«Die Situation der Juden in der Schweiz ist ernst»

Neue Zürcher Zeitung. Antisemitische Vorfälle häufen sich – auch in der Schweiz. Herbert Winter, der Präsident des Israelitischen Gemeindebundes (SIG), erklärt, wie sich der Hass auf Juden äussert, wo legitime Kritik an Israel endet und warum die orthodoxe Parallelgesellschaft kein Problem ist.

Interview.

Herr Winter, im Zusammenhang mit dem Schweizer Erfolgsfilm «Wolkenbruch» wird derzeit diskutiert, ob Nichtjuden über Juden lachen dürfen. Dürfen wir?

Natürlich darf man über und besonders mit Juden lachen, wenn es sich um eine lustige Situation handelt oder um den berühmten jüdischen Humor. Juden machen gerne und oft Witze über sich selber. Nicht okay ist es, wenn bösartige und diffamierende Stereotypen verwendet werden und man sich darüber lustig macht.

Laut «Wolkenbruch»-Autor Thomas Meyer klingt der typisch schweizerische Antisemitismus vermeintlich positiv: «Aha, du bist Jude, deshalb bist du so witzig.» Würden Sie dem zustimmen?

Es gibt sicher auch positiv besetzte Klischees, wie «Juden sind witzig» oder «Juden sind intelligent». Ich warne aber davor, Menschengruppen pauschal zu klassifizieren.

Gibt es denn eine schweizerische Spielart des Antisemitismus?

Die jüdischen Stereotype, die es in der Schweizer Mehrheitsgesellschaft gibt, existieren genauso im Ausland – etwa jenes des Geschäftemachers. Ich habe es im Berufsleben häufig erlebt, dass man hinter dem Rücken über jüdische Geschäftspartner hergezogen ist.

Sie waren soeben am Vorstandstreffen des European Jewish Congress in Wien. Inwiefern unterscheidet sich die Situation der Juden in anderen Ländern von jener in der Schweiz?

Gravierend ist die Lage in Frankreich, wo es täglich zu Übergriffen und Beschimpfungen gegen Juden kommt. Auch die englischen Juden sind besorgt, nicht zuletzt wegen problematischer Äusserungen von Labour-Chef Jeremy Corbyn. In deutschen Städten wie Berlin wurden in den letzten Monaten diverse antisemitisch motivierte Taten verzeichnet. In der Schweiz ist die Lage glücklicherweise weniger bedrohlich.

Laut dem Antisemitismusbericht des SIG für das Jahr 2017 kommt es aber auch hierzulande häufiger zu antisemitischen Vorfällen. Der Nachrichtendienst des Bundes spricht von einer Lage der akuten Bedrohung für Juden.

Die Situation ist ernst, aber nicht dramatisch. Die Anzahl von Vorfällen, von denen wir Kenntnis haben, bleibt einigermassen stabil – wobei die Dunkelziffer natürlich gross ist. Nicht jeder Jude, der auf der Strasse beschimpft wird, meldet uns das. Sorge bereitet uns vor allem, was wir in den sozialen Netzwerken beobachten. Dort tauchen Drohungen auf wie «Wir brauchen einen neuen Hitler». Früher wurden solche Aussagen anonym gemacht. Mittlerweile haben die Personen, die antisemitische Parolen verbreiten, kaum mehr Skrupel, mit dem richtigen Namen hinzustehen. Ganz nach dem Motto: «Das wird man ja wohl noch sagen dürfen!»

Kann man in der Schweiz noch mit Kippa auf die Strasse?

Ja. Aber es gibt Eltern, die ihre Kinder lieber mit Baseball-Mütze aus dem Haus schicken. Das war vor zehn Jahren noch überhaupt kein Thema. Die Schweiz ist zwar keine Insel der Glückseligkeit, aber zumindest ein eher sichereres Pflaster für Juden. Viele Juden hierzulande machen sich besonders wegen der Nachrichten aus dem Ausland Sorgen.

