Roter Stern und Morgenstern für Bern

Der Bund

Erstmals seit dem Kalten Krieg treten Kommunisten, erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg Nationalsozialisten zu den Grossratswahlen an

Sie wollen nicht einfach neue Mehrheiten für andere politische Akzente – sie wollen eine neue Gesellschaft, einen anderen Staat, eine neue Welt: Mit Pnos und PdA treten erstmals seit 1940 nazistische und erst-mals seit 1990 auch marxistische Systemoppositionelle zur bernischen Kantonswahl an.

Rudolf Gafner

So realpolitisch irrelevant die Aussenseiterkandidaturen sind, politisch-symbolisch sind sie nähere Betrachtung wert: Kommunismus und Faschismus – die Gegenentwürfe zur bürgerlich-demokratischen Gesellschaft und zur Marktfreiheit im Europa des 20. Jahrhunderts – melden sich (jetzt auch) im Bernbiet auf der elektoralen Bühne zurück; Ab- und Nachkömmlinge des KP- und des NS-Erbes wollen in den Grossen Rat. Ohne Rechts- und Linksradikale gleichsetzen zu wollen (vgl. Text unten), immerhin eines ist den Kandidaturen gemein: Berner Wähler auf linker wie rechter Seite haben erstmals nach 1990 respektive 1940 fundamentale Gegner «des Systems» zur Wahl.

Revolution statt (nur) Reformen

So hat gestern die Partei der Arbeit (PdA) die Kandidatur im Wahlkreis Bern-Stadt bekannt gegeben, wo ihr 2004 bereits der Einzug ins Stadtparlament gelungen war: Mit 19 Frauen und Männern zwischen 20 und 60 Jahren – unter ihnen ein Hochschulprofessor (Beat Schneider), ein Fürsprecher (Willi Egloff) und Stadträtin Carolina Aragon – tritt die seit 2003 in Bern wieder mit gegen 50 Mitgliedern aktive PdA zu den Grossratswahlen an. Die PdA, historische Erbin der 1940 verbotenen Kommunistischen Partei der Schweiz (KPS), empfiehlt sich enttäuschten Linken als «wählbare Alternative» zu rot-grünen Reformparteien – mit dem erklärten revolutionären Ziel, eine klassenlose, kommunistische Gesellschaft mit volksdemokratischem Rätesystem und gelenkter, teils verstaatlichter Kollektivwirtschaft zu errichten.

Als «Feinde des kapitalistischen Gesellschaftssystems» empfehlen sich auch die «eidgenössischen Sozialisten», die im Oberaargau kandidieren: Die 2001 gegründete Partei National Orientierter Schweizer (Pnos), seit 2004 mit Tobias Hirschi im Langenthaler Parlament, will auch kantonal «konsequent national und sozial» agitieren. Man setzt neuerdings auf Bügelfalten statt Bomberjacken, verbittet sich Vergleiche mit Hitlers NSDAP – erfüllt aber doch alle Kriterien einer NS-Programmatik zum «Sturz des Systems»: Gegen «parlamentarische Scheindemokratie», Parteienvielfalt, Pressefreiheit, für die «Errichtung eines echten Volksstaates» – «alemannisch-eidgenössisch» verfasst, «ethnisch-kulturell geschlossen» gemäss «gewachsenen Volks- und Rassenstrukturen». Dominic Lüthard (22), Kandidat aus Roggwil, beschwört «völkisches Denken», Nationalismus und «Kulturtrennung» statt des «heutigen entarteten Systems». Parteigenossen grüssen gern mit «Harus!» wie einst die Frontisten der 30er-Jahre, und man wünscht nicht frohes Christ-, sondern «Julfest», wie einst Himmlers Germanenesoteriker in der SS.

