Sie weigert sich zu sein, was andere in ihr sehen

Neue Zürcher Zeitung. Brandy Butler bringt Kinder und Dragqueens zusammen – das hat sie zum Ziel von Neonazis gemacht.

Als Brandy Butler sechs Jahre alt war, sah sie ein Kreuz brennen und lernte: «Manche Menschen hassen mich – nicht wegen dem, was ich tue, sondern wegen dem, was ich bin.» Das Kreuz stand auf einem Feld irgendwo in der amerikanischen Provinz. Neben dem Feld fand eine grosse Party statt, zu der Butler und ihre Eltern eingeladen waren. Sie und ihr Vater waren die einzigen Schwarzen unter vielen weissen Gästen. «Meine Eltern waren ein gemischtrassiges Paar – damals, in den 1980er Jahren, war das dort nicht gern gesehen.»

Männer mit Ku-Klux-Klan-Kapuzen hätten ihre Anwesenheit mitbekommen, erinnert sich Butler. «Deshalb haben sie das Kreuz angezündet.» Die Bilder des Abends sind ihr bis heute geblieben: die Angst auf dem Gesicht ihrer Eltern, die Betretenheit der Gäste, die rasche Heimfahrt durch die dunkle Nacht.

Vierzig Jahre später, auf einem anderen Kontinent, sieht Brandy Butler erneut rauchende Fackeln in den Händen von Rechtsextremen. Sie lernt: «Ich bin auch in der Schweiz ein Ziel.» Es ist der 23. Oktober, Brandy Butler hält im Tanzhaus eine Vorlesestunde für Kinder, als eine Gruppe vermummter Neonazis den Weg blockiert und die «Drag Story Hour» zu stören versucht. «Wir konnten nicht nach draussen, der Rauch machte uns Angst, manche Eltern waren in Panik», sagt Butler. «Ich habe einfach funktioniert: beruhigt, die Tür gesichert, die Polizei gerufen, geschaut, dass die Kinder möglichst wenig merken.»

Wenige Tage nach der Aktion geht ein Bekennervideo der Gruppierung «Junge Tat» online, in dem zwei Neonazis mit Namen und Gesicht zur Aktion stehen – und Butler zum Feindbild erklären. Brandy Butler sagt: «Da habe ich erst richtig realisiert, was passiert ist: Sie fühlen sich hier sicher und geschützt – ich nicht. Danach bin ich zusammengebrochen.»

Butler – schwarze Locken, grosse Brille, gestikulierende Hände – steht vor einer Entscheidung: «Was ist wichtiger: meine Angst – oder die Freude, die ich den Kindern bescheren kann?» Will sie weitermachen – oder wegfahren und flüchten wie damals vor dem brennenden Kreuz?

Die magische Welt

Wie andere sie sehen und wie sie sich selbst sieht – das klafft bei Brandy Butler oft weit auseinander. Als Kind sei sie ein Nerd gewesen, sagt sie, schüchtern, ein Fan des Science-Fiction-Franchise «Star Trek». «Das verstand damals niemand. Schwarze, weibliche Nerds – das konnte man sich nicht vorstellen.» Von ihr wurden andere Interessen erwartet: Prinzessinnen etwa oder die Musik schwarzer Sängerinnen.

Als Jugendliche in den USA habe sie sich nie nur als Schwarze verstanden. «Mein Vater war schwarz, meine Mutter war weiss – dass das speziell war, dass ich als mixed-race galt, war mir immer klar.» Im Zürcher Vorort Bonstetten, wohin sie mit 23 als Au-pair kam, sei sie dagegen als Schwarze schubladisiert und mit stereotypen Vorstellungen konfrontiert worden. Man habe Expertise über Afrika oder gute Tanzkenntnisse von ihr erwartet. «Wenn ich den Leuten sagte: ‹Ich komme aus den USA›, dann hiess es: ‹Nein, aber woher kommst du wirklich?›»

Als Erwachsene nahm sie an der Talentsendung «The Voice of Switzerland» teil. Dort habe man ihr gesagt: «Sing mehr wie Aretha Franklin – lauter, höher! Du mit deinem Körper kannst das doch.» Doch das sei einfach nicht ihr Stil. «Ja, ich bin eine schwarze, fette Amerikanerin», habe sie sich gesagt. «Aber das heisst nicht, dass ich auch immer diese Rolle spielen muss.» Sie tat es nicht – und schied bald aus.

Zu sein, wer man ist – auch wenn die Umgebung etwas anderes erwartet: Das ist die Mission von Brandy Butler. Nicht nur bei sich selbst. Butler will auch andere von Vorurteilen, Stereotypen und sozialen Normen befreien – besonders Kinder. «Ich sehe mich als purveyor of magic », sagt sie. «Ich will den Kindern zeigen: Die Welt ist magisch – komm, wir entdecken sie zusammen!»

