«Was wir machen, ist Staatsschutz, nicht Gesinnungsschnüffelei»

Der Bund von 19.05.2012; Seite 2

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Samstagsinterview

Es gebe keinen Grund mehr, Nachrichtendienstler als «Schlüssellochgucker» zu bezeichnen, sagt Markus Seiler.

Interview: Rudolf Burger

Herr Seiler, kürzlich ist der Sicherheitsbericht 2012 veröffentlicht worden. Wie sicher ist die Schweiz?

Einigermassen sicher. In diesem Bericht geht es nicht um Kriminalität oder die gefühlte Sicherheit, sondern um Bedrohungen, die der Nachrichtendienst bearbeitet. Da stellen wir fest, dass es trotz der relativen Sicherheit strategische Herausforderungen für die Schweiz gibt.

Was wären denn solche strategische Herausforderungen?

Einerseits das Europa der leeren Kassen, das dazu führt, dass der Druck insbesondere auf unsere finanz- und wirtschaftspolitische Souveränität noch zunehmen wird. Dann gibt es auch durch die Veränderungen des arabischen Frühlings Herausforderungen für die Schweiz.

Sie thematisieren die Schuldenkrise – das würde man eher in einem Bericht des Staatssekretariats für Wirtschaft (Seco) erwarten.

Unsere Aufgabe ist es auch, das strategische Umfeld der Schweiz auszuleuchten. Da gibt es viele Herausforderungen. Eine davon ist das Europa, das enorme Haushaltsprobleme hat. Damit verbunden gibt es den Druck auf gewisse Regelungen, die die Schweiz anders getroffen hat als das europäische Ausland. Eine andere strategische Herausforderung sehen wir zum Beispiel auch bei der langfristigen Energieversorgung, insbesondere wegen der Abhängigkeit von Öl und Gas von gewissen Ländern.

Sie stellen da aber fest, die Energieversorgung sei gewährleistet.

Kurz- und mittelfristig ja, langfristig nimmt beim Gas insbesondere die Abhängigkeit von Russland zu.

Die grösste Gefahr für die Sicherheit wäre ein Krieg. Dieses Szenario kann man doch für Zentraleuropa ausschliessen.

Wir sagen dazu: Mit hoher Gewissheit ist ein Krieg klassischen Zuschnitts in Mitteleuropa in den nächsten 10 Jahre sehr unwahrscheinlich.

Könnten Sie nicht optimistischer sagen: für die nächsten 50 Jahre?

Das wäre nicht seriös. Wichtig ist, dass wir wissen, wovon wir reden, von Zentraleuropa, nicht von der Peripherie. Im Kaukasus hatten wir 2008 in Georgien einen klassischen Krieg.

Würde man per Umfrage ermitteln, was die grösste Bedrohung für die Schweiz sei, bekäme man zur Antwort «Terrorismus».

Terrorismus ist ein grosses Problem. 2011 beim Anschlag in Marrakesch haben Schweizer Staatsbürger ihr Leben verloren. Aber nach dem heutigen Kenntnisstand ist die Schweiz kein direktes Ziel für den jihadistischen Terrorismus. Trotzdem haben die Leute ein diffuses Gefühl von Angst. Grund dafür ist das Phänomen der radikalisierten Einzeltäter. Es gab die Anschläge in Toulouse und Norwegen. In einer offenen Gesellschaft ist nie auszuschliessen, dass ein solcher Fall passieren kann.

Sie schreiben in Ihrem Bericht, mehrere Personen mit Wohnsitz in der Schweiz hätten sich in Somalia, Afghanistan oder Pakistan aufgehalten, um zu kämpfen.

Wir sagen nicht, sie kämpften, sondern sie bildeten sich zu Kämpfern aus. Wir wissen von einer Person, die sich als Kämpfer betätigt. Bei andern vermuten wir, dass sie sich zumindest ausbilden lassen. Dann besteht die Möglichkeit, dass sie in diesen Ländern aktiv werden – wir wollen ja Terror auch nicht exportieren.

Sie schreiben weiter, es gebe Indizien, dass solche Personen in die Schweiz zurückkehrten. Sind sie nun schon da oder noch nicht?

Dazu sagen wir: Wir haben erste unbestätigte Hinweise, dass Leute auf dem Weg zurück in die Schweiz sind.

Aber Sie wüssten doch, wenn sie schon hier wären?

Ich kann nicht weiter in die Details gehen. Es gibt zwei Möglichkeiten. Entweder sind wir relativ sicher, was diese Leute unternommen haben, aber sie sind noch nicht zurück, oder – als Beispiel – sie waren in Somalia, kommen zurück, und wir müssen annehmen, dass sie dort in Ausbildungslagern waren und das Gelernte auch anwenden wollen. Das können wir nicht mit Sicherheit sagen, weil sie in Somalia vielleicht nur als Sprachschüler waren.