PdA städtisch, Pnos ländlich

Worin sich die Partei des Roten Sterns und die Partei mit dem Morgenstern im Logo unter anderem klar unterscheiden: Die PdA agiert strikt gewaltlos, wogegen die Pnos die brutale mittelalterliche Waffe (die übrigens als unritterlich galt) durchaus sinnig zum Symbol hat – fielen doch Pnos-Leute wiederholt wegen Schlägereien, Sachbeschädigung oder Verdachts auf Rassismusdelikte polizeilich auf. Die PdA ist urban, eher intellektuell verankert – die Pnos hat eine sehr junge, ländliche, bildungsfernere Basis.

Heute decken Schweizer Demokraten (SD) den rechten Rand des parlamentarischen Spektrums im Kanton ab. Dass Konkurrenz von rechts entsteht, beobachten die SD mit gewisser Sorge: Chef Bernhard Hess, «Gefahr» witternd, liess «die Lage genau analysieren». Mit beruhigendem Resultat: «Trotz relativem Erfolg in Langenthal und präsentablem Auftritt als nette Jungs von nebenan hat die Pnos geringere Wähleranteile als wir», sagt Hess. «Zudem hörts für unsere Basis bei Drittreich-Bewunderung auf.» Das bestätigt Hans Hirter, Politologe an der Universität Bern: Gut zehn Prozent der Bevölkerung seien «empfänglich für Rechtsaussenparolen, nicht aber für Systemfeinde». Dass eine Nazi-Partei kandidiere, sei als Tabubruch nicht zu banalisieren – doch über «randständiges Exotentum» werde die Pnos nicht herauswachsen. Ja, vielleicht sei es gar ein kleineres Übel, wenn sich die Pnos in «politischem, berechenbarerem Rahmen bewegt statt unberechenbar im Untergrund», erklärt Hirter.

Aussenseiter nicht unterschätzen

«Eine marginale Kraft bleiben» werde zur Linken auch die PdA, so Hirter weiter. Anders als in der Romandie sei eine KP für eine SP hier keine Konkurrenz. Was nicht heisse, dass man die PdA Bern als blosse «romantische Liebhaberei» abtun könne. So sieht es auch Hirters Politologenkollege Werner Seitz, in den 90er-Jahren Berater von Berns Rot-Grün-Mitte-Bündnis: Gewiss sei die PdA Bern eine «randständige Strömung» mit teils «komischen Käuzen» – doch nach zwölf Jahren RGM-Mehrheit könne die PdA von Ermüdung profitieren. «Die Regierungsverantwortung hat die Linke gemässigt, das schafft gewisses Potenzial für neue linke Opposition.»

Beim Grünen Bündnis (GB), das heute, neben der Jungen Alternative (JA), den linken Rand des Grossen Rates abdeckt, räumt man ein, dass die PdA «gewisse Konkurrenz schafft» – fürchtet diese aber nicht, wie Nico Lutz betont. In Sachfragen sei man weithin einig. Und was das Revolutionäre angehe, ach, das sei «sowieso eher deklamatorische Politik», so der GB-Mann. «Die SP hat ja auch noch die ,Überwindung des Kapitalismus? im Programm – und singt die ,Internationale? ab.»

PSYCHOANALYSE DES POLITISCHEN RADIKALISMUS – DIE DEUTUNGEN DES ARNO GRUEN

Links- und Rechtsradikale auf der Couch

Vom grossen Historikerstreit Ende der 80er-Jahre, als Hitlers KZ- und Stalins Gulag-Opfer aufgerechnet wurden, bis in lokalpolitische Niederungen, wenn – wie in Bern seit Mitte der 90er-Jahre – politisierte Jugendsubkulturen wie Nazi-Skins oder Antifa-Punks auftreten: Stets wird darüber gestritten, ob und wie Linke und Rechte einander ähnlich sind. Und darüber, wie zulässig solche Vergleiche überhaupt sind – ist es bei allen Berührungspunkten ja doch etwas anderes, ob die Welt als Klassenkampf oder Rassenkampf begriffen wird, so wie es auch nicht dasselbe ist, ob etwa militante Globalisierungsgegner Scheiben oder ob Neonazis Schädel einschlagen.