Deshalb organisiert sie seit vier Jahren die nun berühmt gewordene Vorlesestunde, in der Dragqueens und Dragkings – Erwachsene, die sich im Stil des jeweils anderen Geschlechts verkleiden – aus Kinderbüchern vorlesen. Das Format ist inspiriert von ähnlichen Ideen in den USA und richtet sich an Drei- bis Zehnjährige. Die Anschubfinanzierung leistete sie selbst, später wurde sie von der Stadt Zürich finanziell unterstützt. Heute ist die Veranstaltung fixer Teil des Tanzhaus-Programms.

«Nie hätte ich gedacht, dass ausgerechnet das mich zum Ziel von Neonazis machen würde», sagt sie. «Die ‹Drag Story Time› ist doch kein Skandal – sie ist der cutest shit ever !» Und doch haben sie die Neonazis der «Jungen Tat» als Ziel in ihrem Kampf gegen eine angebliche «Gender-Ideologie» auserkoren. Die Zürcher SVP machte sich deren Forderung zu eigen und verlangte von der Stadtregierung, die Vorlesestunde zu stoppen.

Ihre Kritiker sehen in der Veranstaltung den Versuch, Kinder zu früh mit Themen wie Sexualität und Geschlecht zu konfrontieren. Brandy Butler lädt sie ein: «Schaut euch an, was hier passiert – bevor ihr urteilt.»

Ein Einhorn, ein Kürbis und ein Haifisch stolzieren durch einen rosa erleuchteten Saal. Ein Vater und sein Sohn probieren zusammen farbige Perücken aus. Ein Ritter verlangt mehr Glitzer im Gesicht. Und ein Junge im Prinzessinnenröcklein trägt vor dem Spiegel konzentriert Lipgloss auf – direkt auf die Stirn.

Einen Monat nach der rechtsextremen Aktion glitzern im Tanzhaus goldene Girlanden – und die «Drag Story Time» findet statt, wie wenn nichts gewesen wäre. Zwanzig Kinder und ihre Eltern rennen farbig verkleidet durch einen Saal. «Ich bin ich», singen sie, angeleitet von Brandy Butler. «Ich habe mich gern, so wie ich bin!» Mehr Gold und Glitzer: Das ist Butlers Antwort auf die Kritik an ihr.

Und doch ist an diesem Morgen nicht alles gleich wie vor dem Angriff der Neonazis. Eine Stunde vor Veranstaltungsbeginn trifft sich die Crew im Foyer des Tanzhauses. Butler trägt einen knallgelben Pulli und rosa Latzhosen mit Smileys darauf. Ihr Gesicht aber ist ernst. «Wenn etwas passiert, wenn ihr euch unwohl fühlt, meldet euch sofort», sagt sie. Bei den drei Security-Mitarbeitenden, bei der Leiterin des Tanzhauses oder bei der Polizei, die alle extra vor Ort sind.

Sie sei vor Veranstaltungen immer nervös, sagt Butler danach, während sie kiloweise Kostüme, Plastikketten und Schminkzeug auf Tischen drapiert. Aber dieses Mal ist doch etwas anders. Wenn ein Ballon zerplatzt, drehen sich die Köpfe. Und als jemand Neues zur Gruppe stösst, sagt er: «Ich bin keiner der Bösen!» Es ist nur so halb ein Witz.

Zürich statt Philadelphia

Dass Brandy Butler mit Kindern arbeitet, ist kein Zufall. Ihre Eltern waren Lehrer – ihr Vater in einem Jugendgefängnis, ihre Mutter im Kindergarten. Zu Hause, in ihrer Heimatstadt Philadelphia, hatte die Familie Pflegekinder. «Am Begräbnis meiner Mutter sagten mir viele: ‹Sie hat mich inspiriert, meinen Weg zu gehen.› So einen Einfluss zu haben, die Kinder so zu empowern – das ist auch mein Ziel.»

Dass Butler dieses Ziel nun in Zürich umsetzt, ist dagegen ein Zufall. Mit Anfang zwanzig arbeitete sie nach ihrem Musikstudium als Lehrerin in Philadelphia und wünschte sich eine Auszeit. Online suchte sie einen Platz als Au-pair, in Bonstetten war gerade einer frei – und so kam sie in die Schweiz. Später begann sie als Sängerin aufzutreten, nahm Alben auf und begleitete Stars wie Sophie Hunger auf Tour. Sie bildete sich als Musikpädagogin weiter, gab Kurse und ist seit drei Jahren auch Ensemblemitglied im Zürcher Neumarkt-Theater.

Sie fühle sich voll und ganz als Zürcherin, sagt Butler. Hier habe sie ihre Stimme, ihre Berufung gefunden. Hier habe sie herausgefunden, dass sie nicht nur Frauen lieben könne, sondern auch Männer. Hier habe sie geheiratet, eine Tochter bekommen, sich scheiden lassen. «Als ich hierherkam, fragte ich mich: Wie lange soll ich hierbleiben?», sagt Butler. «Und meine Antwort war: So lange, wie es gut ist.»

«King Joe» und die Kinder

Ist es das noch? Ja, findet Butler, solange sie weiter das tun kann, was sie an diesem Sonntag im Tanzhaus tut. Sie sitzt vor den fast fünfzig Kindern und Erwachsenen, die in ihre Vorlesestunde gekommen sind, und erklärt: «Drag-Performerinnen sind Erwachsene, die sich gerne verkleiden. Jetzt kommt eine von ihnen und liest euch eine Geschichte vor.» Dann rufen die Kinder lautstark ihren Namen: «King Joe!» Und die Tür geht auf.