Werden solche Leute in der Schweiz überwacht?

Nein, wie denn? Auf welcher Rechtsgrundlage? Die gesetzlichen Grundlagen setzen uns klare Grenzen: Wir dürfen in der Schweiz Personen an öffentlichen Plätzen beobachten, aber nur, wenn wir Grund zur Annahme haben, es liege eine staatsschutzrelevante Tätigkeit vor. Wir können diese Person auch ansprechen, sie ist aber nicht verpflichtet, mit uns zusammenzuarbeiten. An privaten Orten – in der Wohnung, im Hotel – dürfen wir nichts unternehmen.

Aber Sie können im Internet prüfen, ob diese Person irgendwelche Aktivitäten entfaltet.

Ja. Das «Jihadismus-Monitoring» haben wir in den letzten Jahren verstärkt: Wir verfolgen Internet-Aktivitäten im Bereich des islamistischen Terrorismus. Wir hoffen, so rechtzeitig zu erkennen, wenn sich ein Gewalttäter manifestiert.

Was tun Sie, wenn das der Fall ist – verlangen Sie von einem Gericht, dass diese Person überwacht wird?

Das können wir nicht. Das wird von Gerichten nur bei Straftaten angeordnet. Der grosse Unterschied ist der: Der Nachrichtendienst arbeitet präventiv, damit etwas nicht passiert. Die Strafverfolgungsbehörden werden aktiv, wenn etwas passiert ist oder unmittelbar zu passieren droht. Wir können die zuständigen Strafverfolgungsbehörden informieren, und sie können allenfalls Überwachungsmassnahmen beantragen.

Ist diese Situation der Grund, wieso Bundesrat Maurer ein neues Nachrichtendienstgesetz will – möchten Sie präventiv Überwachungen anordnen können?

Die Gründe, weshalb es ein neues Nachrichtendienstgesetz braucht, sind viel breiter. Vor zwei Jahren wurden der In- und der Auslandnachrichtendienst fusioniert. Es gelten aber noch die alten gesetzlichen Grundlagen, die ein Kind des Fichenskandals vor 20 Jahren sind. Das neue Gesetz soll die Reorganisation und den technischen Fortschritt nachvollziehen und bestimmen, was für einen Nachrichtendienst wir brauchen, welche Aufträge und Mittel er haben und wie er kontrolliert werden soll.

Soll der Nachrichtendienst die gesetzliche Möglichkeit für präventive Überwachungen erhalten?

Das werden wir mit Sicherheit nie bekommen, höchstens die Möglichkeit, einen Antrag zu stellen, der dann von einem unabhängigen Organ genehmigt werden müsste. Letztlich geht es aber um die höchst politische Frage, wie viel Freiheit und wie viel Sicherheit es geben soll. Die Antwort können nur der Bundesrat und das Parlament geben.

Kennen Sie Fälle, bei denen Sie eine Überwachung anordnen möchten?

Es gibt vor allem sehr viele Fälle, bei denen ich absolut überzeugt bin, dass es keine Überwachung braucht. Wenn ich manchmal lese, was zu diesem Thema geschrieben wird, muss ich sagen: Wer sich mit dem Thema beschäftigt und trotzdem von «Lauschangriff» schreibt, versteht nichts oder will von der Sache nichts verstehen. Wir reden nämlich von insgesamt etwa zehn Anwendungsfällen pro Jahr, in den Bereichen Terrorismus, Spionageabwehr, Proliferation von Atomwaffen oder biologisch-chemischen Waffen. Wer aus rund zehn Fällen einen Lauschangriff auf die Schweizer Bevölkerung konstruiert, übertreibt.

Man liest aber auch, dass bei Ihnen eine Datensammlung existiert, in der 114 000 Personen erfasst sind.

Wo haben Sie diese Zahl her?

Aus Zeitungsberichten.

Das ist nicht immer eine gute Quelle.

Wie viele sind es denn?

Wir reden jetzt von der Staatsschutz-Datenbank. Da haben wir uns nach der Kritik der parlamentarischen Aufsicht zwei Jahre Zeit gegeben, um diese Datenbank in Ordnung zu bringen. Nach Ablauf dieses Jahres werden wir den Datenbestand um etwa zwei Drittel auf rund 50 000 reduziert haben. Das hat bei uns einen Kulturwechsel verlangt. Es gibt also keinen Grund mehr, uns als «Schlüssellochgucker» zu bezeichnen. Was unsere Leute heute machen, ist Staatsschutz, nicht Gesinnungsschnüffelei.

Sind unter diesen 50 000 Personen Ausländer in der Mehrzahl?