Einen nicht alltäglichen Ansatz, um Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu benennen, liefert der in Zürich lebende Psychoanalytiker Arno Gruen, Träger des Hans-und-Sophie-Scholl-Preises. Unter dem Titel «Der Kampf um die Demokratie» versucht er, Links- und Rechtsextremismus mit Blick auf unbewusste Mechanismen, Projektionen und Abspaltungen zu ergründen. Er stellt fest, dass Rechts- und Linksaussen nicht über einen Leisten geschlagen werden dürfen – auch, weil «das Erkennen der Verschiedenartigkeit Voraussetzung für deren wirksame Bekämpfung» sei. «Mit einem Neonazi muss anders umgegangen werden als mit einem linken Rebellen», fordert er.

«Der Neonazi ist im Grunde ein Konformist, der autoritäre Strukturen wiederherstellen möchte», so Gruen. Der Selbstwert Rechtsradikaler erscheine stabil. «Indem sie sich mit dem Heldenmythos faschistischer Ideologien identifizieren, halten sie ihr Selbstwertgefühl durch Gewalt und Verachtung anderer aufrecht.» Dagegen würden «linke Rebellen, die eine Identifikation mit Autoritäten bewusst ablehnen, einen dauernden Zweifel am eigenen Selbstwert erleben». Sie lehnten Konformismus ab, betonten ihr Anderssein – um ja nicht angepasst zu wirken. Solche Menschen würden «ihr Leben damit verbringen, Fesseln zu sprengen» – wobei aber «die geheime Bindung sie innerlich aufzehrt», so Gruen.

Gruen sieht Ursachen von extremistischer Aggression in schmerzhaften Kindheitserfahrungen, seelischer Kälte und Mangel an Liebe; Identität und Mitgefühl könnten sich nicht ausbilden, Eigenes werde abgespalten, Halt bei äusseren Autoritäten gesucht. «Beide haben Angst vor Gefühlen und Liebe. Der Linke jedoch sucht, wenn auch unbewusst, nach Liebe, während der Rechte sie hasst». Der Linke provoziere, um geliebt zu werden, wogegen der Rechte Berührung verhindere, «indem er zwar Rituale der Kameradschaft beschwört, wirkliches Mitgefühl jedoch ablehnt».

«Beide sind in ihren Gefühlen verletzt worden, beide geben Gefühle auf – mit einem entscheidenden Unterschied: Der Neonazi verleugnet seinen Gefühlsverlust, indem er das Schlechte, das er in der Liebe erlebt hat, zum Guten erklärt», schreibt Gruen. Für die Praxis heisse dies: Linken müsse Gelegenheit gegeben werden, «Selbstwert auf Basis konstruktiver Aktivitäten aufzubauen». Rechtsextreme hingegen müssten «zunächst konsequent gestoppt» werden – denn «sie müssen erst lernen dass Liebe nicht Schwäche bedeutet».

«Aus diesem Grund kann man mit Rechtsradikalen nur autoritär umgehen, wenn man etwas bewirken will», so Gruen. «Nur das Nein von anderen veranlasst sie zum Innehalten.» Rechtsradikale Gewalt etwa lasse sich durch starken Polizeieinsatz stoppen. Linke dagegen könne man so nicht aufhalten. «Sie kämpfen schliesslich gegen autoritäre Behandlung – Bestrafung verstärkt ihre Rebellion nur noch.»

Kritiker werfen Gruen vor, Radikalismusphänomene einseitig auf Kindheitserfahrungen zurückzuführen und soziale und historische Konstellationen zu wenig in Rechnung zu stellen. Der Psychoanalytiker hingegen macht geltend, bei allem Psychologisieren die soziale und politische Dimension keineswegs auszublenden. Gruen betont im Gegenteil, dass den Radikalismen in einer Gesellschaft letztlich nur Einhalt zu gebieten sei, «wenn wirkliches Elend, wirkliche Armut sowie die Ausgrenzung und Entwürdigung ganzer Bevölkerungsgruppen unterbunden werden».