Interview mit den Befreiern von Sheriff

Was hat die Menschen dazu bewogen, Sherif zu befreien? War es eine geplante Aktion?

Heidi: Ich kannte S., weil er einen Vortrag im Gymnasium hielt. Diese Ohnmachtssituation, zu wissen, dass ein Menschenleben in Gefahr ist, veranlasste mich zu handeln.

Otto: Durch das Alarmnetz erfuhren wir, dass eine 24-Stunden-Blockade, wie damals in Fribourg geplant war, um der Abschiebung in Folter und Tod etwas entgegen zu setzen. Wer die Idee schlussendlich hatte, wissen wir nicht mehr, sehr wahrscheinlich war es Heidi.

Heidi: Meine Eltern waren in den achtziger Jahren aktiv im Kirchennetzwerk, das Flüchtlinge versteckte. Durch diese Geschichten habe ich viel über den Kampf und das Schicksal des kurdischen Volkes gelernt. Die Aktion planten wir, als wir über die 24-Stunden-Aktion erfuhren. Es war ein Moment von vielen Zufällen.

Wie verlief die Befreiungsaktion?

Rebeka: Etwa um halb elf kamen wir zur Blockade-Aktion. Als Ablenkungsmanöver für die Polizei und allfällige PassantInnen schmückten wir das Fenster neben der Zelle von S. mit Kerzen. Schnell machten wir uns an die Arbeit. Zuerst wurde der Wetterschenkel abgeschraubt und die Fensterleisten abgenommen. Mit einem Messer wurde der Kitt innen und aussen gelöst. Nun mussten wir nur noch sieben Schrauben, die das Fenster befestigten, lösen. Somit konnten wir das Sicherheitsglas ohne es zu beschädigen entfernen. Anschliessend konnten wir S. schon die Hand reichen. Otto nahm seine Bandscheibensäge und ein Rundstahl des Gitters wurde durchschnitten. Durch diese Lücke konnte S. in Freiheit gelangen. Wir setzten ihm eine Perücke auf, zogen ihm andere Kleider an und flüchteten ins bereitstehende Auto. Es war eine Aktion von wenigen Minuten. In diesem Moment war mir klar: du weißt nicht immer wofür du lebst, aber du weißt wofür du stirbst

Wie viele Menschen waren daran beteiligt? Was wussten die anderen Demonstranten?

Peter: Wir waren vier. Wir kennen uns durch eine Lesegruppe. Drei FreundInnen standen um uns mit einem Transparent. Die anderen DemonstrantInnen tanzten und sagen, sie bekamen von dieser Aktion nichts mit. Es war ein kleines Volksfest für die Menschenrechte.

War Polizei vor Ort? Wie hat sie sich verhalten?

Peter: Die Polizei war für kurze Zeit mit einer Streife anwesend. Doch die Beamten schienen mit der Situation überfordert und fuhren wenige Minuten nach ihrer Ankunft wieder ab. Wir wussten, dass sich im Innern zusätzlich noch zwei weitere Polizeibeamte befanden. Doch von der Aktion bekamen auch sie nichts mit.

Wie lange dauerte es, bis die Polizei etwas merkte?

Heidi: Die Polizei merkte es erst, als S. bereits befreit war und die anderen DemonstrantInnen bereits auf dem Rückweg waren. Die Polizei versuchte verschiedene TeilnehmerInnen am späteren Abend, als die Kundgebung längstens beendet war, willkürlich zu verhaften, was ihnen nicht gelang.

Mit was für Konsequenzen müssen die Befreier rechnen? Hat die Polizei schon eine Spur?

Otto: Die Polizei hat keine Spur. Wir haben mit Kopfmasken und Handschuhen gearbeitet. Die Kleidung, die Schuhe und die Werkzeuge haben wir vernichtet.

Ist Sherif in Sicherheit? Wie geht es ihm zur Zeit?

Rebeka: Er ist in Sicherheit und ihm geht es gut. Er ist sehr glücklich über die Befreiungsaktion.

Was ist bekannt über seine Aktivitäten in der Türkei?

