«Hau ab, du Jugo»: Was Sanija Ameti täglich zu lesen bekommt

Watson. Sanija Ameti, Co-Präsidentin der Operation Libero, veröffentlicht Hassmails, die sie regelmässig erhält. «Es ist dringend nötig, dass wir darüber sprechen», sagt Ameti zu watson. Experte Dirk Baier pflichtet dem bei: «Im Internet scheint für viele noch alles erlaubt.»

Ebenso öffentlich, wie sich die Frauen in der Politik positionieren, wird der Hass ihnen gegenüber geschürt. Dies ist auch empirisch belegbar: Studien bestätigen, dass Politikerinnen Hauptopfer von sexistischen und anderen Beleidigungen sind.

Sanija Ameti, die Co-Präsidentin von Operation Libero, findet die aktuelle Situation nicht haltbar und hat auf ihrem TwitterAccount mitgeteilt, dass sie die Hassmails nun regelmässig mit ihrer Community teilen würde.

Ameti ist nicht alleine

Verschiedenste Beispiele der jüngeren Vergangenheit zeigen, dass Ametis Erfahrung nicht ein Einzelfall, sondern die Norm ist.

Die ehemalige Winterthurer Kantonsrätin Sarah Akanji hat im Februar 2022 entschieden, nicht mehr für den Kantonsrat zu kandidieren. Nicht weil ihr die Freude an der Politik vergangen ist, sondern weil sie sich nicht mehr dem rassistischen und sexistischen Hass aussetzen wollte.

Auf nationaler Ebene wurde das Thema auch besprochen. Im Parlament wurde die Diskussion von SP-Nationalrätin Ada Marra angestossen. Marra reichte eine Motion ein und las im Parlament auch eine lange Liste an Beleidigungen und Drohungen vor, die sie selbst erhalten hat.

Anonymität als Katalysator

Es stellt sich die Frage, weshalb die Menschen im Internet so filterlos sind und andere Menschen ungehemmt beleidigen. Dirk Baier, Leiter Institut für Delinquenz und Kriminalprävention, erklärt das folgendermassen: «Es gibt mindestens zwei Erklärungsansätze: Der eine geht davon aus, dass es bestimmte Personenmerkmale sind, die Menschen zum Hassen im Netz motivieren. Etwa ein geringes Empathievermögen, geringe Selbstkontrollfähigkeiten oder politische Weltanschauungen.»

Baier schildert, dass sich diese Annahme auch empirisch bestätigen würde. So würden Männer oder politisch rechts denkende Personen häufiger im Netz beleidigen.

Er führt aus: «Der andere Ansatz fokussiert eher die Bedingungen des Internets, die Menschen auch ohne Vorliegen bestimmter Personenmerkmale zum Verfassen von Hassnachrichten antreiben – man spricht von Enthemmung. Hierzu gehört die Anonymität oder die Kommunikation in Schriftform, ohne die beleidigte Person und ihre Reaktion vor sich zu sehen.»

«Hau ab, du Jugo»

Sanija Ameti erhält täglich solche Hassmails, verfasst von Menschen, welche die Anonymität im Internet ausnutzen.

Ameti ist eine junge, erfolgreiche Frau mit Migrationshintergrund, die nicht auf den Mund gefallen ist. Diese eigentlich positiv zu bewertenden Attribute scheinen einige Menschen extrem zu triggern.

«Manchmal schreiben sie: ‹Hau ab, du Jugo.› Gelegentlich gibt es einen Parasitenvergleich. Sprüche übers Vergasen. Dann mal wieder eine Morddrohung», erklärt Ameti.

Letztens habe sie eine Nachricht bekommen, in der stand: «Die nächste Todesanzeige gilt nicht dem Rahmenabkommen.» Ameti schmunzelt: «Das ist schon fast poetisch, was sich die Leute da einfallen lassen. Aber es ist immer noch eine Morddrohung.»

