«Wahnwitzige, hochkriminelle Tat»

Der Bund

«SOLTERPOLTER» / Sechs Jahre Zuchthaus fordert der Staatsanwalt für die «Solterpolter»-Schützen wegen versuchter vorsätzlicher Tötung, 18 Monate bedingt für den «Fahrer»wegen Gehilfenschaft zurGefährdung des Lebens. Die Verteidigung weicht nur im Strafmass ab.

* HEIDI GMÜR

«Der so genannte Fall ,Solterpolter‘ ist alles andere als ein jugendliches Husarenstück», sagte Staatsanwalt Hansjörg Jester, alles andere als ein Lausbubenstreich in einer alkoholgeschwängerten Situation. Nein, «es ist vielmehr eine wahnwitzige, hochkriminelle Tat, begangen in Anwandlung eines sinnlosen Hasses gegen Linke». Und nur Zufall sei es, «dass es kein Blutbad gab», als die zwei älteren Angeschuldigten in den frühen Morgenstunden des 10. Juli 2000 die linksalternative Wohngemeinschaft «Solterpolter» im Marzili massivst unter Beschuss nahmen – nachdem sie «Sieg Heil» in die Nacht geschrien hatten.

Sie nahmen Tötung «in Kauf»

Mindestens 40 bis 50 der rund 110 Schüsse hätten laut Kriminaltechnischem Dienst Tor und Tür durchschlagen, hielt Jester gestern in seinem Plädoyer vor dem Kreisgericht Bern fest. Im Innern des Gebäudes «flogen die Projektile und Querschläger mit grosser Energie unkontrolliert herum, die Bewohner waren in akuter Lebensgefahr». Er werfe den Schützen keinen direkten Tötungsvorsatz vor, sagte Jester, weder dem 23-jährigen Ittiger Velomechaniker noch dem 21-jährigen Koch. Aber «klarerweise» liege Eventualvorsatz vor. Demzufolge hätten sie damit rechnen müssen, dass jemand tödlich getroffen werden könnte, und hätten dies also in Kauf genommen. Diesen Vorwurf hatten die beiden Schützen bei der Einvernahme vor Gericht noch zurückgewiesen. Staatsanwalt Jester sah es anders. So habe der 23-jährige Ittiger bei der Schussabgabe gewusst, «dass sich Leute im Innern des Gebäudes aufhalten». Zudem sei er sich der enormen Durchschlagkraft der verwendeten Sturmgewehre G90 bewusst gewesen; eines war sein eigenes.

«So betrunken war er nicht»

Gleiches gelte für den 21-jährigen Koch. Er hatte damals die Unteroffiziersschule besucht, und laut Jester mehrfach ausgesagt, dass er an jenem Abend ein Licht habe brennen sehen. Zuhause sei ihm dann auch «der Gedanke gekommen, dass wir jemanden hätten töten können – ich begreife nicht, wie wir so etwas hatten tun können». Jester:«So betrunken war er nicht, als dass ihm das nicht schon vor der Tat bewusst gewesen sein musste.» Der Staatsanwalt beantragte daher für beide Schützen Schuldsprüche wegen versuchter vorsätzlicher Tötung, Sachbeschädigung und Widerhandlungen gegen das Waffengesetz.

Zusätzlich sei der 23-jährige Ittiger zu verurteilen wegen «Raufhandel und Landfriedensbruch» an der letztjährigen Solätte in Burgdorf sowie wegen «Angriffs» auf linke Jugendliche im Mai 2000 in Münchenbuchsee. Nicht schuldig gemacht habe er sich dagegen der Rassendiskriminierung. Zwar habe auch er im Juni 2000 den Könizer Bahnhof mit rechtsextremen Parolen, Hakenkreuzen und «SS»-Zeichen verunstaltet – mit dem Ziel, «die Linken» zu ärgern. Allerdings stamme die einzige möglicherweise strafrechtlich relevante Parole -«Juden RAUS» -vom 21-jährigen Koch. Dieser habe sich denn auch der Rassendiskriminierung schuldig gemacht. Jedoch nur, weil er die Parole in Kombination mit dem Hakenkreuz angebracht habe.

6 Jahre Zuchthaus für Schützen

Alles in allem erachtete Jester Zuchthausstrafen von je sechs Jahren für beide angeschuldigten ehemaligen Skinheads «als angemessen». «Sicher hat der Alkohol enthemmend gewirkt», räumte er ein; die Blutalkoholkonzentration beim 23-Jährigen betrug 1,4 bis 2,3 Promille, beim 21-Jährigen 0,85 bis 1,71. Dadurch aber sei ihre Zurechnungsfähigkeit «höchstens» in leichtem Grade vermindert gewesen – auch wenn sie ihr «emmentalermässiges Gedächtnis» darauf zurückgeführt hätten. Dagegen attestierte er ihnen, dass sie sich inzwischen scheinbar «vom braunen Sumpf gelöst haben».

«Gefährdung des Lebens»

Für den 20-jährigen Jungschützen beantragte er sodann 18 Monate Gefängnis bedingt wegen Gehilfenschaft zu Gefährdung des Lebens. «Er hatte unbestrittenermassen als Chauffeur der beiden fungiert und verschaffte ihnen auch Zugang zu Munition und zu einem Sturmgewehr», führte Jester aus. Doch «glaubte er, nicht anders handeln zu können». Er habe seine Freundin «verloren», kaum Freunde gehabt und Geborgenheit gesucht -«leider in den falschen Kreisen». Dort aber sei er nur ein «Wasserträger» gewesen. Glaubhaft habe er auch ausgesagt, dass die anderen ihm «gepredigt hatten, dass man zusammenhalten muss», ansonsten man weg vom Fenster sei. Dennoch sei ihm die Gefährlichkeit des Vorhabens der anderen «voll bewusst» gewesen. «Positiv» vermerkte Jester, dass der Jungschütze bei Aussteigerprogrammen für Rechtsextreme mitwirken wolle. Und: Er sei heute sozial wieder voll integriert.

Ungewohnte Einigkeit

Die Verteidiger der drei Angeschuldigten zeigten sich mit den Ausführungen des Staatsanwalts weitgehend einverstanden und wichen praktisch nur bei der Strafzumessung von Jesters Anträgen ab. So plädierte der Anwalt des 23-Jährigen auf eine Zuchthausstrafe von maximal 3 Jahren und führte als Begründung insbesondere die problematische Vorgeschichte und den «psychischen Ausnahmezustand» seines Klienten zur Tatzeit an. «An jenem Abend kippte die Stimmung plötzlich, er fiel in ein Loch.» Davon zeugten auch Äusserungen nach der Tat wie «mein Leben ist so oder so kaputt» (gegenüber dem 21-jährigen Jungschützen) oder «ich bin ein Psychopath» (gegenüber der Mutter). Wenn nun Ulrich Mielke, Leiter des forensisch psychiatrischen Dienstes der Universität Bern, seinem Klienten eine mittelgradig verminderte Zurechnungsfähigkeit attestiere, sei auch darauf abzustützen. 3,5 Jahre Zuchthaus beantragte derweil die Verteidigerin des 21-jährigen Kochs. Der Anwalt des 20-jährigen Jungschützen dagegen hatte selbst beim Strafmass keine Differenzen mit dem Staatsanwalt.

Während der 23-jährige Ittiger beim «letzten Wort» erklärte, «ich weiss nicht was ich dazu noch sagen soll», beteuerten die beiden jüngeren Angeschuldigten, dass es ihnen «sehr leid tue». «Ich bin sehr froh, ist nichts Schlimmeres passiert», sagte der Jungschütze. Das Urteil folgt am Freitag.