Interview mit Extremismusforscher. «Männer über 50 sprechen auf Verschwörungsmythen an»

Der Bund.

Die Corona-Skeptiker-Szene radikalisiere sich, sagt Matthias Pöhlmann. Rechtsextreme benutzten die Esoterik als trojanisches Pferd.

Herr Pöhlmann, die Schweiz hat sich zum zweiten Mal klar für Corona-Massnahmen ausgesprochen. Trotzdem bleibt das Land gespalten. Müssen Demokratien mit dieser Spaltung leben?

Ich befürchte, ja. Es wird immer Menschen geben, die aus Prinzip gegen solche Massnahmen sind. Vielleicht ist es noch möglich, einzelne mit der Kraft der Argumente zu überzeugen. Andere, die sich schon längst innerlich «vom System» verabschiedet haben, wird man aber nicht so schnell zurückgewinnen können. Einige finden Gefallen an Abgrenzungsrhetorik und am selbst gewählten Aussenseiterstatus.

Die Corona-Skeptiker-Szene ist uneinheitlich. Was verbindet sie?

Es geht um eine Art «heterogene Misstrauensgemeinschaft». So unterschiedlich die Hintergründe der Szene auch sind, es eint sie die Angst um die Freiheitsrechte. Zudem befürchten viele, dass man sie durch Impfen gefügig machen will.

«Man kann das Virus weder sehen noch spüren und sucht nach Deutungen.»

Wie kommt es zu solchen Befürchtungen?

Viele Menschen erleben die Corona-Krise als Kontrollverlust, als Ohnmachtserfahrung. Man kann das Virus weder sehen noch spüren und sucht nach Deutungen. Verschwörungserzählungen bedienen die Sehnsucht nach einfachen Antworten und nach exklusivem Wissen. Die Querdenker bezeichnen sich ja als die «Aufgewachten» im Gegensatz zu den «Schlafschafen».

Woher stammen Verschwörungserzählungen?

Verschwörungsmythen gibt es seit je. Durch die Pandemie sind sie ins Bewusstsein der Öffentlichkeit getreten. Davor wurden sie als eine Art Kuriosa betrachtet. Heute hingegen erleben viele im Freundes- und Familienkreis, dass Menschen einen regelrechten Verschwörungsglauben ausbilden, der Gespräche erschwert.

Wird das Misstrauen mit dem Virus wieder verschwinden?

Davon gehe ich nicht aus. Zum Glück sinkt die Zahl der Anhänger von Verschwörungsmythen aber leicht, wie Untersuchungen zeigen. Allerdings darf man die Wirkung des publizistischen Klimas der Verunsicherung nicht unterschätzen, das die Mythen hervorrufen. Sie erschweren die Konsensbildung in der Demokratie. Ich sehe die Demokratie nicht in Gefahr. Aber es ist in der Szene eine verstärkte Radikalisierung zu beobachten. Viele entwickeln sich allmählich zu radikalen Besserwissern.

Welche Auswirkungen haben harte Massnahmen wie eine Impfpflicht?

Ich befürchte, dass sich etliche noch mehr radikalisieren werden. Teilweise werden schon jetzt impfende Ärzte angegangen. Mir scheint es wichtig, den Menschen zu sagen: Lasst euch impfen. Unsere Gesellschaft braucht gerade jetzt Solidarität, ein Miteinander, um die Pandemie in den Griff zu bekommen.

Die schrittweise Radikalisierung erinnert an den Linksradikalismus der Siebzigerjahre, der zur RAF geführt hat.

Es gibt bei aller Unterschiedlichkeit in der Tat Parallelen – etwa in der Gewaltfrage: Verschwörungsmythen produzieren Feindbilder, bis zum Punkt, dass Gewalt als legitimes Mittel betrachtet wird, um den Feind zu bekämpfen.

«Wenn jemand ideologisch gefangen ist, kann er leicht ins Krankhafte kippen.»

Können sich Corona-Skeptiker derart stark radikalisieren?

