Telegram-Chat aus Winterthur: Am Stammtisch der Skeptiker

Landbote.

Über einen Telegram-Chat tauschen sich die Corona-Skeptiker aus der Region über maskenfreien Unterricht aus und wappnen sich mit einem Lebensmitteldepot gegen die neue Weltordnung.

Sie verteilen Flyer in Briefkästen, sammeln Unterschriften, spazieren mit Fackeln durch die Altstadt oder schreiben Protestbriefe an Lehrer und Schulleiterinnen. Über die letzten Monate wurde die Szene der Corona-Skeptiker in Winterthur sichtbarer. Ihre wichtigste Echokammer bleibt aber der Telegram-Chat «Stammtisch Winterthur». Er zählt über 150 Mitglieder und scheint eine Art virtuelles Basislager zu sein.

Hier werden nicht nur Treffen und Verteilaktionen geplant, sondern auch Videos von prominenten Corona-Leugnern wie dem Vegan-Koch Attila Hildmann oder dem Querdenker-Arzt Bodo Schiffmann ausgetauscht. Verbreitet werden auch die bizarren Verschwörungstheorien der QAnon-Bewegung mit Ursprung in den USA. Etwa dass eine geheime Elite den Menschen mit der Corona-Impfung heimlich Mikrochips implantiert, um sie zu kontrollieren und die Weltherrschaft zu erlangen.

Wer mit am Tisch sitzt

Nach einer ersten Mahnwache gegen die «Corona-Diktatur» im Mai in der Steinberggasse verschwanden die Gegner wieder aus dem öffentlichen Blick. Am 24. Juni gründete eine Kindergärtnerin den Telegram-Chat, den sie zusammen mit einer Heilpädagogin moderiert. Nach ersten Beiträgen über Erdfrequenzen, Dunkelkräfte, 5G, Trump und angebliche Corona-Heilungen durch UV-Licht mahnt die Gründerin zur Zurückhaltung: «Ich möchte, dass sich alle wohlfühlen und wir keine ‹vergraulen›.» Zensiert wird im Chat aber nichts, einzig Gewaltaufrufe sind tabu.

Der Stammtisch ist ein Sammelbecken für alle möglichen Kräfte, das Spektrum reicht von Massnahmenkritikern über Esoteriker bis hin zu Verschwörungstheoretikern. Darunter sind auffällig viele Frauen: «Es soll möglichst viele Untergruppen geben, damit wir uns ergänzen und stärken können», schreibt die Gründerin im Juli. Ein anderes Mitglied sagt es so: «Der kleinste gemeinsame Nenner am Stammtisch ist der (vermutlich) grösste gesellschaftliche blinde Flecke, den es je gab.»

Für diesen Artikel kontaktierte der «Landbote» letzte Woche die Gründerin des Stammtischs. Auf ihren Wunsch stellten wir ihr die Fragen am Dienstagmorgen schriftlich zu. Es ging unter anderem darum, ob tatsächlich eine Mehrheit der Mitglieder glaubt, die Pandemie sei nicht echt, oder ob Sie sich in der Verantwortung sieht, wenn Leute aufgehetzt oder zum Verstoss gegen die Corona-Massnahmen angestiftet werden. Am Mittwoch schrieb sie: «So sehr wir das bedauern, es ist uns leider nicht möglich, unter Zeitdruck Ihre Fragen zu beantworten.»

Schlafschafe vs. Aufgewachte

Was die Gruppe eint, scheint ein Groll gegen die gemeinsamen Gegner zu sein: Dazu gehören der Staat, den manche für eine Firma halten, die «Mainstream-Medien» oder Bill Gates. Ihr Ziel ist es, die «Schlafschafe» aufzurütteln. So bezeichnet die Szene jene, die Covid-19 für eine Krankheit und nicht für ein Komplott von finsteren Mächten halten. Dieser Glaube ist so tief, dass sich eine Frau freut, als eine Verwandte auf dem Weg zum Impftermin einen Autounfall – «nur Blechschaden» – hat.

Im Chat gibt es wenige Vielschreiber und viele Mitleser. Dass diese Theorien von allen geglaubt werden, darf bezweifelt werden. Zumal es vereinzelt auch Widerspruch gibt: «Ist doch völliger Blödsinn», antwortete ein Mitglied, als Christian Frei im Juli behauptete, dass das Teststäbchen «einen direkten Eingang zum Gehirn für jede Infektion» schafft. Der Tibits-Mitgründer sorgte kürzlich für Schlagzeilen, weil er den stellvertretenden Armeechef aufforderte, den Bundesrat zu verhaften. Im Chat mahnte der Widersprechende: «Wenn ihr nichts prüft und einfach nur weiterleitet, dann richtet ihr nur noch mehr Schaden an.»

