«Onkel Jimmy» und die Überfremdung

Neue Zürcher Zeitung. James Schwarzenbach spaltete 1970 mit einer Volksinitiative das Land – und sorgte auch für Streit in der eigenen Familie.

Manchmal bündelt eine Anekdote die Geschichte wie ein Brennglas. Als François Schwarzenbach im Frühjahr 1971 kurz nach seiner Hochzeit in Italien war, besuchte er Pisa. Mit seinem gelben Volvo mit Zürcher Nummernschild hielt er an einer Ampel. Da kam ein Einheimischer zum Auto, rief «Ey, Schwarzenbagg!» – und zeigte ihm den Stinkefinger. Schwarzenbach drehte sich irritiert zu seiner Gattin: «Woher kennt der mich?»

Dann dämmerte es ihm. Als Schweizer war man in Italien nun automatisch ein Schwarzenbach, der Familienname ein Synonym für Fremdenfeind, und dies nur wegen eines Mannes: James Schwarzenbach, dem damals meistgehassten und meistbewunderten Politiker der Schweiz.

«Onkel Jimmy und ich verstanden uns persönlich gut, aber politisch war er der Gegner hoch sieben», sagt François Schwarzenbach heute. «Die Annahme seiner Überfremdungsinitiative hätte uns massiv geschadet.» Der bald 81-Jährige sitzt an einem schweren Holztisch in seinem Büro in Thalwil, der einstigen Schaltzentrale eines Wirtschaftsimperiums. Im 19. Jahrhundert wurde hier die Seidenweberei Robert Schwarzenbach & Co. gegründet, die zu einem der weltweit bedeutendsten Textilunternehmen samt eigenem Hochhaus in Manhattan aufsteigen sollte – und die Familie reich machte. Der Patron Robert (1839–1904) blickt noch immer herausfordernd von einem Ölgemälde, auch wenn die Textilproduktion längst aus Thalwil verschwunden ist. Diese Geschichte handelt denn auch nicht nur von James Schwarzenbach und seiner Initiative, sondern auch von seinen Verwandten, die 1970 gegen ihn antraten.

«Tschinggen, fremde Fötzel!»

Damals tobte einer der gehässigsten Abstimmungskämpfe, die das Land je gesehen hat. Es ging um die Frage, ob der Anteil der ausländischen Bevölkerung in allen Kantonen (ausser Genf) auf 10 Prozent begrenzt werden solle. Die Initiative war eine wenig ruhmreiche Weltpremiere. Bei einer Annahme hätten 300 000 bis 400 000 Ausländerinnen und Ausländer die Schweiz verlassen müssen – und das mitten in der Hochkonjunktur. Die Situation war paradox: Hunderttausende von hauptsächlich italienischen Arbeitskräften verrichteten die Jobs, die Schweizer nicht mehr erledigen wollten. Allein von 1956 bis 1970 verdoppelte sich der Ausländeranteil auf über 17 Prozent, in absoluten Zahlen stieg er auf rund eine Million Menschen. Im Gastgewerbe schufteten nunmehr 75 Prozent «Fremdarbeiter», in der Metall- und Maschinenindustrie 70 und auf dem Bau 60 Prozent. Die Schweizer stiegen sozial auf und konnten sich immer mehr leisten, doch statt Dankbarkeit zeigten viele von ihnen Ressentiments gegenüber den «Tschinggen» und «fremden Fötzeln».

Das Wort «Überfremdung», ein Deutschschweizer Begriff aus dem frühen 20. Jahrhundert, war plötzlich in aller Munde, bei Gewerkschaftern wie Bürgerlichen. Der rasante gesellschaftliche Wandel löste Ängste aus. Über eine «Gefährdung der schweizerischen Eigenart» wurde schwadroniert, am lautesten von James Schwarzenbach. Seine Initiative war indes so radikal, dass er von Anfang an auf verlorenem Posten schien: Der Bundesrat warnte vor «wirtschaftlichem Selbstmord». Das Parlament, die Regierungsparteien, Wirtschaftsverbände, Gewerkschaften, Kirchen und Medien – alle waren dagegen. Und doch blieb der Ausgang der Abstimmung ungewiss.

François Schwarzenbach, wie reagierte die Familie, als James, Ihr Onkel zweiten Grades, wenige Jahre vor diesem Urnengang für die «Nationale Aktion gegen die Überfremdung von Heimat und Volk» in die Politik einstieg?

