«NS-Vergleich ist ungeheuerlich»: Wie Corona Antisemitismus stärkt

Der Rheintaler.

Ralph Lewin, Präsident des Verbands der jüdischen Gemeinden, ist besorgt über die Banalisierung des Holocaust.

Gemäss dem neuen Antisemitismus-Bericht des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebundes (SIG) nahmen antisemitische Vorfälle 2021 stark zu (siehe Box). Warum gibt es Menschen, für welche die Juden schuld sind am Coronavirus?

Ralph Lewin: Es gab in der Geschichte immer Krisenzeiten, in denen Gesellschaften auseinandergedriftet sind. Dann wird rasch nach Schuldigen gesucht. Im Fall der Juden gibt es leider viele Beispiele, in denen sie zu Sündenböcken gemacht wurden, etwa für die Pest im Mittelalter. Auch die Coronapandemie ist eine solche Krise. Es erstaunt nicht, dass auch jetzt antisemitische Feindbilder und Verschwörungstheorien hervortreten.

Was steckt dahinter?

Gemäss Umfragen sind antisemitische Stereotypen in der Bevölkerung weit verbreitet. Die Juden sind eine sehr kleine Minderheit. Die meisten Bewohner der Schweiz begegnen im Alltag kaum je bewusst einem Juden. So bleiben Vorurteile unwiderlegt. Einer der wichtigsten Pfeiler unserer Arbeit gegen Antisemitismus ist es deshalb, Begegnungen zu ermöglichen. Etwa, indem jüdische Jugendliche Schulklassen besuchen, Fragen beantworten und so Vorurteile abzubauen versuchen.

Weshalb kommen bei den Massnahmengegner unangebrachte Vergleiche zum NS-Regime und zur millionenfachen Ermordung der europäischen Juden im Holocaust so häufig vor?

Die genauen Beweggründe sind schwierig identifizierbar. Mir scheint, dass auch ungenügendes Wissen über die Schoah eine Rolle spielt. Aber man muss auch sagen: Diese Leute halten ihre Situation tatsächlich für wahnsinnig schlimm, sie sind sehr emotionalisiert. Das zeigte sich an den Demonstrationen, wo häufig die gelben «Judensterne» mit der Aufschrift «Ungeimpft» zu sehen waren. Dahinter steckt wohl nicht direkt die Absicht, den Holocaust zu verharmlosen.

Was sonst?

Es geht vermutlich darum, sich und die eigene Lage zu überhöhen, indem man sie mit einer Situation vergleicht, in der Millionen Menschen ermordet wurden. Das ist natürlich eine bewusste Provokation. Wir halten diese Vergleiche für ungeheuerlich und haben immer wieder dazu aufgerufen, das zu unterlassen. Leider insgesamt ohne Erfolg. Das Problem ist: Je häufiger diese Vergleiche kommen, desto stärker werden die Ereignisse der Schoah banalisiert. Das darf nicht passieren. Wir müssen die Erinnerung wachhalten, damit so etwas nie mehr passieren kann. Deshalb ist uns beispielsweise das geplante Schweizer Memorial für die Opfer des Holocaust so wichtig.

Weshalb distanziert man sich bei den Massnahmengegnern nicht klarer von Antisemitismus und Holocaust-Vergleichen?

Der Bericht zeigt: In den Telegram-Gruppen der «Coronarebellen» werden antisemitische Inhalte und banalisierende Vergleiche nur von einer kleinen Minderheit gepostet. Aber es ist halt ein Unterschied, ob man die Ansicht einer anderen Person nicht teilt oder dieser aktiv widerspricht. Widerrede verursacht Konflikte, braucht Zivilcourage. Und diese ist bei vielen leider nicht besonders ausgeprägt. Gegen offensichtlich antisemitische Verschwörungstheorien gibt es in den Telegram-Gruppen zwar manchmal Widerspruch. Aber gelöscht werden sie nicht, ihre Urheber nicht ausgeschlossen. Wer hingegen Massnahmen befürwortet, fliegt schnell raus.

Themenwechsel: Der Bundesrat will die Verwendung von nationalsozialistischen Symbolen wie dem Hakenkreuz in der Öffentlichkeit weiterhin nicht verbieten. Enttäuscht Sie das?

