Rassismuskritisch Denken und Handeln in der Soziokultur

sozialinfo.ch. Der Diskurs um Rassismus soll in der Soziokultur keine Leerstelle bleiben. Race als soziale Kategorie und Rassismus wird an Fachtagungen wie dem Labor Soziokultur 3.0 diskutiert und als Thema sichtbar gemacht. Wenn die Soziokultur ihrem Auftrag als Menschenrechtsprofession gerecht werden will, ist eine klare Positionierung unumgänglich.

AvenirSocial, der Berufsverband der Sozialen Arbeit, hat kürzlich seinen Leitfaden gegen rassistische Diskriminierung überarbeitet. Darin wird auf die Gefahr eines verkürzten Rassismusverständnisses hingewiesen. Sie liegt darin, Rassismus nicht als strukturellen Ausdruck ungleicher Machtverhältnisse und historischer Kontinuitäten zu anerkennen, sondern vor allem auf situative, zwischenmenschliche rassistische Handlungen zu reduzieren. Das ist zu kurz gefasst.

Strukturelle Diskriminierungen erkennen

Rassismus muss als System verstanden werden, das auf einer nach “Rassen” kategorisierten Hierarchisierung basiert und historisch seit dem Kolonialismus gewachsen ist und tief mit unserem System verflochten ist.1 Die Entwicklung dieses Systems diente und dient noch heute zur Legitimation der Ausbeutung und Entmenschlichung von BIPoC (Black, Indigenous and People of Color). Obwohl als nichtig erkannt, ist die damalige Rassentheorie noch immer wirksam und kann vehementen Einfluss auf die Lebens- und Erfahrungswelt eines Individuums haben.

Labor Soziokultur 3.0

Am 12.05.2022 fand das Labor Soziokultur 3.0 in Basel statt. Rund 130 Fachpersonen aus der Soziokultur trafen sich zum gemeinsamen experimentieren und reflektieren. Im Mittelpunkt standen vielfältige Dialoge mit und über die Soziokultur.

Die Teilnehmenden stellten sich unter anderem der Frage, welchen Wert Zwischennutzungsprojekte für die Gesellschaft haben und wie solche Angebote von einer breiten Öffentlichkeit genutzt werden können. Mit der IG Feministisches Netzwerk machten sie eine Spurensuche um (un-)bewusste Prozesse der (Re-) Produktionen um patriarchalen Traditionen zu erkennen. Weitere Workhops widmeten sich konkreten und nachhaltigen Ansätzen eines rassismuskritischen Praxisalltags oder dem Spielraum, den wir haben, um politische Entscheide zu prägen, die wiederum unseren Arbeitsalltag prägen. Der Verein Radarstation bot einen Workshop an zum Thema «10 Dinge, welche die Soziokultur auf dem Weg in die Digitalität braucht». 

Prasad2 beschreibt, dass eine unkritische Umsetzung gesetzlicher Vorgaben ohne ethische professionelle Analyse dazu beitragen kann, dass Fachpersonen sich an struktureller Diskriminierung beteiligen. In der Sozialen Arbeit wird von einem dreifachen Gewaltphänomen gesprochen3:

Rassistische Normalität

Die rassistische Diskriminierung, mit der BIPoC alltäglich konfrontiert sind, wird in der Regel nicht als Anomalie wahrgenommen, sondern als individuelles Ereignis. Indem Rassismus nicht als strukturelles und institutionelles Problem anerkannt wird, führt diese Normalisierung zu einer Gewalterfahrung für die Betroffenen.

So erleben viele rassifizierte Personen, dass etwa die Erfahrung, regelmässig von einem Ladendetektiv verfolgt zu werden, als normal und nicht als rassistische Diskriminierung eingeordnet wird.

Dethematisierung/Tabuisierung

Das Thematisieren rassistischer Vorfälle ist für Klient*innen der Sozialen Arbeit oft nicht möglich und wird von den Sozialtätigen nicht gefördert, sondern tabuisiert. Durch diese meist unbewussten Abwehrmechanismen wird der strukturelle Rassismus verborgen und begünstigt weitere rassistische Diskriminierung.

So werden zum Beispiel Ticketkontrollen, welche ausschliesslich bei rassifizierten Jugendlichen und nicht auch bei anderen Fahrgästen vorgenommen werden, gesellschaftlich hingenommen. Die Entwürdigung welche die Jugendlichen dabei erleben, wird nicht angesprochen, sondern das Vorgehen der Kontrolleur*innen sogar verteidigt.

Reproduktion durch das Hilfesystem

Eine weitere Gewaltdimension erwächst aus der (oft unbewussten) Reproduktion und Zementierung rassistischer Stereotype durch das Hilfesystem, woraus erneut rassistische Diskriminierungen erlebt werden.

Diese manifestieren sich aufgrund von Regelungen und Abläufen, welche von Sozialarbeitenden, Lehrpersonen oder Polizist*innen unhinterfragt übernommen werden und die rassifizierte Menschen benachteiligen oder ihnen sogar Chancen verwehren.

