«Die Schweiz ist kein Sonderfall»

Fremdenfeindlichkeit ist so verbreitet wie in Europa, bilanziert Marcel Niggli neue Studien

INTERVIEW: TIMM EUGSTER

Strafrechtsprofessor Marcel Niggli (48) sagt als Leiter des Nationalen Forschungsprogramms Rechtsextremismus, warum er gerne auch Linksextreme untersucht hätte.

BaZ: Herr Niggli, die wichtigste Erkenntnis des Forschungsprogramms lautet schlicht: Es gibt auch in der Schweiz Rechtsextremismus. Wie merken wir das in unserem Alltag?

MARCEL NIGGLI: Wenn Sie jung sind, machen Sie in der Freizeit mit relativ grosser Wahrscheinlichkeit Erfahrungen mit Rechtsextremen: In einer Befragung in der Region Basel berichten zehn Prozent der Schüler, dass sie schon mit rechtsextremer Gewalt in Berührung gekommen sind. Ein grosser Teil dieser Auseinandersetzungen findet allerdings zwischen Rechtsextremen und anderen Jugendgruppen statt – vor allem mit Hip-Hoppern und linken Gruppen. Hier verschwimmen bisweilen Täter- und Opferrollen.

Warum hat das Programm nicht genauso Gewalt von Linksextremen und von Migrantengangs untersucht?

Diese Frage müssen Sie dem Bundesrat stellen: Er hat das Thema Rechtsextremismus vorgegeben. Der Auslöser des Forschungsprojekts war ja der Vorfall vom 1. August 2000 auf dem Rütli, als Skinheads die Rede des damaligen Bundesrats Kaspar Villiger störten: Da wurde offensichtlich, dass man viel zu wenig über Rechtsextremismus in der Schweiz weiss.

Hätten Sie gerne auch andere Extremismen in die Untersuchung einbezogen?

Ich wäre tatsächlich sehr glücklich gewesen über einen umfassenderen Auftrag. Erstens müssten wir uns dann nicht vorwerfen lassen, wir seien auf dem linken Auge blind. Und zweitens hätte man untersuchen können, wie stark die verschiedenen radikalen Jugendgruppen mit der etablierten Gesellschaft verknüpft sind. Man hätte wohl gesehen, dass der Linksextremismus nicht so stark in der Mitte der Gesellschaft verankert ist wie der Rechtsextremismus.

Wie meinen Sie das?

Laut einer Umfrage im Rahmen des Projekts haben über 50 Prozent der Schweizer Angst vor Fremden und 30 Prozent vor dem Islam. 40 Prozent haben sexistische und 20 Prozent antisemitische Einstellungen. Solche Werte sind europäischer Durchschnitt; die Schweiz ist kein Sonderfall. Fremdenfeindlichkeit ist kein Randphänomen – was uns zeigt, dass unser Selbstbild der Schweiz als offenes, demokratisches, auf Gleichheit orientiertes Land nicht mit der Realität übereinstimmt.

Ihr Projekt hat auch die SVP untersucht. Halten Sie die Partei für rechtsextrem?

Nein. SVP-Anhänger sind eindeutig keine Rechtsextremen: Sie agieren innerhalb des Rahmens der Verfassung und sind nicht gewaltbereit.

Es gibt also keine Verbindung zwischen SVP und Rechtsextremen?

Keine direkte – aber eine indirekte: Wenn etablierte Parteien den Gleichheitsgrundsatz unserer demokratischen Ordnung angreifen, wenn sie aggressiv versuchen, gewisse Gruppen auszugrenzen, dann sehen sich Rechtsextreme nicht abgelehnt oder sogar insgeheim legitimiert. Umgekehrt hat das Projekt über Prävention gezeigt: Wenn alle gesellschaftlichen Institutionen von Politik über Schule, Polizei und Jugendarbeit sich dem Rechtsextremismus aktiv entgegenstellen, hat dies eine Wirkung.

Was fordern Sie nun? Wollen Sie das idealisierte Bild der Schweiz als besonders offene Gesellschaft ändern – oder die Leute mit rechten Einstellungen?

In einer Demokratie kann man ja die Leute nicht erziehen – die einzige Möglichkeit, etwas zu bewirken, ist Reden. Die Diskussion darüber, was die Schweiz ausmacht, wird heute von rechts besetzt. Die SVP hat auch deshalb so grossen Erfolg, weil die Linke so tut, als gäbe es gar keine Schweiz mehr: Wir sind multikulti, jeder, der bei uns ist, ist gleich. Das stimmt so natürlich auch nicht.

Was macht denn die Schweiz aus?

Wir haben zum Beispiel vier Landessprachen – und nicht sechs oder sieben. Wir legen grossen Wert auf Pünktlichkeit: Wer oft zu spät kommt, wird nicht als Schweizer anerkannt. Eine breite Diskussion, was die Schweiz ausmacht, würde aber vor allem auch Unterschiede zeigen: zwischen Basel und Zürich, Deutschschweiz und Romandie und so weiter. Es würde klar, dass es kein zu enges Identitätskorsett geben kann – und das würde die Offenheit fördern.

«Grosses Mass an Normalität»

NICHT RANDSTÄNDIG. Das Nationale Forschungsprogramm 40+ «Rechtsextremismus – Ursachen und Gegenmassnahmen» ist beendet. Zum Abschluss des vier Millionen Franken teuren Projekts wurde gestern die englischsprachige Publikation «Right-wing Extremism in Switzerland» präsentiert, welche die Resultate der 13 Teilprojekte zusammenfasst und teils im internationalen Kontext verortet. Hier sticht ein Unterschied zu Studien aus Deutschland heraus, wo Rechtsextreme als benachteiligte, randständige «Modernisierungsverlierer» beschrieben werden. Die Schweizer Studie kommt anhand von Interviews mit 26 der geschätzten 1200 Schweizer Rechtsextremen zum gegenteiligen Schluss: «Wir haben ein grosses Mass an Normalität angetroffen», so Forscher Thomas Gabriel.

Karriere. Gabriel beschreibt drei typische Gründe für eine rechtsextreme Karriere:

> Überanpassung. Der Rechtsextreme ist in einem Elternhaus aufgewachsen, in dem fremdenfeindliche Einstellungen verbreitet sind. Der Junge sucht sich Anerkennung, indem er die Werte seines Milieus radikalisiert – und handelt.

> OHNMACHT. Der Rechtsextreme wurde vom Vater misshandelt und bewältigt diese Ohnmachtserfahrung in einer rechtsextremen Gruppe.

> PROVOKATION. Der Rechtsextreme will seine Eltern provozieren, die er als desinteressiert und abwesend erlebt. te

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