Heidi: Wir wussten, dass er Mitglied der Hadep war. Es ist bekannt, dass ParlamentarierInnen der Hadep aus dem einzigen Grund im Gefängnis sitzen, weil sie kurdisch sprechen. Der türkische Staat ist Dauerkandidat in Sachen Menschenrechtsverletzungen, was das Beispiel der Hungerstreikenden zeigt, die gegen das Stammheim-Modell in den türkischen Knästen protestieren.

Ist er an Leib und Leben bedroht?

Heidi: S. wurde mehrmals verhaftet und gefoltert. Ihm wurde mit dem Tod gedroht. Auf diese Tatsache hat die Fremdenpolizei Basel und das BFF (Bundesamt für Flüchtlinge) mit einer menschenverachtenden Kaltschnäuzigkeit reagiert. Auf seinen Asylantrag wurde trotz Kenntnis seiner Bedrohung erst gar nicht eingegangen. Eine Rechtsbelehrung fand nicht statt. Mit der Erkenntnis, seine Ausschaffung in den Tod zu verhindern, entschieden wir uns für diese Aktion, damit er lebt.

Was würde eine Ausschaffung für ihn bedeuten?

Peter: Gemäss Artikel 5 der Menschenrechtserklärung „darf niemand der Folter oder grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden“. In der Türkei war er an Leib und Leben bedroht.

Wie geht es jetzt weiter? Wer setzt sich für ihn ein?

Otto: Im Vorfeld wurde von einem breiten Solidaritätsbündnis für AnwältInnen gesorgt. Seine Situation hat sich – vor wie nach der Aktion – nicht verändert: Er war „illegal“ und ist nach wie vor „illegal“. Schlussendlich entscheidet jedoch S. selber, welche Schritte er im Kampf um seine Rechte unternimmt und ob er sich wieder einem Kollektiv anschliessen wird. Wir unterstützen ihn und können nur ein Teil sein, im Kampf für eine Welt ohne Grenzen.

Rebeka: Es geht nicht nur um S. Wir alle sind in irgend einer Art und Weise mit Sans-Papiers konfrontiert. Diese schwammigen und willkürlichen Härtefalllösungen sind nicht die Antwort auf die prekäre Arbeits- und Lebenssituation der Papierlosen. Dies haben schon mehrere Länder mit menschlichen und grosszügigen Lösungen bewiesen.

Wusste das Kollektiv von der Befreiungsaktion? Heisst es sie gut?

Heidi: Das UnterstützerInnen-Kollektiv hat zu einer gewaltfreien Blockade-Aktion aufgerufen und hat mit der Befreiungsaktion nichts zu tun, ausser dem geschichtlich mutigen Kontext und der Freude, die sie mit uns teilen.

Müssen die Sans-Papiers jetzt mit Folgen rechnen?

Otto: Die Sans-Papiers mussten und müssen immer mit Repression rechnen. Bereits bei der ersten Kirchenbesetzung waren restriktive, repressive Schritte zu erwarten. Wir als SchweizerInnen können uns die alltäglichen Ängste einer papierlosen Person in keiner Art und Weise vorstellen. Es ist der Respekt vor ihrem Mut, der uns mutig werden liess.

Peter: Mein familiäres und kollegiales Umfeld ist eher apolitisch. Ich war erstaunt über die durchwegs positiven Reaktionen.

Was wollen die Sans-Papiers in Zukunft tun, um auf ihr Anliegen aufmerksam zu machen? Und wer unterstützt sie dabei?

Rebeka: Im Sinne von Gandhi gibt es tausende von sinnvollen, gewaltfreien, direkten Aktionen. Meines Wissens war der letzte Einbruch in ein Gefängnis in Bern 1878, anlässlich der Bümplizer Krawalle, als die „roten Hosen“ ins Gefängnis Zytglogge einbrachen und die Gefangenen befreiten. Die grosse gesamtschweizerische Demonstration Ende November zeigte, wie viele verschiedene Organisationen und Parteien den Kampf der Sans-Papiers unterstützen. Es ist wichtig, dass dies in Zukunft aktiv geschieht. Die Bewegung hat Sympathien bis weit in bürgerliche Kreise. Wir dürfen die Sans-Papiers in ihrem Kampf nicht alleine lassen. Der Kampf um Menschenrechte muss Alltag werden. Solidarität ist eine Waffe!

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