Es war eigentlich Zufall, dass sich James als Spitzenkandidat dieser Splitterpartei für die Nationalratswahlen von 1967 aufstellen liess. Er wurde von einem Lokalpolitiker angesprochen, der neben ihm beim Coiffeur sass – und sagte spontan zu. James rechnete sich keinerlei Chancen aus, sonst wäre er kaum angetreten. Am Wahlsonntag rief er dann meinen Vater an: «Verreckte Siech, ich bin gewählt!»

Ihr Vater Hans leitete das Familienunternehmen und war als Präsident des Vororts der wohl mächtigste Wirtschaftsführer der Schweiz. Er konnte keine Freude daran haben, dass sein Cousin James nun in Bern gegen Ausländer politisieren und polemisieren würde!

Das stimmt. Wir hatten in unserem Betrieb zeitweise Menschen aus mindestens 24 Nationen angestellt, ganz viele kamen aus Italien. Mein Vater bestellte den wirtschaftspolitisch ziemlich ahnungslosen James sogleich für ein Briefing in die Büros des Vororts und liess ihm die Bedeutung der ausländischen Arbeitskräfte für die Schweiz erklären. Er dachte, damit sei das Problem gelöst: Er habe den Bock zum Gärtner gemacht.

Was sich schnell als Trugschluss herausstellte . . .

Ja, leider. Schon nach der ersten programmatischen Rede im Nationalrat erhielt James so viel Fanpost, dass er nicht mehr zu stoppen war, auch nicht von der Familie. Er genoss es, dass er endlich im Rampenlicht stand.

Tatsächlich war James Schwarzenbach bis zu seinem Aufstieg als Politiker ziemlich erfolglos geblieben. 1911 geboren und auf dem herrschaftlichen Lindengut in Rüschlikon von Privatlehrern erzogen, litt er früh unter seinem tyrannischen Vater Edwin, einem anglophilen Wirtschaftskapitän (daher der Name James) und Kavallerieobersten. Als drittgeborener Sohn kam James nicht für eine Karriere im Textilunternehmen infrage, was möglicherweise zum Bruch mit seinem Herkunftsmilieu führte.

Franco-Fan und Herrenreiter

Zum Entsetzen der protestantischen und freisinnigen Familie konvertierte er 22-jährig zum Katholizismus. Er studierte Geschichte, mischte bei den Frontisten mit, pflegte Kontakte zu Rechtsextremen und sympathisierte mit den Diktatoren Franco und Salazar, den starken Männern Spaniens und Portugals. Er betätigte sich journalistisch, obwohl er so vermögend war, dass er nicht hätte arbeiten müssen. Später übernahm er den Thomas-Verlag in Zürich, wo er die Enthüllungen eines sowjetischen Überläufers ebenso publizierte wie die trüben Schriften von Mussolinis Witwe, zweier Minister Francos und eines britischen Antisemiten. Selber verfasste er zwei kitschige Heimatromane.

James Schwarzenbach war antidemokratisch, antikapitalistisch, antikommunistisch und antimodernistisch gesinnt. Kurz: ein rechtskonservativer Herrenreiter, der sich die vermeintlich heile Welt der alten Eidgenossen zurückwünschte. Er nannte Arbeitskräfte aus dem Süden «artfremde Gewächse» und die Uno einen «korrupten Negerclub», bestritt aber vehement, ein Rassist zu sein: «Ich hatte nie etwas gegen die Fremdarbeiter als Menschen. Nur gegen ihre Chefs, die Mammonsklaven, die nicht sehen wollten, dass sie die Schweiz gefährdeten.» Als die Überfremdungsthematik an Fahrt aufnahm, soll er zu seiner Sekretärin gesagt haben: «Das ist die Chance meines Lebens, berühmt zu werden.»

François Schwarzenbach, wie haben Sie den Abstimmungskampf in Erinnerung?

In der Firma trugen wir alle einen Anstecker mit der Parole «Schwarzen- bach­­ab». Wir waren höchst besorgt wegen dieser Initiative. Man merkte ja schnell, dass sie eine in der Bevölkerung weitverbreitete Stimmung bediente.

Wie zeigte sich das?

Es kamen täglich Kleinspenden für James, die fälschlicherweise an die Firma überwiesen wurden und die unser Buchhalter dann weiterleiten musste. An den Stammtischen machten viele einheimische Arbeiter Stimmung für die Schwarzenbach-Initiative. Sie hörten nicht auf die Gewerkschaftsführer.

Wie entwickelte sich das Verhältnis zwischen Ihrem Vater und seinem Cousin James?

Für die Medien war das ein attraktiver Zweikampf, der noch so gerne befeuert wurde: der Vorort-Präsident gegen den Anti-Ausländer-Initianten. Es gab dann auch immer wieder unangenehme Telefonanrufe von James-Fans in der Firma oder bei meinem Vater auf dem Landgut Bocken: «Sie sind es nicht wert, ihrem Vetter die Füsse zu küssen!», wurde etwa anonym gekeift. Aber die beiden vertrugen sich trotz den politischen Differenzen. James war in der Familie ein Aussenseiter, aber kein Ausgestossener.

