten über Koscherfleisch oder Beschneidungen – und die sagen: Ich gehe lieber nach Israel, dort kann ich als Jude unbeschwert leben.

Solche Debatten gibt es doch derzeit kaum.

Im Moment vielleicht. Aber 2012 war es sehr heftig, als ein Gericht in Köln entschied, dass die rituelle Beschneidung von Knaben Körperverletzung sei. Wir Juden standen auch in der Schweiz am Pranger. Das Thema kann jederzeit wieder aufpoppen. So wie in Dänemark, wo das Parlament in den nächsten Monaten über ein Beschneidungsverbot entscheiden wird.

Was wären die Konsequenzen, wenn die Schweiz ebenfalls ein solches Verbot einführen würde?

Viele Jüdinnen und Juden würden sich nicht mehr zu Hause fühlen und gar auswandern. Die Beschneidung ist noch identitätsstiftender als der Verzehr von geschächtetem Fleisch. Selbst säkulare Juden lassen ihre Knaben beschneiden, mit sehr wenigen Ausnahmen.

Kritiker sagen, eine Beschneidung könne das Lustempfinden schmälern. Gäbe es keinen anderen Weg?

Ich glaube nicht. Es mag Diskussionen geben, ob man andere Formen der Beschneidung machen oder das Alter der Knaben von heute acht Tagen heraufsetzen könnte. Aber das entspricht nicht der jüdischen Religionsauffassung und ist auch medizinisch fragwürdig. Deshalb steht das unter Juden nicht zur Diskussion.

Für wie realistisch halten Sie es, dass die Schweiz den Import von Schächtfleisch verbietet?

Es gibt leider viele Stimmen, die das gerne sähen, und es wurden auch bereits konkrete Vorstösse im Parlament eingereicht.

Es geht dabei – zumindest vordergründig – aber nicht um Antisemitismus, sondern um Tierschutz: Die Schweiz solle ein Einfuhrverbot festlegen für tierische Erzeugnisse, deren Herstellung in der Schweiz unter Strafandrohung verboten sei, fordert der SVP-Nationalrat Lukas Reimann.

Im Resultat käme es auf dasselbe hinaus. Es wäre ein massiver Eingriff in unseren Lebensstil. Das Gefühl, dass sich Juden in der Schweiz wohl und akzeptiert fühlen, würde Schaden nehmen.

Dennoch: Haben Sie kein Verständnis für das tierschützerische Argument?

Doch, ich habe Verständnis dafür. Aber solange in der Schweiz die Jagd erlaubt ist, müssen wir nicht über ein Importverbot für Schächtfleisch sprechen. Bei der Jagd wird ja auch gerne die Tradition hochgehalten. Dass das Wild leidet, wenn der erste Schuss nicht sofort tötet, das ist kein Thema.

Im Magazin «Tachles» sagten Sie, wegen der politischen Korrektheit gelte vielerorts der Grundsatz, dass man über Juden nichts Böses sagen dürfe, um nicht als Antisemit zu gelten. Was ist daran auszusetzen?

Politische Korrektheit hat für mich vor allem mit Anstand zu tun und ist grundsätzlich eine gute Sache. Aber der Antisemitismus ist nicht weg, sondern schwelt einfach unter der Oberfläche weiter und tritt dann bei äusseren Ereignissen oder im Internet wieder hervor. «Typisch jüdisch» ist sicher keine annehmbare Kritik. Hingegen, wenn ein Jude wegen seiner Handlungen und nicht wegen seiner Gemeinschaftszugehörigkeit kritisiert wird, ist das ja vollkommen in Ordnung.

Der zurückgetretene Präsident der evangelischen Kirche, Gottfried Locher, sagte kürzlich in der «Weltwoche», die Juden würden der Wirtschaft eine grosse Bedeutung für das Gemeinwesen zumessen – und verweist auf den Konzern Glencore, an dessen Spitze «etliche jüdische Persönlichkeiten» ständen. Was halten Sie von der These?

Gar nichts. Gottfried Lochers Impetus mag vielleicht positiv gewesen sein, ich habe mit ihm immer gut zusammengearbeitet. Aber mit dieser Äusserung transportiert er ein antisemitisches Klischee. Die Juden, das emsige Händlervolk, das sich nicht gegen die Konzernverantwortungsinitiative ausspricht. Das ist übel.

2020 jährten sich die Befreiung von Auschwitz und das Ende des Zweiten Weltkriegs zum 75. Mal. Zu diesem Anlass empfing Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga zahlreiche Holocaust-Überlebende. Was hat diese Geste den Schweizer Juden bedeutet?

Sehr viel. Es war kein politischer Akt, sondern ein menschlicher. In den 1990er Jahren wäre so etwas noch nicht denkbar gewesen. Jean-Pascal Delamuraz sagte damals als Bundespräsident: «Auschwitz liegt nicht in der Schweiz.» In der Zwischenzeit ist die Einsicht gewachsen, dass auch die Schweiz Teil der europäischen Geschichte ist und eben auch in die Machenschaften des «Dritten Reichs» verwickelt war.

In den letzten Wochen sind in der Schweiz mehrere bekannte Holocaust-Überlebende gestorben. Was bedeutet es, dass es in absehbarer Zeit keine solchen lebenden Mahnmale mehr geben wird?

Es ist sehr eindrücklich, wenn solche Persönlichkeiten über ihr Leben und Leiden berichten, zum Beispiel in Schulen. Es ist nicht dasselbe, die Erzählungen auf Video anzuschauen. Man muss die Erinnerung auf jeden Fall wachhalten. Es ist erschreckend, dass weltweit immer weniger Menschen wissen, was der Holocaust war und wie es so weit kommen konnte.

Was hat sich seit Ihrem Amtsantritt an der Situation der Juden verbessert?

Die Wahrnehmung der Juden. Die Öffentlichkeit interessiert sich mehr für unsere Anliegen – auch für unseren Beitrag zum Alltag, zur Wissenschaft, zur Kultur oder zur Wirtschaft. Bei meinem Amtsantritt wurde noch viel negativer über die Juden gesprochen. Und manche sahen uns nicht als «richtige» Schweizer.

«Es gibt Leute, die langsam genug haben von Debatten über Koscherfleisch oder Beschneidungen – und die sagen: Ich gehe lieber nach Israel, dort kann ich als Jude unbeschwert leben.»

«Unser Selbstverständnis als Schicksalsgemeinschaft ist nach wie vor gross», sagt Herbert Winter.

CHRISTOPH Ruckstuhl / NZZ

Nach zwölf Jahren ist Schluss

tri. · Herbert Winter tritt nach zwölf Jahren als Präsident des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebundes zurück. Zu seinen Prioritäten zählten der interreligiöse Dialog und die Sicherheit der jüdischen Gemeinden. Zudem war es dem Anwalt ein Anliegen, das jüdische Leben in der Schweiz sichtbarer zu machen. Am 18. Oktober kommt es zur Kampfwahl um seine Nachfolge: Der Ökonom und frühere Basler SP-Regierungsrat Ralph Lewin tritt gegen Ralph Friedländer an, den Präsidenten der jüdischen Gemeinde in Bern.