Wenige Opfer erstatten Anzeige

TagesAnzeiger

Rechtsextreme Gewalttäter müssen ihre Taten selten vor Gericht verantworten. Viele Opfer erwarten nichts von Strafanzeigen – und misstrauen der Polizei.Von Peter Johannes Meier

Brutal und rücksichtslos schlugen die sieben jungen Männer auf den 15-jährigen Schüler ein. Sein Leben lang wird er invalid bleiben. Gestern hat ein Frauenfelder Gericht die rechtsradikalen Täter mit mehreren Jahren Zuchthaus bestraft (vgl. Bericht Seite 2).

Das Urteil könnte den Eindruck erwecken, skrupellose Schläger müssten sich vor einem Richter für ihre Taten verantworten. Doch der Frauenfelder Fall ist eine Ausnahme. Weil das Opfer dermassen schwer verletzt wurde, war der Staat von sich aus verpflichtet, nach den Tätern zu suchen.

Opfer sollten die Polizei informieren

Doch die meisten Opfer, die Übergriffe mit leichten Verletzungen erlebt haben, stehen vor einer anderen Ausgangslage: Sie müssen eine Verfolgung der Täter mit einer Anzeige selber in Gang setzen. Und selbst wenn die Kriterien für ein Offizialdelikt erfüllt sein sollten, muss die Polizei ja erst von dem Vorfall erfahren.

Erste Ergebnisse einer Teilstudie des Nationalfondsprogramms «Rechtsextremismus» (www.nfp40plus.ch) zeigen aber, dass nur wenige der Opfer bereit sind, Anzeige zu erstatten. «Mangelndes Vertrauen in die Strafverfolger und geringe Hoffnung, dass eine Anzeige überhaupt etwas bewirke, geben sie als Gründe an», sagt dazu der Soziologe Martin Schmid vom Büro Ecce für Sozialforschung, das 26 jugendliche Opfer rechtsextremistischer Gewalt interviewt hat. Nur ein Bruchteil der Befragten erstattete Anzeige. «Und selbst diese zeigten sich eher unzufrieden mit dem Verlauf der Verfahren», so Schmid. Zu lange würden diese dauern, und zum Teil sei den Opfern sogar von der Polizei abgeraten worden, überhaupt Anzeige zu erstatten – wegen der geringen Erfolgsaussichten, die Täter zu überführen.

Die genauen Gründe, die jeweils zu einem Verzicht auf Anzeige geführt haben, unterscheiden sich auch je nach Art der Opfer. Eine differenzierte Betrachtung von Opfertypen ist denn auch ein zentraler Ansatz des Forschungsprojektes, das primär die Frage beantworten will, ob bestimmte jugendliche Subkulturen auch eine besondere Zielscheibe für Rechtsextreme darstellen. In einer zweiten Phase werden zurzeit rund 3200 Schüler aus der Nordwestschweiz schriftlich befragt, um weitere Hinweise über das Ausmass an Gewalttaten und die Bedeutung von Gruppenzugehörigkeiten zu erhalten.

Eine gemäss ersten Erkenntnissen bedeutende Gruppe wird von den Soziologen als stellvertretende Opfer bezeichnet. «Es sind Jugendliche, die nicht aus Hass auf ihre Person zum Opfer werden, sondern weil sie einer anderen Subkultur angehören», so Schmid. Äusserliche Merkmale, wie Kleidung und Verhalten – zum Beispiel eine Rastafrisur oder Punker-Kleidung – definieren die Zugehörigkeit zu einer solchen Gruppe.

«Also ich war eh so eine linke Ratte aus diesem Scheissquartier. Zweitens, ich hatte eines gerollt. Drittens, ich hatte Dreadlocks. Viertens, ich war farbig gekleidet», nennt eine junge Frau Gründe, warum gerade sie Opfer eines Übergriffs wurde. Solche Jugendliche, die sich als Teil einer Gegenkultur verstehen, werden von Rechtsradikalen gemeinhin als «Zecken» bezeichnet und als menschlich und gesellschaftlich unwert verachtet.