Ja. Der SIG ist enttäuscht, auch von der Argumentation des Bundesrats. Ein Hakenkreuz ist ein dermassen klarer Ausdruck einer menschenverachtenden Politik, dass der Verweis auf die Meinungsäusserungsfreiheit zu kurz greift. Der Bundesrat schreibt, Prävention sei besser geeignet als strafrechtliche Repression. Wir finden Prävention auch sehr wichtig. Aber mit Verlaub: Wenn jemand mit Hakenkreuz rumläuft, kommt die Prävention zu spät. Das haben wir dem Bundesrat in einem Brief mitgeteilt. Wir hoffen nun, dass das Parlament unsere Ansicht teilt und der Bundesrat zeitnah nach Lösungen sucht.

Was sagen Sie zum Umgang des Kunsthauses Zürich und der Bührle-Stiftung mit Werken, die Emil Bührle während des NS-Regimes jüdischen Sammlern und Künstlern abgekauft hatte?

Für uns ist klar: Es braucht eine wirklich unabhängige Provenienzforschung. Das ist bis jetzt nur ungenügend geschehen. Nun wurde Besserung versprochen, wir gehen davon aus, dass das passiert. Die Herkunft der Sammlung und ihrer Werke muss von Grund auf erforscht werden. Dabei muss der Begriff der «NS-verfolgungsbedingt entzogenen Kulturgüter» übernommen werden, wie dies das Kunstmuseum Bern bei der Gurlitt-Sammlung vorgezeigt hat.

In Zürich geschah das nicht?

Die strikte Trennung zwischen Raub- und Fluchtkunst, wie sie die Bührle-Sammlung teilweise vornahm, ist ungenügend. Ich begrüsse deshalb auch, dass der Bundesrat bereit ist, eine unabhängige Kommission zu NS-verfolgungsbedingt entzogenen Kulturgütern einzusetzen. Denn das Thema betrifft längst nicht nur die Sammlung Bührle.

Beim «Tages-Anzeiger» herrscht Unruhe nach der Entlassung eines Journalisten, der ein Porträt mit antisemitischen Klischees über eine jüdische Politikerin verfasst hatte. Ihr Kommentar?

Ich musste diesen Text drei Mal lesen, bis ich glauben konnte, dass so etwas abgedruckt worden ist. Die Qualitätskontrolle auf der Redaktion hat versagt. Das hat der «Tagi» eingesehen und sich entschuldigt. Aber das reicht nicht. Damit sich ein solcher Fall nicht wiederholt, haben wir eine Verbesserung der Qualitätssicherung gefordert, keine Entlassung. Personalentscheide kommentieren wir nicht.

Seit gut zwei Jahren unterstützen Bund und Kantone die Sicherheitsmassnahmen der jüdischen Gemeinden finanziell. Weshalb sind deren «Grenzen der Belastbarkeit» laut Bericht dennoch erreicht?

Die 2019 in Kraft getretene «Verordnung über Massnahmen zur Gewährleistung der Sicherheit von Minderheiten mit besonderen Schutzbedürfnissen» ist ein wichtiger erster Schritt. Aber sie reicht nicht aus, was auch der Bundesrat anerkannt. Die jüdischen Gemeinden geben weiterhin jährlich 4 bis 5 Millionen Franken aus, um ihre Mitglieder und ihre Einrichtungen zu schützen. Das ist nötig, denn laut Nachrichtendienst sind sie einer erhöhten Gefahr ausgesetzt. Doch um diesen Beitrag stemmen zu können, müssen die Gemeinden sparen, auch bei Kernaufgaben wie Ausbildung oder Kultur.

Was muss die Politik aus Ihrer Sicht tun?

Der SIG tauscht sich regelmässig mit dem zuständigen Justiz- und Polizeidepartement aus. Wir sind zuversichtlich, dass eine konkrete Lösung bald vorliegen wird. Uns war immer wichtig, dass nicht nur bauliche Sicherheitsmassnahmen finanziell unterstützt werden, sondern auch die laufenden Sicherheitskosten, beispielsweise für das Personal.


Deutlich mehr Vorfälle

Die hitzigen Debatten rund um die Coronapandemie führten laut Antisemitismusbericht des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebund (SIG) und der GRA Stiftung gegen Rassismus 2021 zu einer stärkeren Verbreitung antisemitischer Haltungen. Die Pandemie wirkte als Trigger. Frappant war der Zuwachs um 66 Prozent auf 806 Vorfälle im Onlinebereich. Stark verbreitet wurden antisemitische Verschwörungstheorien und Inhalte sowie unangebrachte Vergleiche mit dem Holocaust im Umfeld der