Stammtischpolitik

Weltwoche

Das Antirassismus-Gesetz ist eine Fehlkonstruktion: Ausgerechnet Rechtsextremen liefert es Munition.

Also doch. Rassistische Sprüche am Stammtisch sind fortan von Amtes wegen mit Gefängnis oder Busse zu ahnden. Daran besteht nach dem jüngsten Urteil des Bundesgerichts zur Rassismus-Strafnorm (ARG) kein Zweifel ­ eiligst herbeigeredeten Relativierungen zum Trotz. «Die Gedanken sind nach wie vor frei, auch schmutzige und gefährliche», beschwichtigte der Tages-Anzeiger scheinheilig und traf damit den Punkt. Es geht um die Meinungsäusserung, und die höchsten Richter haben für einmal Klartext gesprochen: Jede rassistische Äusserung, die ausserhalb des engsten privaten Bereiches fällt, gilt als öffentlich und ist grundsätzlich strafbar. Und dafür wird als Fallbeispiel just der Spruch am Stammtisch erwähnt.

Ausgerechnet die berühmte Entgleisung am Stammtisch war vor zehn Jahren im Vorfeld der Abstimmung litaneiartig als eine weiterhin straflose Dummheit dargestellt worden, als es darum ging, die Bedenken gegenüber der Gesetzesnovelle lächerlich zu machen. Von Gesinnungsjustiz könne keine Rede sein, hiess es, man wolle bloss der organisierten Hetze einen Riegel schieben. April, April ­ das gilt nun nicht mehr.

Es ist bezeichnend, dass sich die Debatte seinerzeit bloss um die Freiheit des Stammtisches drehte, wenn überhaupt. Dabei kollidierte das ARG immerhin, selbst in der versprochenen «Soft-Version», frontal mit zentralen Grundrechten. In bürgerlichen Kreisen, namentlich aber auch unter Juristen, wurde die Strafnorm zum Teil harsch kritisiert ­ aber nur hinter vorgehaltener Hand. Die Befürworter der Vorlage hatten es sich einfach gemacht: Wer laut opponierte, wurde umgehend in die Rassisten-Schandecke gestellt. Trotzdem lehnte fast die Hälfte des Stimmvolkes die vermeintlich unumstrittene Gesetzesnovelle ab.

Es war und ist wie bei der Drogenfrage ­ nur mit umgekehrten politischen Vorzeichen. Wer für eine liberale Linie eintritt, muss sich schnell einmal eine Verharmlosung des Problems unterstellen lassen, im schlimmeren Fall ein moralisches Defizit. Auch inhaltlich steckt beim ARG jener Wurm drin, der das Betäubungsmittelgesetz zum Bumerang machte: Man bürdet der Strafjustiz die Lösung eines sozialen, politischen und pädagogischen Problems auf, für das sie nicht geeignet ist. Denn wie der Drogenmissbrauch hat auch der politische Extremismus in unseren Breitengraden wenig mit rationalen Entscheidungen und viel mit Adoleszenz zu tun. So zeigt etwa eine breit angelegte Studie der Universität Lausanne, dass die Ideologie bei jungen politischen Gewalttätern ziemlich nebensächlich und austauschbar ist. Von 300 ermittelten gewaltbereiten Aktivisten wechselten immerhin 12 Prozent ihre Gesinnung ­ je nach Tagesform: Einmal waren sie links, einmal rechts (siehe Kasten). Mit anderen Worten: Es geht um Rebellion gegenüber dem Establishment, Verbote sind dafür schon fast eine Bedingung. So, wie nur ein illegaler Joint richtig schmeckt, so macht auch eine rassistische Provokation erst dann Spass, wenn sie eine Reaktion auslöst. Nur schon die Vorstellung, ein Skinhead würde sich von einem Rassismusverbot beeindrucken oder gar bekehren lassen, ist absurd. Damit sei der politische Extremismus keineswegs verharmlost. In der Regel werden die gewalttätigen Wirrköpfe ­ ob rechts, links oder religiös, beim Revolutionären Aufbau, bei der Hamas oder den Skins ­ von altgedienten Fanatikern instrumentalisiert, die genau wissen, was sie tun. Besonders fatal ist es aber, wenn ihnen der Staat noch die Munition dafür liefert ­ und genau das ist mit dem ARG geschehen.