Möglich, aber das ist ein Bereich, in dem ich weniger gesprächig bin, weil das Rückschlüsse auf Schwerpunkte unserer Arbeit erlauben würde. Es handelt sich aber nicht um eine Liste von Verdächtigen. Wenn Sie zum Beispiel Wohnungen vermieten und eine der Wohnungen von Terroristen benützt wird, dann ist es möglich, dass Sie in dieser Kartei erfasst sind. Aber eigentlich ist es für Sie als Bürger weniger schlimm, bei uns als im Polizeiregister verzeichnet zu sein. Vom Nachrichtendienst erfährt es niemand.

Ein Thema des Sicherheitsberichts sind Links- und Rechtsextremismus. Sie kommen auf 244 links- und 51 rechtsextreme Ereignisse im Jahr 2011. Um was für Vorfälle geht es?

Gewalttätige Vorfälle. Wichtig ist: Rassisten, Holocaust-Leugner und andere Zeitgenossen interessieren uns nicht. Dabei handelt es sich um politischen Extremismus. Erst wenn ein Gewaltelement dabei ist, dürfen wir uns diese Personen anschauen. Unsere Statistik lässt den Schluss zu, dass die Zahl der gewalttätigen Vorfälle im rechtsextremen Bereich seit einigen Jahren auf eher tiefem Niveau stabil ist. Beim gewalttätigen Linksextremismus ist die Anzahl Fälle höher, aber auch nicht staatsgefährdend.

Kann man aus dieser Statistik schliessen, dass Sie Linksextremismus als grössere Gefahr ansehen?

Nein, beide Strömungen sind als gewalttätige Extremismen nicht staatsgefährdend, aber das Gewaltpotenzial ist im linksextremen Bereich höher.

Auf solche Aussagen gibt es Protest, etwa von Hans Stutz, einem Kenner der rechtsextremen Szene. Rechtsextremismus werde in der Schweiz zu wenig beobachtet, heisst es dann.

Dann sollen Kritiker etwas dagegen unternehmen. Der Nachrichtendienst ist nicht dazu da, rechts- und linksextremistische Strömungen zu erforschen. Das wäre illegal. Der Bund hat für ein Forschungsprogramm über Rechtsextremismus vier Millionen ausgegeben.

Setzen Sie die beiden Extremismen gleich? Beim Linksextremismus geht es in der Regel um Sachbeschädigung, beim Rechtsextremismus wer- den häufig Personen angegriffen.

Hätten Sie gesehen, wie das Büro von Swissnuclear in Olten nach dem Briefbombenanschlag aussah, würden Sie anders urteilen. Es war ein Glück, dass die Sekretärin den Anschlag überlebt hat.

Als grösste Gefahr für das Funktionieren unseres Landes sehen viele Leute den Cyberwar.

«Cyber» ist ein Modewort, man braucht Cyber für alles, was mit Internet und Elektronik zu tun hat. Meistens geht es um Kriminalität, etwa wenn versucht wird, übers Internet eine Bank auszuräumen. Was uns stark beschäftigt, ist die staatlich unterstützte Spionage. Früher hat das ein Staat mit Agenten gemacht – das macht man heute auch noch -, aber es kommen zunehmend Cyber- Elemente, Computer, Internet dazu.

Gibt es die klassische Spionage überhaupt noch?

Ja. Die Amerikaner glaubten auch einmal, der klassische Spion habe ausgedient. Wir staunen, was einem heute neue und alte Medien frei Haus liefern, aber am Schluss führt nichts an menschlicher Arbeit vorbei: Wenn Sie wirklich verstehen wollen, wie etwas funktioniert, wenn Sie eine Information wirklich einordnen wollen, brauchen Sie auch Leute vor Ort. Das sieht man jetzt auch bei den grossen Diensten und ihren Konflikten etwa in Afghanistan und Pakistan.

Dann rechnen Sie damit, dass es in der Schweiz noch Spione gibt?

Ja.

Sie haben aber schon lange keinen mehr erwischt.

Doch, aber wir haben es nicht unbedingt an die grosse Glocke gehängt, aus gutem Grund. Es gibt Staaten, die mit uns freundschaftlich funktionieren, aber gleichzeitig auch Spionage einsetzen. Es wäre aus einer Gesamtsicht heraus oft nicht die richtige Lösung, wenn man eine Person mit Pauken und Trompeten aus dem Land jagt. So würde man zum Beispiel riskieren, dass ein Handelsabkommen nicht zustande kommt.

Was wird denn heute in der Schweiz ausspioniert?