Politik und Proteste

Im September schloss die Polizei den Veganer-Laden Tofulino, was für grosse Aufregung sorgte: «Wie im Dritten Reich», schrieb ein Mann. Die Gruppe reagierte mit einer Solidaritätsaktion: Gemäss Chat verteilten sie die übrig gebliebene Suppe und Umarmungen auf der Strasse. Das «Umarmungskit» aus Maske, Regenschutz und Handschuhen sollte nach jeder Umarmung desinfiziert werden.

Zu dieser Zeit wurde die Gruppe vermehrt politisch aktiv. In der Altstadt sammelte sie Unterschriften für die Referenden gegen das Covid-19-Gesetz und das Anti-Terror-Gesetz. Seit neuem auch für eine Initiative, die eine mögliche Impfpflicht quasi präventiv verhindern will. Zudem fing sie an, Flyer im BAG-Stil zu verteilen. Zuerst gegen die Massnahmen, dann gegen die Impfung. Die Flugblätter lagern heute offenbar in einem offenen Schopf in Veltheim.

Die Szene ist nicht nur über unzählige Telegram-Kanäle vernetzt, sondern auch im echten Leben. Aus dem Stammtisch-Verlauf geht hervor, dass ein eigentlicher Protest-Tourismus stattfindet: Um an Kundgebungen teilzunehmen, reisten Mitglieder des Chats nach Bern, Zürich, Genf, Konstanz oder Büren an der Aare. Ein Mann aus dem Speckgürtel von Winterthur fuhr mit einem Reisebus sogar an eine Demo in Berlin.

Mit Fackeln und Glühwein

Im Advent beginnen die Abendspaziergänge, die erst beim Tibits und später bei der Stadtkirche starten. Mit Laternen oder Fackeln, Tee, Punsch oder Glühwein. Beim ersten nahmen gemäss Chat zwischen 20 und 25 Personen teil. Es gibt aber auch private Treffen: Ein Mann lädt zum «maskenfreien Sein» bei sich mit Süssmost ein und will bei der Gelegenheit noch handgemachte Bioseifen verkaufen. Eine Coiffeuse bietet bei sich zu Hause ihre Dienste an: «Es muss natürlich niemand eine Maske tragen.» Und ein Ladenbesitzer verkauft in seinem Geschäft impfkritische und coronakritische Fahnen.

«Unser Netzwerk ist in diesen Monaten massiv gewachsen», schreibt die Gründerin zu der Zeit. Weil sie wissen, dass Polizisten und Journalisten mitlesen, werden sie vorsichtiger. So sollen «Listen von vernünftigen Ärzten» nur unter der Hand ausgetauscht werden. Neu gilt auch: «Die wichtigen Informationen werden ausschliesslich per E-Mail kommuniziert.»

Der «Wir machen auf»-Leerlauf

Für grosse Enttäuschung sorgte am Stammtisch die «Wir machen auf»-Aktion. Am 11. Januar öffneten in der Schweiz einige Restaurants und Cafés ihre Türen aus Protest gegen die Corona-Massnahmen. Winterthur fehlte lange auf der Liste. Sie sei nach wie vor eine passive Stadt, hiess es im Chat: «Heute hat es sehr viele Ausländer, die sich nichts trauen. Ich hoffe, mit unserem Löwen im Wappen wachen sie auf.» Die Gruppe schrieb deswegen auch dem städtischen Wirteverband, doch dieser distanzierte sich von der Aktion.

Am Tag selbst ging eine Gruppe in der Altstadt auf einen Streifzug und suchte vergeblich nach den drei offenen Cafés: «Es bringt überhaupt nichts, wenn man nicht weiss, wohin. Schade, schlecht organisiert», lautete das Fazit einer Teilnehmerin. Eine andere Gruppe hatte offenbar mehr Glück und fand ein «Café im Westen». Die Stadtpolizei hat keine Kenntnis von einem Regelverstoss in Winterthur.

Die Solidarität mit dem Gastgewerbe gilt allerdings nicht uneingeschränkt. Der Aufschrei war gross, als Christian Frei – ein Stammtisch-Mitglied der ersten Stunde – von seinen Brüdern aus der Tibits-Geschäftsleitung geworfen wurde: «Pfui Teufel, so eine Familie braucht man nicht. Wir hoffen, die gehen pleite», heisst es in einer weitergeleiteten Nachricht der Corona-Rebellen. Dazu ein Aufruf, die «moraltragenden Gutmenschen» anzurufen oder ihnen zu schreiben.

