„Neonazis dürfen sich genauso treffen wie andere Leute“

NZZ am Sonntag: Was hätte die Polizei beim Aufmarsch von 5000 Neonazis im Toggenburg tun können? Und was hätte sie tun sollen? Laut Strafrechtsprofessor Marcel Niggli erstaunlich wenig.

NZZ am Sonntag: Letztes Wochenende haben sich im Toggenburg 5000 Neonazis zu einem Konzert versammelt. Wieso hat die Polizei nicht eingegriffen?

Marcel Niggli: Die Polizei greift ein, wenn etwas Strafbares passiert. Soviel man heute weiss, waren da tatsächlich Neonazis versammelt. Aber das allein heisst noch nicht, dass etwas Strafbares passiert. Ein Neonazi zu sein, ist nicht strafbar. Man darf auch Rassist sein oder Jihadist. Das ist alles nicht strafbar. Das Strafrecht bestraft Leute nicht dafür, was sie sind oder denken, sondern dafür, was sie machen. Und was jemand macht, weiss man eben erst im Nachhinein, nicht im Voraus.

Also hätte man im Voraus rechtlich gar nichts gegen das Konzert unternehmen können?

Doch. Zwar wurden die Behörden im konkreten Fall offenbar getäuscht und überrumpelt. Hätten sie es früher gewusst, hätten sie die Veranstaltung aber problemlos verbieten können – etwa aus Sorge um die öffentliche Sicherheit, aus feuerpolizeilichen Gründen oder aus Gründen des Lärmschutzes. Das alles kann die Gemeinde machen, wenn sie davon weiss. Aber da greift man nicht zum Strafrecht, sondern zum Verwaltungsrecht. So wurde jüngst der Auftritt eines nationalistischen kroatischen Sängers in Schlieren verboten. So werden bei Risikospielen im Fussball Auflagen oder Verbote begründet.

Und die Tatsache, dass sich da zum Teil wegen Rassendiskriminierung vorbestrafte Neonazis trafen, ist strafrechtlich irrelevant?

Ja. Aus dieser Tatsache allein kann man doch nicht schliessen, dass wieder etwas passieren wird.

Als das Konzert lief, war die Polizei mit einem kleinen Aufgebot präsent. Der Verdacht, dass da die Rassismusstrafnorm verletzt würde, war gross. Hätte die Polizei nicht zumindest Beweise sichern müssen? Mit verdeckten Fahndern oder mit Aufnahmen in der Halle?

Da kann man unterschiedlicher Meinung sein. Muss die Polizei an einem solchen Konzert tätig werden, wenn auch nur die Möglichkeit besteht, dass etwas passieren könnte? Das Abhören und Überwachen bindet erstens viele Ressourcen und bringt zweitens wenig Resultate. Sobald die Neonazis wissen, dass sie beobachtet werden, werden sie kaum mehr illegale Äusserungen machen. Aber zumindest an einem öffentlich zugänglichen Konzert kann ja auch sonst jemand hingehen und allenfalls eine Anzeige einreichen. Im Fall Toggenburg ist es ja inzwischen auch zu einer Strafanzeige gekommen. Das wird nun untersucht.

Ich hätte Angst, als Bürger in eine Halle mit 5000 Neonazis zu gehen, um danach Anzeige erstatten zu können.

Das hätten Sie auch als Polizist, alleine mit 5000 Neonazis.

Bei der Polizei geht man allerdings schon davon aus, dass sie auch unter widrigsten Umständen Beweise sichern kann.

Aber wenn die in grosser Formation reingeht, dann findet doch kein Delikt mehr statt. Ausserdem muss ich auch sagen: Ich bekomme ja hin und wieder Texte von solchen Bands zur Begutachtung vorgelegt. Vieles davon reicht einfach nicht für eine Verurteilung gemäss der Rassismusstrafnorm von Artikel 261 bis. Und wenn ich dann einmal eine eindeutige Passage finde, heisst es oft: Das haben sie früher gesungen, heute nicht mehr. Entschuldigung, aber das ist zu wenig. Wenn man die Rassismusstrafnorm nicht sehr eng und zurückhaltend anwendet, sondern sie als Allzweckinstrument der Prävention nutzt, dann kann man sie auch abschaffen. Dann erhalten nämlich jene recht, die sagen, sie diene nur der Einschränkung der Meinungsäusserungsfreiheit. Diese Strafnorm verbietet nur sehr wenige Dinge.

Dass sich 5000 Neonazis im Toggenburg zu einem Konzert treffen und die Polizei nichts tut, finden Sie nicht störend?

Neonazis dürfen sich genauso treffen wie andere Leute. In der Schweiz ist das Tradition, Gott sei Dank immer noch. Sozialisten dürfen sich treffen und Kommunisten, und Kapitalisten dürfen sich auch treffen. Solange sie nichts Strafbares tun, ist das o. k.

Wird da die Schweiz mit ihrer eher liberalen Haltung nicht zu einer Art Insel, die so auch unerbetene Gäste aus dem Ausland anzieht?