Ameti scheint das Ganze gelassen zu nehmen, doch das Thema ist bitterernst. Auf die Frage hin, was solche Nachrichten mit einem machen, antwortet Ameti: «Na ja, ich wusste das schon vor meinem Amtsantritt als Co-Präsidentin. Unter uns Politikerinnen sagt man: ‹It’s part of the job description.›»

«Du wirst als Frau ohnehin viel Hass abbekommen. Und dein Migrationshintergrund und dein muslimischer Hintergrund werden dich noch mehr zur Zielscheibe machen», habe es immer wieder geheissen, erklärt Ameti.

Tatsächlich folgte der Hass. Jetzt hat sich Ameti zum Ziel gesetzt, diesen zu thematisieren: «Ich lasse diese Nachrichten nicht an mich ran. Das ändert aber nichts daran, dass es falsch ist, dass diese Menschen das schreiben.»

Hass mit System

Sie führt aus: «Politikerinnen grundsätzlich, und vor allem die mit migrantischem Hintergrund, sind davon betroffen. Deshalb ist es dringend nötig, dass wir darüber sprechen. Unsere Gesellschaft muss dieses Kulturproblem zusammen angehen.»

Dirk Baier sieht das Problem ähnlich. Auf die Frage hin, ob Frauen, die sich öffentlich stark positionieren, mehr triggern würden als andere Personen, antwortet er: «Ja, das ist in jedem Fall so, unabhängig davon, ob wir über Politikerinnen, Journalistinnen oder Wissenschaftlerinnen sprechen. Wenn sich Frauen öffentlich pointiert zu Wort melden, müssen Sie mit verbalen Angriffen rechnen, insbesondere durch konservativ denkende Männer, die mit diesem Zeichen der Emanzipation nicht umgehen können.»

«Das ist ein systemisches Problem. Wir Politikerinnen sind diesem Hass täglich ausgesetzt. Es kann und darf nicht sein, dass talentierte Frauen wie Sarah Akanji ihre Karriere an den Nagel hängen, weil sie das nicht mehr aushalten. Dieser Fall hat mich zum Nachdenken gebracht. Deshalb möchte ich nun endlich Veränderungen anregen», hält Sanija Ameti fest.

Man könnte meinen, dass Ameti oft kritisiert wird, weil sie Aussagen macht, welche die Gemüter verstimmen können. Jüngstes Beispiel: Ihren Auftritt im «Club». Während dieses Auftritts sagte Ameti, dass sie sich wohl weder Rösti noch Vogt politisch schöntrinken könnte.

Für solch polemische Aussagen würden wohl auch männliche Politiker Kritik ernten. Doch Ameti erklärt: «Ich habe schon Hassnachrichten bekommen, bevor ich mich öffentlich jemals kontrovers positioniert habe. Meine blosse Existenz scheint gewisse Menschen zu triggern.»

Der Hass gegen starke Frauen – laut Ameti ein systemisches Problem. Das Kollektiv betrachtet die Situation von aussen und unternimmt scheinbar wenig dagegen. Ist die Gesellschaft mittlerweile abgestumpft und toleriert solche Anfeindungen?

Baier hat dazu eine bestimmte Haltung: «Nein, die Gesellschaft ist sensibilisiert, sonst würden wir nicht über das Thema reden. Und es wäre keine Berichterstattung wert, dass Frau Ameti 100 Hassnachrichten pro Tag bekommt. Das ist ein absolut unhaltbarer Zustand. Frau Ameti muss, wenn sie sich im öffentlichen Raum bewegt, sicherlich nicht mit 100 Beleidigungen rechnen; im Internet scheint für viele aber noch alles erlaubt.»

«Die Gesellschaft ist nicht abgestumpft. Sie sucht aber nach einigen Jahren der Erfahrung mit dem Internet und den sozialen Medien immer noch nach Lösungsansätzen, wie dieser Bereich zu regeln ist. Genauso, wie wir das Leben jenseits des Netzes gut geregelt haben, weil dort Gewalt und Aggressionen eher zurückgehen», präzisiert Baier.

Er findet es richtig und wichtig, dass dieses Fehlverhalten gewisser Personen thematisiert wird: «Ich hoffe, dass die Diskussionen, die wir derzeit über das Thema führen, auch einen Beitrag zu Lösungsansätzen für eine Regulierung leisten können.»