Ein Beispiel hierzu kann sein, dass eigene rassistische Vorannahmen direkt auf die zu begleitende Person projiziert werden, in dem z.B. in einem Coachinggespräch stereotype Fragen zur Person wie zu deren Umfeld gestellt werden. Dadurch wird der Raum für die zu begleitende Person ein unsicherer Raum, in dem sie sich nur schwer öffnen und anvertrauen kann. Ein zweites Beispiel, dem wir oft begegnen ist, dass Sozialtätige dieselbe Handlung unterschiedlich bewerten. Bei einem muslimischen Mann of color wird ein Verhalten oft mit religiösem Hintergrund und Ehrkonzepten erklärt, während bei einem weissen4 Mann psychische Probleme angeführt werden, um dieselbe Handlung zu legitimieren.

Rassistische Vorannahmen und Ausschlüsse haben sich in allen Teilbereichen unserer Gesellschaft festgesetzt. Es gibt keine Räume und keine Orte, keine Organisationen, aber auch keine Institutionen und keine noch so rassistisch sensibilisierte Person, die völlig frei davon ist, Rassismus zu reproduzieren. Die drei Phänomene zeigen auf, inwiefern auch die Soziale Arbeit ihre Praxis reflektieren muss.

Haltungen reflektieren

Die Auswirkungen von kolonial-rassistischen Kontinuitäten sind auch im Feld der Sozialen Arbeit, und damit auch in der Soziokultur spürbar. Das zeigt sich beispielsweise in Projekten der Raumentwicklung sowie allgemein in Migrationsdiskursen in der Schweiz. Dabei überschneiden sich Migration, race und Klasse oft intersektional und schaffen entsprechende räumliche Segregation. Wir alle wissen, welches die „schwierigeren“ Quartiere in St. Gallen, Luzern oder Basel sind. Von entsprechenden sozialpolitischen Entscheiden sind BIPoC-Communities häufig negativ betroffen, z.B. durch Aufwertungs- und Quartierentwicklungsprojekte, die bei ihnen öfters zu Umsiedlungen führen und informelle Supportsystem zerstörten. Für minorisierte Gruppen ist es entsprechend anspruchsvoll, sich Gehör zu verschaffen, da sie oftmals als weniger relevant taxiert werden.

Oftmals orientiert sich die Soziale Arbeit unkritisch an gesellschaftlichen Normen und nutzt diese als Massstab, auch im Kontakt zu Adressat*innen. Dann besteht die Gefahr, dass unreflektiert kolonial-rassistische und xenophobe Stereotype reproduziert werden und Abweichungen von dieser Norm unhinterfragt als solche taxiert und verurteilt werden. So arbeitet die Soziokultur plötzlich mit den „Anderen“ und reproduziert den gesellschaftlichen Diskurs von “Wir” und die “anderen”.

Das zeigt sich z.B. auch in der Ausdrucksweise, etwa wenn wir von ‘‘Brennpunktquartieren“, „Ausländerkids“, „engagementfernen Jugendlichen“ etc. sprechen, oder wenn wir unreflektiert davon ausgehen, dass alle BIPoC Adressat*innen einen sogenannten Migrationshintergrund haben.

Es ist immer wieder erstaunlich, dass die Frage nach dem “Migrationsanteil” meist der erstgenannte und oftmals einzige Parameter ist, um ein Quartier zu erfassen. Wir könnten ein Quartier auch anhand anderer Parameter analysieren, etwa nach dem Altersquotient, dem Anteil Mietwohnungen, dem Anteil Grünflächen oder auch anhand des CO2-Ausstosses.

Auch an der Frage der Vereinszugehörigkeit zeigt sich, welcher Standard als “normal” eingestuft wird. Damit sind nämlich nicht alle Vereine und vereinsähnlichen Organisationen gemeint, sondern spezifische, die im Schweizer Kanon bekannt sind. Der kurdische Kulturverein oder die sudanesische Friedensgruppe sind damit nicht gemeint.

Soziokultur weiterentwickeln

Einer solchen (Re-)Produktion von Differenzen entlang einer xeno-rassistischen Linie müssen wir gemeinsam kritisch entgegentreten, etwa in Form eines Aktionsbündnisses. Wie eine dekoloniale Sozialraum- und Lebensweltorientierung ausschaut, muss noch entwickelt werden. Sie besteht sicherlich darin, dass wir uns näher am Bekannten der Adressat*innen, also deren Lebensgestaltung orientieren und sie nicht in erster Linie anhand der gewohnten engen, patriarchal-rassistischen Normen bewerten. 

Die Soziokultur ist seit jeher in Macht- und Herrschaftsverhältnisse eingebettet und auch beauftragt, diese durchzusetzen. Dies wirkt sich massgeblich auf Theorie und Praxis aus, was sich in der Arbeit mit Adressat*innen widerspiegelt. Es gilt hegemoniale Wirkungen respektive bestehende Machtasymmetrien zu anerkennen, kritisch zu hinterfragen und gegebenenfalls zu dekonstruieren. Das setzt eine Reflexion auf individueller Ebene sowie im Teamdiskurs voraus, sodass Professionelle sich ihrer eigenen gesellschaftlich rassifizierten Position bewusst werden und die damit einhergehenden Privilegien erkennen.

Gleichzeitig müssen die Schulen der Sozialen Arbeit und Soziokultur in den Curricula einen Fokus auf Rassismus und Rassismuskritik setzen. Irgendwo muss es ja gelernt werden.