Das ist tatsächlich eine Gefahr. Bevor die Schweiz die Rassismusstrafnorm hatte, war das noch schlimmer. Es gab hierzulande offen auftretende Holocaustleugner, die auch Bücher verlegten. Das ist vorbei. Aber die Situation in der Schweiz ist immer noch relativ liberal. Darum ist auch die Kritik der SVP falsch, man dürfe nichts mehr sagen. Doch man darf! Und darum ist es auch falsch, wenn man übertreibt und eingreift, wenn der Berner Stadtpräsident einen dummen Witz macht über Italiener. Das ist einfach nicht strafbar. Ob es politisch klug war, ist eine andere Frage. Die Schweiz verbietet übrigens, anders als andere Länder, auch keine Parteien. Und es gibt deswegen keinerlei Probleme. Oder sehen Sie die ganze Zeit Hakenkreuze irgendwo? Ich nicht.

Was wäre geschehen, wenn die Neonazis in Unterwasser ein Asylzentrum angegriffen hätten?

Es hätte schon gereicht, wenn sie mit dem Hitlergruss losmarschiert wären. Das wäre ein Werben auf öffentlichem Grund gewesen und strafbar. Dann hätte die Polizei eingreifen können und auch müssen.

Will man einen Anlass wie im Toggenburg verhindern, gibt es also nur die Möglichkeit, früh genug von den wahren Absichten zu erfahren und ihn dann nicht zu bewilligen?

Ja. Die Gemeinden werden künftig wieder genauer hinschauen. Es gab ja auch schon länger keinen solchen Zwischenfall mehr. Ob es im Einzelfall ein Fehler ist, solche Anlässe zuzulassen, wissen wir nicht. Vielleicht ist es auch kein Fehler. Aus liberaler Sicht gilt: Wenn man nicht sicher ist, ob man etwas einschränken soll oder nicht – laufenlassen. Man könnte die Zulassung auch an die Bedingung einer Videoaufnahme durch eine festinstallierte Kamera knüpfen, das kostet kaum etwas und schafft die Möglichkeit einer nachträglichen Strafverfolgung.

Dieser Tage gibt auch eine Moschee in Winterthur zu reden, in der ein verdeckt recherchierender Journalist Hasspredigten vernommen hat. Oder das besetzte Koch-Areal in Zürich, auf dem Rechtsbrüche nicht geahndet werden. Wird Illegales heute eher toleriert?

In Zürich ist es ja der politische Wille des Stadtrates, dass auf dem Koch-Areal nicht eingegriffen wird. Aber zur Frage: Nein, es wird auch heute nichts an sich toleriert. Oder nur so, wie auch toleriert wird, dass wir täglich die Regeln im Strassenverkehr verletzen oder uns ehrverletzend äussern. Das duldet die Polizei ja auch nicht. Sie weiss einfach nichts davon. Von allen Strafverfahren gehen 90 Prozent auf Anzeigen zurück. Und von diesen Anzeigen werden wiederum 90 Prozent von den Opfern eingereicht. In allen Delikten ohne direktes Opfer, etwa beim Strassenverkehr, müsste die Polizei also einen relativ grossen Überwachungsaufwand leisten, wenn sie alles erfahren möchte. Das wäre viel zu aufwendig.

Aber eine verdächtige Moschee zu überwachen, müsste im Zeitalter des Jihadismus doch möglich sein?

Auch da sind verwaltungsrechtliche Auflagen und Vorschriften wohl oft zielführender. Strafrechtliche Schritte kann man ergreifen, wenn es konkrete Hinweise auf Delikte gibt, wie offenbar jetzt bei der Moschee in Winterthur. Aber eine flächendeckende Überwachung, die nur auf dem Verdacht beruht: «Es ist eine Moschee», das geht nicht. Das ist, als würde man sagen: «Alle Priester sind pädophil.» Das stimmt einfach nicht. Es kann solche Fälle geben, vielleicht gab es sogar Häufungen. Aber für eine flächendeckende Überwachung aller Priester ist das kein hinreichender Verdacht.

Man kann also mit strafrechtlichen Mitteln keine Sicherheit herstellen?

Nein, das kann man nicht, weil Strafrecht erst im Nachhinein greift. Oder dann nur indirekt, wenn die Möglichkeit ungeahndeter Normverstösse das Vertrauen der Leute in die Rechtsordnung zu unterminieren droht. Aber solange etwas von der Meinungsäusserungsfreiheit gedeckt ist und keine Delikte passieren, geht es eben. Man muss allerdings alle Anlässe gleich behandeln, von links aussen bis rechts aussen. Solche Treffen erhalten ja ohnehin mehr Aufmerksamkeit, wenn man sie verbietet, als wenn man sagt: «Dann erzählt doch euren Blödsinn.»

Marcel Niggli

Marcel Alexander Niggli, 56, ist Professor für Strafrecht und Rechtsphilosophie an der Universität Freiburg. Er hat mehrere Kommentare zum Schweizerischen Strafgesetzbuch und zum Strafprozessrecht herausgegeben. Er ist auch Autor des Standardkommentars zur Rassismusstrafnorm in der Schweiz.