Hemd des Anstosses

Die Weltwoche: Mit traditionellen Sennenhemden wollten sich Schüler in Gossau ZH als stolze Schweizer präsentieren. Die Aktion wurde in den Medien zum Skandal hochstilisiert. Ein Besuch an der Schule zeigt, dass es  die Schüler selbst differenzierter sehen. Von Claudia Schumacher

Luan* sitzt im Klassenzimmer, während die Lehrerin vorne etwas erzählt, und er wischt auf dem Handy herum. Er ist ein bisschen missmutig. Seit letztem Freitag nervt es besonders, in die Schule zu gehen. Er schickt mir aus  dem Klassenzimmer den neusten Tratsch per Whatsapp, nachdem ich vorher auf dem Schulhof mit ihm gesprochen hatte.

Tag vier nach dem Vorfall an der Sekundarschule Berg in Gossau, der durch die Sonntagszeitung publik wurde und schweizweit eine Rassismusdiskussion losgetreten hat. Zehn Sekundarschüler der dritten Klasse kamen am Freitag, dem 11. Dezember, in Edelweisshemden an die Schule. Erst liessen sie im Aufenthaltsraum Schweizer Musik laufen. Dann setzten sie sich pünktlich in den Projektunterricht. Dort habe die Lehrerin ein Verbot ausgesprochen: Die Schüler sollten die Hemden ausziehen.

Am selben Tag wurde in St. Gallen vom Bundesgericht entschieden, dass eine Schülerin mit Kopftuch zur Schule gehen dürfe, obwohl die Schulleitung dies als integrationshinderlich eingestuft hatte. Kopftuch ist okay, aber ein Sennenhemd nicht? Klingt irgendwie verrückt.

«Morgen, Dienstag, 15.12.15: Alle Schüler von Gossau mit einem Edelweiss-Hemd zum Unterricht erscheinen. Wichtig!!!!!!!!! Für unser Vaterland die Schweiz», steht da auf dem Screenshot einer Whatsapp-Nachricht, die gestern an die ganze Klasse ging und die Luan an mich weiterleitet. Ein Schweizer Bub, Victor, hat nach dem Vorfall von letztem Freitag nun zu einer Folgeaktion aufgerufen. Luan ist Albaner. Victor ist Schweizer. Die beiden mögen sich nicht übertrieben.

Auch dem Hipster-Milieu zugehörig

Von der Sonntagszeitung über die NZZ, den Tages-Anzeiger und 20 Minuten bis hin zu Tele Züri und zum Onlineportal Watson: Alle haben über die Edelweisshemden in Gossau berichtet. Schüler wurden befragt, die Schulleitung, irgendwelche x-beliebigen Passanten in der Fussgängerzone. Warum der Zirkus? Es ist schwer zu begreifen, worin die Provokationskraft des nun national umstrittenen Edelweisshemds liegen soll.

Das Edelweisshemd ist ein Kleidungsstück, das in einer traditionsreichen Schweizer Sportart, dem Schwingsport, getragen wird. Auch Sennen tragen es. Das Edelweisshemd ist meist stofflich von guter Schweizer Qualität, wird auf lockeren Sitz geschnitten und ist – anders als etwa Hot Pants, mit denen Schülerinnen gerne im Sommer ihre Lehrer provozieren – ein sehr züchtiges Kleidungsstück.

Hat das Sennenhemd im Verlauf seines langen Lebens irgendwie eine Vereinnahmung rassistischer, rechtsextremer Kreise erfahren? Eigentlich nicht. Heutzutage sieht man auch vermehrt junge Menschen in Sennenhemden, die dem tendenziell eher linksgedrehten Hipster-Milieu zugehörig sind. Denn Schweizer Folklore wird allgemein wieder cooler. Die Jungen gehen auch einmal an ein Schwingfest. Wie kam es also zu dem Edelweisshemdenverbot an der Gossauer Schule?

Schweizer übermalten den Doppeladler

Wie immer bei Schulhofgeschichten besteht die eine Hälfte aus Fakten und die andere aus Gerüchten. Den Anfang macht ein Gerücht. Vor etwa einem Jahr, so erzählen es die Schüler, seien zwei Mitschüler mit Edelweisshemden in die Schule gekommen. Das sei bereits «irgendwie ein Vorfall» gewesen. Das Lehrpersonal hätte die Hemden nicht gerne gesehen. Oder so. Seither kursiert die Information auf dem Schulhof, es sei verboten, solche Hemden zu tragen. Was einer ziemlichen Provokation seitens der Lehrer gegenüber den Schweizer Schülern gleichkäme. Was wiederum keine gute Sache wäre, denn die fühlen sich ohnehin schon provoziert. Von anderer Seite.

An der Gossauer Schule gibt es nämlich viele Ausländer. Fragt man Schulleiter Patrick Terenzini, sagt er, er kenne die genauen Zahlen nicht. Es seien «ganz normale Verhältnisse» wie an anderen Schweizer Schulen auch. Fragt man die albanischen Schüler, sagen sie, es seien «eher mehr Ausländer» als Schweizer. Fragt man die Schweizer Kinder, ob das stimme, sagen sie: «Ich hatte das Gefühl, es sei eher ausgeglichen. So halb-halb.» Wie auch immer. Wohl mindestens die Hälfte der Schüler in Gossau hat einen Migrationshintergrund. Auch ein Blick auf den Schulhof in der grossen Pause bestätigt diese Grössenordnung.

