«Warum sind Nazi-Vergleiche beim Thema Corona komplett daneben?»

20 Minuten. Ungeimpfte vergleichen die Corona-Massnahmen reihenweise mit dem Dritten Reich. Das ist für Juden extrem verletzend. Ein Gespräch.

Darum gehts

  • In den sozialen Medien und auch in den Kommentarspalten von 20 Minuten vergleichen Impfgegnerinnen und Impfgegner seit letzter Woche gehäuft COVID-Impfzertifikate oder Impfbändeli mit Nazi-Massnahmen wie dem Judenstern. Das ist nicht verboten, aber für die Nachkommen von Holocaust-Opfern unerträglich falsch. Jonathan Kreutner, Generalsekretär des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebundes, und Gaudenz Looser, Chefredaktor von 20 Minuten, diskutieren, wie man damit umgehen sollte.

Gaudenz Looser: Herr Kreutner, was löst es bei Jüdinnen und Juden in der Schweiz aus, wenn Leute, die sich nicht impfen lassen wollen, sagen, sie fühlten sich wegen des öffentlichen Drucks wie im Dritten Reich?

Jonathan Kreutner: Ich möchte mich zuerst direkt an diese Leute wenden: Ich verstehe es, wenn Ihr euren Frust rauslassen wollt. Aber lasst einfach den Holocaust aus dem Spiel. Es ist für Menschen, die den Holocaust erlebt oder Angehörige verloren haben, unverständlich, wie man in einer politischen Diskussion den Holocaust missbrauchen kann, um Aufmerksamkeit zu erreichen oder um seine politischen Ziele stärker in den Fokus zu rücken.

Gaudenz Looser: Ich will die Vergleiche selbstverständlich nicht verteidigen – sie sind grotesk und komplett daneben. Aber denken Sie, es geht diesen Leuten wirklich um politische Ziele? Ich habe eher den Eindruck, viele Leute empfinden ein starkes Unwohlsein über die Sachzwänge, denen sie zurzeit ausgesetzt sind und wollen mit Verweisen auf den Judenstern der Nazis oder Ähnlichem primär dieses Unwohlsein ausdrücken. Ich habe den Eindruck, vielen Kommentierenden ist in ihrer offensichtlichen Emotionalität gar nicht bewusst, dass diese Bilder völlig überzogen sind.

Jonathan Kreutner: Ich glaube, man muss differenzieren. Es gibt Leute, die ganz gezielt und bewusst den Holocaust banalisieren und herabsetzen, um ein politisches Anliegen bemerkbar zu machen. Und dann gibt es andere, die das vielleicht nicht bewusst tun, aber doch im Hinterkopf haben, ‘der Holocaust ist das Maximum alles Schrecklichen, also kann ich damit meinen Frust oder mein Befremden über die aktuellen Massnahmen ausdrücken.’ Dass dieses Befremden existiert, kann ich nachvollziehen, auch wenn ich es nicht teile, aber das Bild bleibt halt trotzdem falsch und verletzend. Und das Problematische ist nicht ein einzelner Kommentar, sondern die Menge solcher Vergleiche und die Verbreitung – sei es in einem Chat oder auch in den Kommentaren bei 20 Minuten. Dadurch bekommt diese Verharmlosung ein Gewicht, das nicht korrekt ist.

«Ich verstehe es, wenn Ihr euren Frust rauslassen wollt. Aber lasst einfach den Holocaust aus dem Spiel.»

Jonathan Kreutner

Gaudenz: Looser: Also durch diese ständige Wiederholung bekommt die Behauptung, die Einschränkungen für Ungeimpfte seien gleich schlimm wie der Holocaust, so etwas wie eine falsche «Wahrheit»?

Jonathan Kreutner: Ja. Meine Urgrosseltern sind im Holocaust umgekommen. Wenn ich so etwas lese, dann stört und verletzt mich das massiv. Jeder hat das Recht, seinen Frust loszuwerden, aber nicht so! Hört auf damit, euch dieses Schreckensereignisses zu bedienen!

Gaudenz Looser: Diese Vergleiche kommen ja vor allem im Zusammenhang mit den Impfzertifikaten oder zum Beispiel mit den «Gimpft»-Bändeli. In Frankreich schneiden die «Gelbwesten» sogar Judensterne aus ihren Westen. Könnten Sie nochmal anschaulich erklären, warum das komplett daneben ist?