Rechtsextreme und Shoa-Verharmloser sind in den letzten Jahren dazu übergegangen, die Meinungs- und Forschungsfreiheit in den Mittelpunkt ihrer Agitation zu stellen. Sie verkaufen sich als Aufklärer in einer verlogenen Gesellschaft. So heuchlerisch das anmuten mag ­ es funktioniert. Mit dem Kampf für anerkannte Grundrechte finden sie bedeutend mehr Anklang als mit ihren rassistischen Thesen. Die «Revisionisten» attackieren das ARG an einem tatsächlich fragwürdigen Punkt. Durch das Verbot, einen «Völkermord oder andere Verbrechen gegen die Menschlichkeit» zu «leugnen, grob zu verharmlosen oder zu rechtfertigen» wurde eine bis dahin völlig verpönte inquisitorische Dimension in unser Strafrecht eingebaut. Der kurzsichtig auf die «Auschwitz-Lüge» gemünzte Passus erhebt die Justiz zur abschliessenden Instanz für bisweilen komplexe historische, weltanschauliche oder gar politische Fragen. Und nicht immer ist die Sache so einfach. Haben die Chinesen im Tibet einen Völkermord begangen? Müssen jene türkischen Kommunisten, die am 1. Mai jeweils mit dem Konterfei Stalins durch Zürichs Strassen marschieren, strafrechtlich belangt werden? Ist Israels Umgang mit den Palästinensern als Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu werten? Macht sich der angesehene Historiker Urs Bitterli strafbar, wenn er die Vernichtung der meisten Indianervölker Amerikas ­ womöglich der grösste Genozid der Geschichte ­ in erster Linie auf fahrlässig eingeschleppte Krankheiten zurückführt?

Die Märtyrer kommen

Dass dies keine Gedankenspiele sind, beweist ein Prozess. Im September 2001 hatten sich 17 Vorstandsmitglieder türkischer Vereine wegen Verstoss gegen das ARG vor dem Gericht in Bern Laupen zu verantworten. Die Angeklagten hatten sich in einem offenen Schreiben an die Schweizer Behörden gegen das Bestreben gewehrt, das zwischen 1915 und 1918 von Türken an Armeniern begangene Massaker als Völkermord zu qualifizieren. Das Verfahren endete mit einem viel kritisierten Freispruch. Die Enttäuschung darüber trug dazu bei, dass stattdessen der Nationalrat den Völkermord verurteilte. Ausser einem Protest der türkischen Regierung brachte die Übung nichts.

Das Rassismusverbot birgt zahlreiche juristische Fallstricke in sich. So weigerten sich die Anwälte des Tierschutzfanatikers Erwin Kessler, der sich neulich wegen seiner Kampagnen gegen jüdische Schächtrituale vor dem Zürcher Bezirksgericht zu verantworten hatte, ihn zu verteidigen; es sei ihnen nicht möglich, zu plädieren, ohne selber gegen die Rassismus-Strafnorm zu verstossen. Kessler wurde also nicht verteidigt und trotzdem verurteilt. Beim Obergericht zerbricht man sich nun den Kopf, wie man die Situation meistern könnte. Und Kessler, der den Skandal richtiggehend sucht, fühlt sich in seiner Märtyrerrolle bestätigt. Da unserer Justiz der Scheiterhaufen abhanden gekommen ist, wird man Kessler kaum dazu bringen, seinen Theorien abzuschwören.

Im Kampf gegen den Rechtsextremismus hat das ARG versagt. Die Skinheads agieren und agitieren gemäss Bundespolizei so munter wie nie zuvor. Und wenn sie gerade nicht auf «Lämpen» aus sind, verständigen sie sich mit Codes ­ etwa mit der Zahl 88, die für «Heil Hitler» steht. Rassistische Propaganda ist im Internet problemlos erhältlich, die Auschwitz-Leugner agieren aus dem Ausland, zum Beispiel aus den USA, wo das First Amendment nach wie vor jegliche Zensur verbietet.

Selbst ARG-Befürworter klagen über mangelnde Erfolge. Von jährlich rund 50 Prozessen, die nicht einmal die Spitze des Eisbergs erfassen, münden rund die Hälfte in einen Freispruch. Eine magere Ausbeute. Doch statt nach Alternativen zu suchen, erhöht man die Dosis der untauglichen Arznei. Bereits 1999 forderte die damalige Justizministerin Ruth Metzler die Ausdehnung des Öffentlichkeitsbegriffs, die das Bundesgericht jetzt vollzogen hat. Metzler kündigte überdies eine härtere Verfolgung rassistischer Zeichen an. Wird etwa nächstens das unmotivierte Verwenden der Zahl 88 verboten?

Klüger wäre es, die unselige Strafnorm ersatzlos zu streichen und es mit einer anderen Medizin zu versuchen. Das Grundanliegen ­ der Schutz der Menschenwürde ­ ist unbestritten. Gravierende rassistische Attacken sind ohnehin meist mit anderen Straftaten verbunden und lassen sich allenfalls auch unter dem Titel der Ehrverletzung ahnden. Unhaltbar rassistische Diskriminierung bei Dienstleistungen könnte auf zivilrechtlichem Weg bekämpft werden, zumal sie gegen das in der Verfassung verankerte Gleichheitsgebot verstossen. Das wäre zwar weniger spektakulär und symbolträchtig ­ aber effizienter und mit weniger kontraproduktiven Nebenwirkungen verbunden.