Vor allem aber war James Schwarzenbach ein begnadeter Selbstdarsteller, eine One-Man-Show, wie der Abstimmungskampf zeigte. Er absolvierte über hundert Auftritte, vor allem Podiumsgespräche in brechend vollen Sälen. Im aufgeheizten Klima kam es mitunter zu tumultartigen Szenen. Schwarzenbach hatte einen Leibwächter an seiner Seite und musste Anlässe zuweilen unter Polizeischutz verlassen. Spektakel war garantiert.

Die Saat ist aufgegangen

Schwarzenbach wusste die Bühne zu nutzen: charismatisch, anständig, wortgewandt, auch auf Französisch, stets im dunklen Nadelstreifenanzug, mit streng gescheiteltem Haar, Pfeife rauchend. Fast immer trat er allein gegen mehrere Kontrahenten an, spielte sie gegeneinander aus und stilisierte sich dabei zum Politiker, der sich als angeblich Einziger für die Sache des Volkes aufopfert.

François Schwarzenbach, James inszenierte sich als zeitgenössischer Winkelried. Das zog, gerade bei den Schweizer Arbeitern, die sich ausgerechnet von diesem rechten Grandseigneur vertreten fühlten.

Er war ein Meister der Demagogie, ein Superpopulist. Ich erlebte das hautnah mit, als er an einem Podium im «Thalwilerhof» auftrat. Er hatte Claqueure dabei, die zum richtigen Zeitpunkt klatschten oder buhten.

Seinen Kontrahenten war er fast immer überlegen.

Er war hochgebildet, konnte aus dem Stegreif alles Mögliche zitieren – nicht wie seine Gegner nur den einen Satz von Max Frisch: «Wir riefen Arbeitskräfte, und es kamen Menschen.» Und doch redete er so, dass ihn auch das «einfache» Volk verstand, war schlitzohrig. Nach dem Auftritt in Thalwil sagte ich zu ihm: «Onkel Jimmy, du hast ja viele der kritischen Fragen gar nicht beantwortet, sondern bist einfach zu anderen Themen gesprungen.» Er antwortete: «François, das ist das Erfolgsrezept!»

Schämten Sie sich für James?

Nein. Auch seine grössten Gegner brachten ihm gewissen Respekt entgegen, da er trotz allem ein Gentleman war.

Am 7. Juni 1970 strömten schliesslich ausserordentliche 74 Prozent der Stimmbürger (den Frauen war dieses Recht noch verwehrt) an die Urnen. Mit 54 Prozent votierten die Schweizer Männer gegen die Überfremdungsinitiative Schwarzenbachs. Die ausländische Bevölkerung sowie das politische und wirtschaftliche Establishment des Landes, unter ihnen auch François Schwarzenbach und sein Vater Hans, konnten aufatmen. Zum Erfolg beigetragen hatte sicherlich, dass der Bundesrat bereits im Vorfeld Massnahmen zur Kontingentierung der Zuwanderung beschlossen hatte. Volkswirtschaftsminister Ernst Brugger freute sich, dass die «Bewährungsprobe unserer Demokratie» bestanden war. Die Zeitungen titelten: «Sieg der Vernunft» oder «In siedend heissem Kampf kühlen Kopf bewahrt». Für die «New York Times» stand indes fest, wer «der moralische Sieger» war: James Schwarzenbach.

Kurz nach dem Überraschungserfolg zerstritt sich der eigenwillige Grossbürger mit der Nationalen Aktion und gründete die Republikanische Bewegung, für die er bis 1979 im Nationalrat sass. Weitere Überfremdungsinitiativen blieben erfolglos; nicht zuletzt, weil im Zuge der Wirtschaftskrise von 1974 ohnehin eine massenhafte Abschiebung der «Fremdarbeiter» stattfand: Die Schweiz exportierte so kurzerhand die Arbeitslosigkeit ins Ausland.

James Schwarzenbach starb 1994 in St. Moritz. Doch seine «Saat ist aufgegangen», wie es SP-Doyen Helmut Hubacher formuliert hat. Das Thema Ausländerpolitik verschwand seit der Schwarzenbach-Initiative nicht mehr von der politischen Agenda der Schweiz; die SVP nutzte es für ihren Aufstieg zur wählerstärksten Partei. Im Herbst folgt das nächste Kapitel dieser Geschichte – die Abstimmung über die Begrenzungsinitiative.