Jonathan Kreutner: Nehmen wir das Impfzertifikat. Wenn ich ein solches mit einer Impfung erwerbe, kann ich damit vielleicht in ein Restaurant oder ich kann mir Zugang zu einer Dienstleistung verschaffen – wie mit einem Ticket. Vergleichen wir das einmal mit der Nummer, die Menschen in Konzentrationslagern eintätowiert erhalten haben: Mit dieser Nummer konnte man sich nicht eine Leistung erwerben, sondern sie wurde als Stigmatisierung vergeben, mit dem Ziel, Menschen umzubringen und zu verbrennen. Jetzt muss man sich die Absurdität dieses Vergleichs einmal vergegenwärtigen. Ich kann damit leben, wenn jemand sagen will, er fühle sich durch das Zertifikat diskriminiert. Das gehört zum Diskurs in einer Demokratie. Aber warum muss man das mit der Stigmatisierung zur Ermordung vergleichen? Das setzt den Holocaust herab. Das mag teils unbewusst passieren, aber eine gewisse Sensibilität für diesen riesigen Unterschied sollte doch möglich sein. Aber wenn ich jetzt auch eine Frage stellen darf: Wie gehen denn Sie bei 20 Minuten damit um, wenn sich solche Kommentare häufen? Sie wollen ja nicht, dass 20 Minuten ein Resonanzboden für eine solche Banalisierung wird?

Gaudenz Looser: Kommentar-Management ist extrem anspruchsvoll. Wir haben das Thema Holocaustvergleiche letzte Woche in unserem Social Responsibility Board diskutiert und entschieden, dass wir explizite Begriffe wie «Arbeit macht frei», «Ariernachweis», «Judenstern» oder Verweise auf Adolf Hitler möglichst konsequent löschen. Gleichzeitig sind aber die meisten Verweise auf den Holocaust wahrscheinlich weder strafrechtlich noch direkt antisemitisch oder so gemeint, weil diese Vergleiche aus einem persönlichen Betroffenheitsgefühl, aus einer privaten Anmassung heraus entstehen.

Die Ungeimpften haben das Gefühl, das System tue ihnen Gewalt an. Die Ausgrenzung von Menschen, die lediglich frei über ihren Körper entscheiden wollen, wird von diesen als totalitär empfunden.

Gaudenz Looser

Unsere Zwickmühle ist, dass wir es einerseits wichtig finden, dass in unseren Kommentarforen, die längst eine Art Seismographen-Rolle für die Befindlichkeit der Bevölkerung haben, Strömungen in Echtzeit abgebildet werden. Wenn wir jetzt anfangen, Wortmeldungen, die nicht verboten sind, systematisch zu löschen, dann geraten wir sehr schnell in Zensurverdacht. Interessant ist ja, dass die Zahl der Holocaust-Vergleiche in den Kommentaren in dem Moment explodiert ist, in dem Bundesrat Berset die Verschiebung der Normalisierungsphase verkündet hat. Das heisst, die Impfgegner haben sofort begriffen, dass sie damit in den Fokus der ganzen Gesellschaft geraten sind und sie und ihre eigentlich ur-private Entscheidung gegen eine Impfung dafür verantwortlich gemacht werden, dass die Schweiz weiterhin im Ausnahmezustand ist. Gegen diesen Druck wehren sie sich nun trotzig und reihenweise mit den stärksten Bildern, die ihnen zur Verfügung stehen. Hätten wir jetzt von Anfang an alle entsprechenden Kommentare gelöscht, wäre dieses Gefühl, das von einem beträchtlichen Teil der Bevölkerung empfunden wird, nirgends abgebildet worden. Und das hielte ich für falsch. Die Ungeimpften haben das Gefühl, das System tue ihnen Gewalt an. Die Ausgrenzung von Menschen, die lediglich frei über ihren Körper entscheiden wollen, wird von diesen als totalitär empfunden. Wie drücken sie das sinnvollerweise aus, ohne sich in Bilder wie Apartheid oder Holocaust zu versteigen und damit ganze Bevölkerungsgruppen zu verletzen?

Jonathan Kreutner: Ich kann verstehen, wenn man emotional irritiert ist. In einer politischen Debatte werden Gefühlen freien Lauf gelassen. Auch das kann ich verstehen. Der Holocaust darf aber nicht das Ventil sein. Vielleicht fühlt man sich durch diese Vergleiche dann besser verstanden, aber das Gegenteil ist der Fall. Es stimmt inhaltlich nicht. Vor allem wird ein noch nie dagewesenes Verbrechen benutzt. Damit werden dessen Opfer ein weiteres Mal verletzt.