«King Joe» trägt eine dunkle Jacke, klobige schwarze Schuhe, einen aufgeschminkten Bart – und einen knallroten Pompon auf dem Kopf. «Guten Morgen, Kinder!», ruft er und springt in den Raum. Die Kinder reagieren unterschiedlich: Manche rücken näher, andere beachten den Neuankömmling nicht. Nur ein Kind scheint richtig unglücklich zu sein. «Ich muss aufs WC!», sagt es zu seiner Mutter.

Dann ruft Brandy Butler die Kinder heran – und das Vorlesen beginnt. Im heutigen Kinderbuch geht es um ein Mädchen mit einem ungewöhnlichen Wunsch: Sie will Grossvater werden. Sie bastelt sich ihr eigenes Opa-Kostüm und ist damit glücklich, obwohl die Erwachsenen sie zuerst für ihren Wunsch auslachen. «Na, ist das nett von ihnen?», fragt Butler. «Nein!», rufen die Kinder.

Später fragt Butler sie, was sie selbst werden wollen. «Grafiker!», sagt ein Junge. «Mami!», ruft ein Mädchen. Ein drittes Kind hat ganz andere Pläne: «Ich will eine Glace werden!» «Wer nicht?», sagt Brandy Butler.

Die Vorlesestunden folgen einem fixen Ablauf: Erst singt Brandy Butler mit den Kindern ein Lied. Dann liest eine Dragqueen oder ein Dragking aus einem Kinderbuch vor. Dort geht es mal um zwei schwule Pinguine, mal um eine Tiergruppe, die andere Tiere ausschliesst, und mal um einen Jungen, der sich als Meerjungfrau verkleiden will. Manchmal wird dann noch diskutiert: Wen darf man eigentlich lieben? Können Mädchen auch Superman sein?

Dann dürfen sich die Kinder und ihre Eltern mit Brillen, Kostümen und Schminke verkleiden. Es gehe ihr darum, den Kindern einen Ort zu geben, wo sie das sein könnten, das sie wollten, sagt Butler. «Von klein auf sind Kinder mit Geschlechterbildern konfrontiert: Das ist für Mädchen, das ist für Knaben. Das darfst du, das darfst du nicht.» Dem wolle sie etwas entgegensetzen und den Kindern vermitteln: «Es zählt, worauf du Lust hast – und nicht, was andere erwarten.» Und wofür braucht es da eigentlich eine Drag-Performerin?

Weil diese Expertinnen darin seien, sich zu verkleiden und Geschlechterrollen spielerisch zu hinterfragen, sagt Butler. «Und weil wir eine Möglichkeit für Kinder schaffen wollen, Menschen kennenzulernen, die ihre Geschlechtsidentität so ausleben.» Mit Sexualisierung habe das rein gar nichts zu tun. Dass Männer in Frauenkleidern als Gefahr für Kinder dargestellt werden, findet Butler zutiefst problematisch. «Das bedient doch nur homophobe Stereotype. Mit unserer Veranstaltung hat das nichts zu tun.» Zumal es dort nie um Sex gehe und stets Eltern anwesend seien.

Die Väter und der Lippenstift

Je mehr sich die Kinder und Eltern im Tanzhaus-Saal verkleiden, desto weniger fällt «King Joe» unter ihnen auf. Je bunter die Kostüme werden, desto mehr verschwinden die Unterschiede. Wie an einer Modeschau stolzieren die Kinder schliesslich in Richtung Spiegel. «Sagt euch: Ich sehe super aus», ruft Brandy Butler ihnen zu. «Und dann klatschen wir alle!» Während sie es tun, tönt aus den Boxen ein Pop-Song: «You are perfect, perfect, perfect, perfect, baby.» Und Brandy Butlers Vater – gerade aus den USA zu Besuch – schaut zu und brummt: «This is Brandy magic happenin’ right here.»

Dann ist die Stunde zu Ende. Draussen schminken drei weitere Dragkings und -queens alle Erwachsenen, die Lust auf etwas Lippenstift und Nagellack haben. Danach sitzen etliche Väter mit roten Lippen im Tanzhaus-Foyer und bestellen sich einen Cappuccino.

Im Vorlesezimmer ziehen derweil die Kinder widerwillig ihre Verkleidungen aus. Dazwischen steht Brandy Butler. Sie wirkt müde. Dann kommt eine Mutter mit Sohn zu ihr und sagt: «Das war das erste Mal, dass er sich getraut hat, sich zu verkleiden!» Da lacht Butler und sagt: «Das ist doch tausend Mal mehr wert als alle Angst und jeder Hass.»

Dass Männer in Frauenkleidern als Gefahr für Kinder dargestellt werden, findet Brandy Butler zutiefst problematisch.

«Ja, ich bin eine schwarze, fette Amerikanerin», sagt Brandy Butler. «Aber das heisst nicht, dass ich auch immer diese Rolle spielen muss.»