Redet man mit den Schülern, Ausländern wie Schweizern, bekommt man zu hören, dass an der Schule seit langem Konflikte schwelen. Schweizerkreuz gegen albanischen Adler: Bei einem Kunstprojekt bemalten die Kinder die Wände. Die Albaner malten albanische Adler und die Namen ihrer Herkunftsstädte an die Wand. Über Nacht wurden diese Bilder mit Schweizerkreuzen übermalt.

«Das hat uns schon angeschissen!», sagt einer der albanischen Jugendlichen – die von den Medien bisher nicht befragt wurden. «Yes!», freuen sie sich, als sich doch mal noch eine Journalistin für sie interessiert. Einer von ihnen zeigt die Wandmalereien, die zum Politikum wurden. In Umrissen unter der Übermalung ist noch ein albanischer Adler sichtbar. Heute bestehen die Bildfelder in der dritten Bemalung: Sie sind jetzt pink, weder der Adler noch das Schweizerkreuz ist noch zu sehen. Stattdessen stehen jetzt Wörter wie «gemeinsam», «Frieden» und «Freundschaft» auf Schweizerdeutsch und Albanisch da. Eine Initiative der Lehrer.

Ein Mädchen hat die Aktion gestartet

Wie sehr die Schule dennoch in Gruppen zerfallen ist, sieht man als Besucher von aussen sofort: Grüppchenbildung. Die Albaner haben sich einen guten Platz gesichert. Sie scharen sich um eine Musikanlage, die im Aufenthaltsraum steht. Letzte Woche, als die Schüler mit den Edelweisshemden in der Pause hereinkamen, spielten die Albaner als Reaktion «Heidi» auf der Anlage. Die Schweizer Kinder assen stoisch weiter. Nach einer Weile legten die Albaner dann Balkan-Beats auf.

Haben sie eigentlich auch mal mit den Schweizern geredet, nach dem Schweizerkreuzvorfall? «Ja, schon», stellt sich Luan hin und drückt die Brust raus. «Halt auf meine Art.» Die anderen lachen. Schlägerei? «Nein, das nicht. Aber wir haben ihnen schon zu verstehen gegeben, dass wir die Aktion nicht cool fanden.» Ein kleinerer Bub aus der Gruppe  der Halbstarken erzählt, er sei daraufhin mit einem albanischen Adler auf dem Pulli in die Schule gekommen, um ein Zeichen zu setzen.

«Das war der Anstoss für die Edelweisshemden-Aktion», erzählt Victor, der auf Whatsapp zu einer Folgeaktion mit den Hemden in der zweiten Klasse aufgerufen hat. Er fand das cool, was die Drittklässler gemacht haben. «Die albanischen Schüler sind teilweise schon sehr laut im Auftreten und zeigen ihren Nationalstolz, was ja irgendwo auch zum Teil ganz okay ist», sagt er. «Aber ich finde es extrem unfair, wenn wir Schweizer Kinder das nicht auch dürfen!»

Lea, das Mädchen aus der dritten Klasse, das die Idee für die erste Edelweisshemden-Aktion vom letzten Freitag hatte, sagt, dass sie die Berichterstattung der letzten Tage aufgeregt habe. Sie möchte zwei Dinge klarstellen: «Die Lehrerin hat uns gegenüber ein Verbot der Hemden ausgesprochen.» Etwas, das in den Medienberichten der letzten Tage aufgrund einer Abwiegelung der Schulleitung «korrigiert» wurde. Sie sei vorne mit zwei Kolleginnen in Sennenhemden in der ersten Reihe gesessen. Die Lehrerin habe gefragt, was das solle. Dass man das hier nicht brauche. Sie habe gesagt, dass Edelweisshemden an der Schule nicht erwünscht seien. Sie fände es rassistisch, wie sie sich angezogen hätten. «Die Lehrerin hat uns einen rechtsextremistischen Hintergrund unterstellt», erzählt Lea. «Dabei wollten wir nur zeigen, dass wir auch stolz darauf sind, Schweizer zu sein.» Die Lehrerin habe die Schülerinnen aufgefordert, über Mittag heimzugehen und sich umzuziehen. «Mittlerweile hat sich die Lehrerin entschuldigt, und die Schüler haben die Entschuldigung angenommen», sagt sie.

«Weisse Front»

Ausserdem beteuert Lea, dass sie mit der Aktion nicht provozieren wollten und auch gar nicht konnten. «Es gab ja schon seit einem Jahr das Gerücht, dass Edelweisshemden bei uns an der Schule verboten seien», sagt sie. «Deshalb haben wir uns vorher bei einer Lehrerin erkundigt, wie das genau sei.» Die Lehrerin hätte ihnen gesagt, dass es erlaubt sei, Edelweisshemden an der Schule zu tragen. Sie seien daher umso irritierter gewesen über das Verbot der Projektunterrichtslehrerin.

Wie haben die Albaner auf die Aktion reagiert? «Naja, ich verstehe, dass die Schweizer auch stolz sind auf ihr Land», sagt eines der albanischen Kinder. «Aber es war halt eine weisse Front. Es waren gleich zehn auf einmal.» Das habe einschüchternd gewirkt.

Nachdem das harmlose Edelweisshemd in den letzten Tagen zum Politikum verkommen war, wollte an der etwas dramatisch angekündigten Edelweisshemden-Folgeaktion niemand mehr so richtig teilnehmen. Initiant Victor ist dann am Dienstag einfach alleine mit dem Weisshemd in die Schule gekommen. Ein paar der Drittklässler, die er sich zum Vorbild genommen hatte, haben ihm dazu gratuliert.