Man merkt es am Vokabular. Die sogenannten «alternativen Medien» sind ein Beschleunigungsmotor. In Deutschland hat ein Mann einen 20-jährigen Tankstellenangestellten erschossen, der ihn zum Maskentragen aufgefordert hatte.

Bei diesem Fall denkt man doch als Erstes an einen psychisch kranken Täter. Wo ist die Grenze?

Sie ist fliessend. Wenn jemand ideologisch derart gefangen ist, kann er leicht ins Krankhafte kippen.

Jeder fünfte Deutsche soll an Verschwörungsmythen glauben. Mit so viel Querschlägern ist wohl zu rechnen?

Mag sein. Aber wenn man diese Menschen mit Verachtung straft, führt das zu Trotzreaktionen. Man sollte sie ernst nehmen. Zu meiner Arbeit gehören auch Beratungsgespräche. Ich vertraue dabei der Kraft der Argumente und der emotionalen Zuwendung.

Wer sucht bei Ihnen Rat?

Es sind meist die Angehörigen von radikalisierten Menschen. Ich sage ihnen, dass die Widerlegung der Argumente, das sogenannte Debunking, meist nicht weiterführt. Man muss fragen, warum jemand sich einem Verschwörungsglauben zugewandt hat. Das basiert auf Erfahrungen, wie man sie auch aus der Sektenberatung kennt.

«Bei einer Radikalisierung spielen oft individuelle Lebensthemen eine Rolle.»

Wie sollen sich Angehörige verhalten?

Es geht zunächst darum, eine Gesprächsatmosphäre zu schaffen. Angehörige sollten klarstellen, dass sie kein potenzielles Missionsobjekt sind und dass man einander ausreden lassen sollte. Ziel eines Gespräches könnte es sein, das ursächliche Motiv einer Radikalisierung zu erfahren.

Welches ursächliche Motiv?

Bei einer Radikalisierung spielen oft individuelle Lebensthemen eine Rolle: Ängste vor einer Krankheit zum Beispiel oder Fragen der Anerkennung. Wenn jemand von seinem Vater stets zu hören bekam, dass er ein Versager sei, findet er im Verschwörungsglauben einen Halt. Er gibt ihm das Gefühl, auch etwas zu wissen, auch etwas Besonderes zu sein.

Und wenn man die Leute trotz allem Verständnis nicht mehr erreicht?

Wenn immer möglich, sollte man den Kontakt nicht abbrechen lassen. Manchmal kann aber eine Auszeit helfen. Dabei sollte man radikalisierten Personen signalisieren, dass sie einem als Menschen wichtig bleiben, auch wenn man sie im Moment nicht verstehen kann. Manchmal machen Betroffene so eine Krisenerfahrung durch, die sie ins Grübeln bringt. Der Ausgang ist letztlich aber immer offen.

In Ihrem Buch «Rechte Esoterik» sehen Sie ein «Unbehagen an der Realität» als Ausgangspunkt von Verschwörungsmythen. Dieses Unbehagen kennt doch jeder kritische Geist.

Das Unbehagen ist ja auch wichtig. Aber wenn jemand den Corona-Zahlen der Regierung nicht vertraut und im Internet zu recherchieren beginnt, kann er leicht in digitalen Echokammern landen, die sein Misstrauen nur noch bestätigen.

Laut einer Studie soll ein Drittel der Bevölkerung wissenschaftsfeindlich sein. Das sind beängstigend viele.

Diese Zahl bereitet mir auch Sorgen. Die Studie basiert auf einer repräsentativen Umfrage, die von Dezember 2020 bis Frühling 2021 in Deutschland durchgeführt wurde. Ein Drittel der Befragten vertraut eher den eigenen Gefühlen als der Meinung von Experten. Diese Menschen haben kein Vertrauen mehr in die Wissenschaft, die Medien und die Politik. Das ist eine grosse Herausforderung für die Demokratie.

Was ist zu tun?

Die Frage ist, wie man diese Leute wieder «zurückholen» kann. Die gängige Antwort lautet: Bildung, Bildung, Bildung. Das ist sicherlich richtig, aber eben nicht alles. Vor allem Männer über 50 sprechen auf Verschwörungsmythen an. Ob da politische Bildung noch greifen kann, ist fraglich.