Antisemitismus scheint im Alltag verbreitet zu sein. So werden etwa Spieler des jüdischen Fussballklubs Hakoah Zürich regelmässig von den Gegnern beschimpft – etwa, dass die Juden den Schiedsrichter gekauft hätten.

Ja, das war schon so, als ich als Jugendlicher für den FC Hakoah gespielt habe. Es handelt sich um den Antisemitismus in der Mitte der Gesellschaft, den es schon seit Jahrtausenden gibt. Ich bleibe daher unaufgeregt, nehme solche Fälle aber ernst. Diese zeigen, dass wir wachsam bleiben müssen.

Der Bundesrat hat nach lauter Kritik im Sommer eingewilligt, künftig einen Teil der Sicherheitskosten jüdischer Einrichtungen zu übernehmen. Ist dieses Problem nun gelöst?

Nein, es gibt noch grossen Handlungsbedarf. Der Bundesrat erlässt nächstes Jahr eine Verordnung, dank der bis zu 500 000 Franken an «bedrohte Minderheiten» fliessen werden. Die Landesregierung erwartet, dass die Kantone mitziehen. Das erwarten auch wir. Es ist ein guter erster Schritt. Wenigstens heisst es nun nicht mehr, wir sollen – wie beispielsweise die Fussballklubs – selber für unsere Sicherheit aufkommen. Die jüdischen Gemeinden mussten schon vor Jahrzehnten und bis heute Massnahmen zu ihrem Schutz treffen. Das ist eine grosse Belastung.

Es heisst, dass sich manche Schweizer Juden einen Plan B zurechtlegen für den Fall, dass sich die Zustände hier verschlechtern. Wie verbreitet ist dieses Phänomen?

Ich kenne niemanden, der aufgrund der Sicherheitslage solche Pläne hat – anders als in Frankreich oder Grossbritannien. Es gibt hierzulande Holocaustüberlebende und ihre Nachfahren, die meinen, wir seien bald wieder so weit wie 1933. Das sehe ich anders. Wir haben in Europa staatliche Ordnungen, die völlig anders gelagert sind als damals. Manche Juden fragen sich allenfalls, ob sie in der Schweiz noch willkommen seien. Etwa, wenn wieder einmal Diskussionen über den Import von Koscherfleisch oder die Knaben-Beschneidung aufkommen. Aber die grosse Mehrheit der Schweizer Juden hat wenig Lust auszuwandern. Jene, die nach Israel gehen, tun dies aus sehr unterschiedlichen Gründen. Weil sie ihr Jüdischsein offen ausleben wollen, weil sie Chancen in einem prosperierenden Wirtschaftsumfeld sehen oder weil sie Israel schlicht ein schönes Land finden.

Und Sie sehen keine Anzeichen dafür, dass es eine Entwicklung wie in Frankreich geben könnte?

Sollte es in der Schweiz jemals einen Terroranschlag geben, dann könnte die Stimmung leicht kippen.

Ist die islamistische Form der Judenfeindlichkeit derzeit am gefährlichsten?

Im Moment wahrscheinlich schon. Aber der Anschlag auf die Synagoge in Pittsburgh zeigt, dass der rechtsextreme Antisemitismus akut und gefährlich bleibt. So etwas wäre auch in Europa möglich.

Besteht bei den Juden die Tendenz, aus politischer Korrektheit heraus die Gefährdung durch Islamisten kleinzureden?

Nein, das glaube ich nicht. Gerade in den sozialen Netzwerken sehen wir viele Hasskommentare mit Namen, die auf muslimische Wurzeln hindeuten. Aber wir sollten auch hier nicht übertreiben, Panik schüren und alle Muslime in einen Topf werfen. Bisher haben wir in der Schweiz auch keine Hinweise darauf, dass sich wegen der Flüchtlinge eine islamistische Gefährdung ergibt.

Wo hört die legitime Kritik an der Politik Israels auf, und wo beginnt der Antisemitismus?

Problematisch wird es, wenn man an Israel andere Massstäbe anlegt als an sonstige Länder. Eindeutig antisemitisch sind für mich Aussagen wie «Israel ist ein Nazi-Staat» oder «Gaza ist ein Konzentrationslager».