Heute geht es nicht mehr um das militärische Potenzial, sondern um staatliche Interessen: Was hat die Schweiz für Strategien, im Bereich von diplomatischen Fragen, von Fragen, die multilateral verhandelt werden? Dann ist die Schweiz mit Genf und all seinen internationalen Organisationen auch ein Ort, wo man sich gegenseitig ausspioniert. Wir als Gastland haben aber die Verpflichtung, einen spionagefreien Raum bereitzustellen. Da sind wir schon sehr froh, wenn es uns gelingt, die Spitze des Eisberges zu bekämpfen. Schliesslich geht es auch darum, dass gewisse Staaten ihre Bürger, die in die Schweiz geflüchtet sind, drangsalieren.

Der Iran zum Beispiel.

Ich möchte nicht auf einzelne Länder eingehen. Aber es ist ein Problem, das wir ernst nehmen müssen.

Wie viele Leute arbeiten eigentlich für Ihren Dienst?

Das darf ich nicht sagen.

Gibt es den Schlapphut noch, den Mann, der im Freien irgendetwas beobachtet?

Wenn Sie fragen: Gibt es den Agenten noch?, sage ich: jawohl. Wir nennen sie im Inland Fachkommissäre, im Ausland Führungsoffiziere. Ihre Hauptaufgabe ist es, Informanten oder Quellen zu rekrutieren, zu führen und Informationen zu erhalten. Das dürfen wir im Ausland schon heute auch mit falscher Identität machen, um die Sicherheit der Leute zu gewährleisten. Im Inland braucht es dazu eine Gesetzesrevision.

Ich nehme an, die Arbeit eines Agenten findet meistens im Büro statt.

Wir haben fast so viele Berufe wie Angestellte. Vom Physiker über den Theologen bis zum Koch gibt es alles. Je nachdem, ob sie in der Beschaffung, also als Agent, im technischen Bereich oder als Analyst, arbeiten, sieht ihr Tagesablauf anders aus. Was man auf jeden Fall sagen kann: Wissenschaftliches Arbeiten und Gesetzestreue sind ganz wichtig, die Vorstellung von Abenteuer wäre falsch.

Haben Sie Schwierigkeiten, Leute zu rekrutieren?

Bis jetzt haben wir gute und tolle Leute gefunden, obwohl unsere Anstellungsbedingungen materiell nicht die attraktivsten sind. Wir stellen fest, dass auch Konzerne und andere private Akteure an unseren Spezialisten sehr interessiert sind; aber die Möglichkeit, beim Nachrichtendienst zu arbeiten, scheint doch auch so spannend zu sein, dass wir immer wieder gute Leute finden.

Eine Schwierigkeit ist doch, dass Sie vor etwas warnen müssen, Terrorismus, das dann doch nicht eintrifft.

Ich habe mir von Ihren Berufskollegen schon vorwerfen lassen müssen, wir seien zu wenig alarmistisch, was ich als Kompliment empfand. Wir haben in den letzten zweieinhalb Jahren widerstanden, eine Terrorwarnung herauszugeben, obwohl Deutschland, Frankreich und England Ende 2010 das getan haben. Wir verzichteten, weil wir eine Vorstellung der Bedrohungslage in der Schweiz hatten. Aber es gibt ein Restrisiko. Wir möchten auch kein Vorbereitungsraum, Ruheraum oder Finanzierungsraum sein, aus dem Terror exportiert werden könnte.

Sollte aber einmal etwas geschehen, heisst es: Wofür haben wir eigentlich einen Nachrichtendienst, wenn der das nicht gewusst hat . . .

. . . oder falsch eingeschätzt hat. Wenn wir etwas nicht wissen, etwa im Fall eines radikalisierten Einzeltäters, ist das letztlich ein von Gesellschaft und Politik akzeptiertes Restrisiko. Der andere Fall wäre der: Wir hatten die Information, haben sie aber falsch interpretiert. Bis heute haben wir zum Glück immer etwa die richtige Einschätzung gemacht, auch dank unserer Mitarbeiter, die hier wirklich eine tolle Arbeit machen.

 

Markus Seiler

 

Markus Seiler, Jahrgang 1968, studierte und doktorierte in Staatswissenschaften an der Hochschule St. Gallen. Danach bildete er sich auf dem Gebiet der Sicherheits-, Staats- und Verteidigungspolitik in den USA weiter. Von 1993 bis 1997 arbeitete er zunächst als politischer Sekretär und dann als Informationschef auf dem FDP-Generalsekretariat in Bern. Von 1997 bis 2002 war er im Stab von Bundesrat Kaspar Villiger tätig, zuletzt als dessen persönlicher Mitarbeiter. Danach arbeitete er bis 2009 in verschiedenen Funktionen beim Departement für Verteidigung, Bevölkerungsschutz und Sport, ab 2005 als VBS-Generalsekretär. Seit 2010 ist er Direktor des Nachrichtendienstes des Bundes (NDB). Markus Seiler ist verheiratet und Vater von vier Kindern. (bur)

 

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