Ich respektiere andere Meinungen und die Gefühle der Anderen, erwarte auf der anderen Seite aber genauso Respekt. Im Übrigen finde ich persönlich historische Vergleiche sowieso immer unpassend. Meist sind sie aus der Zeit gegriffen, stehen in einem anderen Kontext und lassen sich nicht eins-zu-eins auf heute übertragen. Solche Vergleiche gehen oft schief, darum appelliere ich daran, auch mehr Fingerspitzengefühl zu zeigen. Ich gebe zu, das ist nicht immer einfach, auch für Sie als Medium ist es wohl ein grosses Dilemma. Aber ich wünschte mir manchmal etwas mehr Einordnung. Wenn sich solche Vergleiche häufen, sollte man das ansprechen und erklären. Und ich appelliere nochmal an die Kommentierenden, hier eine gewisse Sensibilität walten zu lassen.

Gaudenz Looser: Ich teile Ihre Ansicht: Es braucht ab und zu eine Einordnung – die machen wir in diesem Moment mit diesem Gespräch – und es ist falsch, den Ausschluss von Veranstaltungen mit der Massenvernichtung durch die Nazis zu vergleichen. Weil der Vergleich logisch nicht stimmt und vor allem, weil er verletzend ist. Wir werden entsprechende Vergleiche ab jetzt so konsequent wie möglich löschen.

Jonathan Kreutner: Wie reagieren die Kommentierenden, wenn ihre Kommentare nicht veröffentlicht werden? Gibt es da Unmut?

Gaudenz Looser: Ja, es gibt sehr viel Unmut. Viele Menschen verstehen nicht, dass die Meinungsäusserungsfreiheit kein absolutes Recht ist, aus dem Ansprüche gegenüber Dritten abgeleitet werden können. Es gibt weder ein uneingeschränktes Recht darauf, alles sagen zu können, noch gibt es irgendeinen Anspruch darauf, dass Kommentare veröffentlicht werden. Natürlich möchten wir so viele Kommentare wie möglich zulassen, aber wir sind auch in vielen anderen Themenbereichen gezwungen, Kommentare wegen Verstössen gegen unsere Netiquette zu löschen oder gar nicht erst freizuschalten.

«Ich bin der festen Überzeugung, dass sich in einem solchen Forum alle Mitglieder unserer Gesellschaft äussern können sollen.»

Gaudenz Looser

Jonathan Kreutner: Wenn ich jetzt mal ketzerisch fragen darf: Sind Sie zufrieden mit Ihrem Kommentar-Management? Oder beschleicht Sie nicht manchmal ein schlechtes Gewissen, wenn sich wie im aktuellen Fall ein falsches Bild massenhaft verbreitet?

Gaudenz Looser: Wir machen das Kommentar-Management heute viel besser und aufwändiger als früher, wir haben ein geschultes Freischalterteam, das von einem eigenen Ressort eng betreut wird. Dieses Ressort spielt regelmässig heikle Themen und Fragen an unser Social Responsibility Board weiter, welches dann zusammen mit der Chefredaktion Lösungen und Strategien zum Umgang damit diskutiert. Das ist ein höchst lebendiger, dynamischer Prozess in einem ständigen und teils auch akuten Spannungsfeld. Dazu gehört auch, dass wir von aussen kritisiert werden – und wir lassen uns auch kritisieren und hören zu. Ich wünschte mir selbstverständlich, dass in unseren Kommentarspalten nur hochstehende, respektvolle Debatten stattfinden würden. Gleichzeitig bin ich aber auch der festen Überzeugung, dass sich in einem solchen Forum alle Mitglieder unserer Gesellschaft äussern können sollen. Also auch Menschen, die sich wenig differenziert ausdrücken können, Menschen, die nur Gefühle statt Argumente äussern möchten, oder Menschen, die mit ihren Argumenten beweisbar falsch liegen. Nur so kann ein echter Dialog stattfinden, in dem Ansichten infrage gestellt werden können und nur so sind wir als die demokratische Gemeinschaft, die wir nun mal sind, auch erlebbar. Darum sind unsere Kommentarspalten ja auch so populär bei der Leserschaft: Sie sind keine homogenen Bubbles, wo alle das gleiche denken und sich gegenseitig für ihre Meinungen auf die Schulter klopfen.

Jonathan Kreutner: Ich teile Ihren Ansatz. Medien sollten so viel wie möglich diverse Meinungen
abbilden. Trotzdem gibt es rote Linien. Ich finde hier gebührt Ihnen und der ganzen Medienlandschaft auch ein Lob für den Umgang mit Kommentarspalten. Man merkt, wie ernsthaft und gewissenhaft man sich in der Branche in den letzten Jahren dem Thema angenommen hat. Dass es nicht immer einfach ist, die passende Balance zu finden, ist mir bewusst, deswegen sprechen wir heute auch zusammen.