Lebensmittel-Depot beschützen

Fieberhaft wird im Chat auch überlegt, wie man das bestehende Wirtschaftssystem umgehen könnte. Die Rede ist dann vom Direktbezug von Lebensmitteln vom Bauern bis hin zur Etablierung einer eigenen Währung. Ebenfalls im Raum steht die Idee, selbst einen Hof zu pachten und zu bewirtschaften: «Wir haben ein grosses Stück Land, das man zu einem Garten umfunktionieren kann», schreibt eine Frau aus dem Weinland. Einmal wird von einer Vorbereitung «auf die Zeit» gesprochen, ein anderes Mal von einer siebenjährigen «Übergangsphase» bis zur «digitalen Total-Erfassung». Befürchtet wird etwa ein «kommendes Bargeldverbot».

Aus diesen Überlegungen heraus schien dann das Projekt «Lebensmitteldepot» zu entstehen. Vom alten Busdepot Deutweg aus soll, mutmasslich im Krisenfall, die Gruppe versorgt werden. Doch daraus resultierten schon wieder neue Diskussionen: «Was machen wir, wenn die Lebensmittel tatsächlich knapp werden? Steht dann eine bewaffnete Delegation vor dem Schuppen?»

Ohne Maske in die Schule

Die Überzeugungen der Stammtisch-Mitglieder führte zudem immer wieder zu Konflikten mit den Schulen. Im Oktober klagen zwei Lehrpersonen, dass sie ohne Maske nicht mehr unterrichten dürfen. Im Chat «Eltern & Schule stehen auf» bietet eine später ihre Dienste für Familien aus der Region Winterthur an, die ihre Kinder nicht in eine «Masken-Kita» oder in einen «Maskenkindergarten» schicken wollen.

Seit dem 25. Januar gilt die Maskenpflicht auch für die Mittelstufe. An jenem Montag schreibt eine Frau, die offenbar ebenfalls an einer Schule arbeitet, dass sich viele Kinder beschwert hätten: Es sei zu heiss, und sie bekämen zu wenig Luft. Die Frau, die gemäss eigenen Angaben selbst keine Maske im Schulzimmer trägt, schreibt: «Ich habe zu ihnen gesagt, sie sollen die Maske abziehen und dringend mit den Eltern sprechen.»

Auch Eltern machen Druck auf die Schulen: Im Chat berichten Mütter und Väter, wie sie versuchen, ihre Töchter und Söhne von der Maskenpflicht auszunehmen. «Ich habe es grad geschafft, dem Lehrer zu erklären, er sei nicht befugt, das ärztliche Attest meines Kindes einzusehen», teilt eine Mutter der Gruppe mit. Ein Vater stellt sein Mail an die Schulleitung rein. Er werde der Tochter raten, aus gesundheitlichen Gründen keine Maske zu tragen: «Ich würde aber ihren freien Willen unterstützen, falls sie die Einzige in der Schulklasse ist und es als eine noch stärkere Belastung empfindet, aufzufallen, weil sie keine Maske trägt.»

«Unseren Kindern wird trotz Attest der Schulbesuch verweigert», schreibt eine Mutter in den Chat «Eltern & Schule stehen auf», der über 2000 Mitglieder zählt. Sie und ihr Partner hätten bei der Staatsanwaltschaft Winterthur eine Anzeige gegen den Lehrer eingereicht. Zudem ruft sie andere Eltern dazu auf, es ihnen gleichzutun. Die Staatsanwaltschaft will die Anzeige aufgrund der zu vagen Angaben weder bestätigen noch dementierten. Bei zwei Vorfällen werden die Schulhäuser – Gutschick in Mattenbach und Guggenbühl in Oberwinterthur – namentlich genannt.

Am 25. Januar nahmen auch Mitglieder des Stammtisch-Chats an einer Kundgebung vor der Zürcher Bildungsdirektion teil. Die Teilnehmer sollten «etwas Lautes» wie «Rasseln, Rätschen oder Pfannendeckel» mitbringen, hiess es im Aufruf. Dort war zudem die Übergabe eines offenen Briefs an Silvia Steiner geplant. Der Brief, der auch an die Redaktion des «Landboten» ging, enthält Fragen zu den Grundlagen für die Ausdehnung der Maskenpflicht und deren Verhältnismässigkeit. Weiter wird gefragt, wer die Unversehrtheit der Kinder gewähre und wer Verantwortung bei allfälligen Gesundheitsschäden der Kinder übernehme. Unterzeichnet wurde das Schreiben von über 160 Personen.