Zu stellvertretenden Opfern können gemäss Studie auch junge Ausländer mit auffallend dunkler Hautfarbe, Obdachlose, Bettler oder Drogenabhängige werden. Ihnen ist gemeinsam, dass sie meist auf dem Weg in den Ausgang oder nachts auf dem Heimweg angegriffen werden. Die Überfälle geschehen ohne Vorwarnung, rasch und in der Regel ohne Kommunikation mit den Opfern. Die Täter sind ihnen meist zahlenmässig und körperlich überlegen.

«Betroffene sind oft stark traumatisiert. Manche ziehen sich aus dem gesellschaftlichen Leben zurück und sind auf professionelle Hilfe angewiesen», sagt Schmid. Solche Opfer würden auf Anzeigen verzichten, weil sie sich nichts davon versprechen. Mitunter spielten auch eigene negative Erfahrungen mit der Polizei eine Rolle.

Zur Tat bereite Opfer

Eine weitere Opfergruppe stellen selbst gewaltbereite Jugendliche dar. Sie sind bereit, Auseinandersetzungen mit Rechtsextremen zu führen und diese mitunter aktiv zu suchen. Die Grenzen zwischen Opfer und Täter verwischen sich, Auslöser für eine Auseinandersetzung ist meist eine Provokation durch eine der rivalisierenden Gruppen. «Dann sind wir auf die Faschos losgegangen. Wir sind hinübergerannt. Der grösste Teil rannte dann davon, weil einer von uns eine Kette dabeihatte, einer einen Schlagstock», schildert ein Befragter den Beginn der Auseinandersetzung. Einen auch gewalttätigen Kampf gegen Rechtsextreme verstehen diese Jugendlichen als wichtige gesellschaftliche Aufgabe. Dass sie auch Opfer werden können, nehmen sie mehr oder weniger in Kauf. Eine eigene Gruppenidentität und gemeinsame Werte sind für sie zentral und verpflichten die Mitglieder zur gegenseitigen Solidarität. «Solche Jugendliche lehnen Anzeigen ab, weil sie der Polizei grundsätzlich misstrauen. Mitunter unterstellen sie ihr gar eine Komplizenschaft mit Rechtsextremen. Sie erachten es als wichtig, den Kampf gegen die „Faschos selber in die Hand zu nehmen.»

Die Forscher arbeiten auch mit einer Kategorie zufälliger Opfer, die selber keine Erklärung dafür finden, warum gerade sie angegriffen wurden. In solchen Fällen dürfte das Bedürfnis der Täter nach einem Gewalterlebnis wohl so stark sein, dass jede Person zum Opfer werden kann.

Weiter gibt es ausgesuchte und schlichtende Opfer. Über Erstere wissen die Täter genauer Bescheid. Zum Beispiel über deren politisches Engagement oder ihren religiösen oder ethnischen Hintergrund. «Ich brauche keine Begründung, du bist Jude», sagte ein Täter einem Opfer, das nach dem Grund für die Attacke fragte.

Schlichtende Opfer gibt es öfter als von den Forschern ursprünglich angenommen. Am ehesten mischten sich Freunde eines Opfers ein. «Unsere bisherigen Auswertungen zeigen allerdings, dass solches Eingreifen die Opferzahl eher vergrössert als verringert. Die Situation eskaliert», gibt Schmid zu bedenken. Und Erwachsenen gelinge eine schlichtende Intervention eher als Jugendlichen.

Für die Forscher sind diese Ergebnisse ein klarer Hinweis auf eine grosse Dunkelziffer von rechtsextremen Übergriffen. «Die Opfer sollten zu Anzeigen ermuntert und dabei unterstützt werden – auch in Fällen mit geringen Chancen, die Täter ausfindig zu machen», empfiehlt Schmid. Gewalttaten müssten in jedem Fall aktenkundig werden. «Es sind wichtige Informationen, damit die Gesellschaft angemessen auf das Problem reagieren kann.»