«Der SVP oder der AfD geht es darum, anschlussfähig für dieses Wählersegment zu bleiben.» 

Welche Rolle spielen Parteien wie die SVP oder die AfD, die sich nicht von der Szene abgrenzen?

Diesen Parteien geht es darum, anschlussfähig für dieses Wählersegment zu bleiben. Gefährlich wird diese Politik, wenn sie sich Verschwörungstheoretikern anbiedert und diese damit salonfähig macht. So hat die AfD-Bundestagsfraktion im Mai 2019 zum «Ersten Kongress der freien Medien» in Bundestags-Räumlichkeiten eingeladen. Auf dem Roll-up waren auch die Logos von Kla.tv und der sogenannten Anti-Zensur-Koalition des Schweizers Ivo Sasek zu sehen. Ihn betrachte ich als einen der geistigen Brandstifter, die das demokratische System aus dem Gleichgewicht bringen wollen. 

Wie gross ist der Anteil der Esoteriker unter den Corona-Skeptikern?

Bereits vor der Pandemie war zu beobachten, dass Rechtsextreme die Esoterik als Betätigungsfeld entdeckten. Die Esoterik wird als trojanisches Pferd verwendet, um antidemokratisches und rechtsextremes Denken zu verbreiten. Als Beispiel sei hier die rechtsesoterische Anastasia-Bewegung genannt. Die von dieser Bewegung propagierte Gründung von selbstversorgenden, ökologischen Familien-Landsitzen wird kombiniert mit antisemitischem, antidemokratischem und rassistischem Gedankengut.

Was verstehen Sie eigentlich unter Esoterik? Ursprünglich ging es da doch um alternative Kaschmirpulloverträger.

Dem war mal so. Aber seit Mitte der Neunzigerjahre tauchen Bücher auf, die sowohl esoterisch als auch antidemokratisch, rassistisch und antisemitisch sind. In der Esoterik gibt es eine grosse Offenheit für Verschwörungsmythen. Esoterische Strömungen erheben den Anspruch, hohe Erkenntnis anzustreben. Es geht um ein Streben nach einem absoluten Wissen, das nur Eingeweihten zugänglich ist. Damit grenzt man sich gegenüber der Wissenschaft und den etablierten Religionen ab. Am Beispiel des Toggenburger Esoterik-Stars Christina von Dreien sieht man sehr gut, wie esoterischer Anspruch und Verschwörungserzählungen zusammenkommen.

Sie sagen, Esoteriker glaubten an «höhere, geheime Mächte» und Rechtsextreme an irdische geheime Mächte. Ist das nicht ein Widerspruch?

Es gibt viele Mischformen. So etwa, wenn ein strenges Karmagesetz zur Deutung der deutschen Vergangenheit verwendet wird. Da wird dann behauptet, dass die Juden selber schuld am Holocaust seien.

«In der Anthroposophie gibt es die Überzeugung, man müsse Krankheiten durchleben.»

Sie bezeichnen Esoterik auch als «spirituelle Egozentrik» oder «konsumorientierten Religionsvollzug». Das schadet doch bloss dem Portemonnaie.

Wenn sich alles nur noch um die individuelle Bedürfnislage dreht, hat das ja auch Konsequenzen für die persönliche Ethik. Man verliert die Bedürfnislage anderer Menschen aus dem Fokus.

Die Sehnsucht nach einer nicht rationalen Welt ist Nährboden für Mythen. Ist es nicht paradox, dass daraus scheinbar logische Ideologien entstehen?

Unter Berufung auf ein absolutes Überwissen können eigene Weltdeutungssysteme entstehen. Die beiden Klassiker sind die Anthroposophie und die Theosophie. In der Anthroposophie gibt es die Überzeugung, man müsse Krankheiten durchleben, um das Immunsystem zu stärken. Daher brauche es gar keine Impfungen. Die Theosophie wiederum hat die heutige Konsum-Esoterik stark beeinflusst. Etwa in Bezug auf den Totalitätsanspruch, Lösungen für alle erdenklichen Probleme anzubieten.