Die Schulen schweigen

Die Maskengegner und Corona-Skeptiker unter Eltern und Lehrpersonen sind dem Schuldepartement offenbar unangenehm. Es verweist an die einzelnen Kreisschulpflegen. Diese setzen darauf am Mittwoch eine gemeinsame Sitzung zum Thema an und sagen dann doch nichts: «Die speziellen Einzelfälle regeln wir intern, diese sind nicht für die Öffentlichkeit bestimmt.» Auch die allgemeinen Fragen zur Häufigkeit solcher Vorfälle und zur Zahl der coronakritischen Lehrkräfte bleiben mit Verweis auf den Datenschutz unbeantwortet. Stattdessen spielen die Kreisschulpflegen den Ball ans Volkschulamt weiter.

«Dazu muss sich das Schuldepartement Winterthur äussern», antwortet Myriam Ziegler vom Volksschulamt auf die Frage nach der Häufigkeit solcher Vorfälle. Unklar ist auch, wie viele Lehrpersonen das Tragen einer Maske trotz fehlendem Attest verweigern: «Wir gehen aber von Einzelfällen aus.» Es handle sich um einen Verstoss gegen eine personalrechtliche Weisung und könne theoretisch bis zur fristlosen Kündigung führen. Doch auch unbezahlter Urlaub ist möglich.

Während der Corona-Pandemie hätten sich immer wieder Eltern an die Bildungsdirektion gewandt: «Mit Abstand die grösste Reaktion hat, wie in anderen Kantonen auch, die Ausdehnung der Maskenpflicht auf die vierte Primarklasse ausgelöst», sagt Ziegler. Die Reaktionen kämen per Mail, Brief oder Telefon, würden aber weder gezählt noch nach dem Anteil von Corona-Skeptikern ausgewertet: «Auch wenn es aktuell zu einer ungewohnten Vielzahl von Reaktionen kommt, muss man diese in Relation setzen zu den über 160’000 Schülerinnen und Schülern im Volksschulalter.

Weitere Hinweise gibt ein Merkblatt des Volkschulamts: «Viele Schulen werden durch Eltern mit Attesten von Rechtsanwalt Heinz Raschein konfrontiert. Das Schreiben kann ignoriert werden, und eine Unterschrift erübrigt sich. Ein ärztliches Zeugnis ist die einzige zulässige Abweichung von der Maskentragepflicht», heisst es da. Der Name des Bündner Anwalts kursiert in diversen Telegram-Chats. Sein eigener Kanal zählt fast 11’000 Abonennten.

Polizei konsultiert den Chat

«Wir kennen den Chat», sagt Stadtpolizei-Sprecher Michael Wirz. «Es handelt sich dabei um eine von vielen Onlinequellen, die wir regelmässig aus präventiven Überlegungen heraus konsultieren.»

Wirz bestätigt zudem, dass die Polizei aufgrund von Nachrichten im Telegram-Chat bei den Organisatoren eines «Winterpicknicks» interveniert hat. Geplant war, dass sich Anfang Februar zahlreiche Menschen mit einem Stuhl und Take-away-Essen in der Marktgasse platzieren. Die Aktion wurde dann wieder abgesagt. «Wir haben die Organisatoren kontaktiert und auf die rechtlichen Bestimmungen hingewiesen wie beispielsweise die Personenobergrenze und die grundsätzliche Bewilligungspflicht für eine solche Aktion», sagt Wirz. Dies habe man in der Vergangenheit auch schon bei ganz anderen geplanten Kundgebungen getan.

Der Chat habe bisher zu keinen polizeilichen Ermittlungen geführt. Der Aufruf, keine Maske zu tragen, reiche dafür auch nicht aus, sagt Wirz. «Wir sind keine Meinungspolizei.» Und juristisch sei die Sache ohnehin kompliziert: «Eine versuchte Anstiftung zu einer Übertretung ist nicht strafbar.» Klar wäre die Sache hingegen, wenn zu schwereren Delikten aufgerufen würde.

Dennoch sieht Wirz eine gewisse Gefährdung durch den Chat: «Die Corona-Massnahmen funktionieren nur, wenn alle mitmachen. Wenn das nun Leute aktiv torpedieren, kann das natürlich eine gewisse Gefahr für die öffentliche Gesundheit darstellen.»