Diese Art der Israelkritik kommt meist von links …

… ja, es gab und gibt immer noch Exponenten, deren Aussagen wir als sehr kritisch einstufen – Namen möchte ich keine nennen. Das hat sich in letzter Zeit aber gebessert. Auch in den Medien ist der Ton gemässigter geworden. Man hat wohl eingesehen, dass Israel nicht der Alleinschuldige in diesem Konflikt ist. Dass Europa seit einiger Zeit selber mit dem Jihadismus konfrontiert ist, hat das Verständnis für die komplizierte Situation im Nahen Osten erhöht.

Als Sie in den 1990er Jahren die Ansprüche von Holocaust-Hinterbliebenen gegenüber den Schweizer Banken verteidigten, äusserten sich insbesondere rechte Politiker an der Grenze des Antisemitismus.

Das hat mich schockiert. Christoph Blocher sagte in einer Rede, es gehe den Juden nur ums Geld. Und Jean-Pascal Delamuraz klagte als Bundesrat öffentlich über eine «Lösegeld-Erpressung». Dabei waren die Reaktionen der Schweizer Bevölkerung zunächst positiv gewesen. Die Banken standen ja auch zu Recht in der Kritik. Erst als die amerikanischen Opferanwälte etwas ruppig einfuhren, kippte die Stimmung. Aber das ist lange her, und die Situation hat sich beruhigt.

In rechten Kreisen kursieren heute dafür wilde Theorien um die Einflussnahme des jüdischen Milliardärs George Soros, etwa auf Operation Libero. Auch «Weltwoche»-Chef Roger Köppel verbreitet sie.

Die Geschichte um Soros ist eine typische antisemitische Verschwörungstheorie. Der internationalistische, reiche Jude, der angeblich die Nationalstaaten zersetzen will: Das kennen wir von den berüchtigten Protokollen der Weisen von Zion. So macht Viktor Orban heute in Ungarn Politik. Wieso die «Weltwoche» einen solchen Unsinn publiziert, weiss ich nicht.

Im Gegensatz zu einigen Rechtsaussenparteien im Ausland fällt die SVP in der Regel kaum durch Antisemitismus auf.

Dem stimme ich zu. Sie politisiert aber laut und zugespitzt, zuweilen zu populistisch, was rassistischen Einstellungen Vorschub leisten kann. Manchen Positionen stehe ich sehr kritisch gegenüber und halte sie nicht für hilfreich. In der SVP finden sich viele Unterstützer Israels. Bei einigen ist jedoch der Grund dafür wohl eher darin zu suchen, dass sie Israel als Bollwerk gegen den Islam sehen.

Teile der Bevölkerung fürchten sich vor einer muslimischen Parallelgesellschaft. Trifft dieser Vorwurf nicht auch auf die orthodoxen Juden zu?

Es gibt zweifellos strenggläubige jüdische Parallelgesellschaften in Zürich, Basel oder Genf. Für mich ist die zentrale Frage: Sind sie bei uns integriert? Die sogenannt Ultraorthodoxen, die hier leben, sorgen für sich, sie sprechen Schweizerdeutsch, und sie lehnen vor allem den Schweizer Staat nicht ab. Damit unterscheiden sie sich zum Beispiel von islamischen Parallelgesellschaften, die eine Scharia-Gesetzgebung wollen.

Bezüglich der gesellschaftlichen Stellung der Frau gibt es kaum Unterschiede zum Islam. Auch Ultraorthodoxe verweigern Frauen den Handschlag.

Persönlich halte ich eine moderate gesellschaftliche Liberalisierung in den ultraorthodoxen Gemeinschaften für wünschenswert. Solange sich diese an die staatlichen Vorgaben halten, sehe ich das indes entspannt. Aber klar ist, dass sich auch die Juden berechtigte kritische Fragen gefallen lassen müssen.

Zum Beispiel, wieso viele Ultraorthodoxe Sozialhilfe beziehen?

Die meisten Ultraorthodoxen haben sehr kinderreiche Familien, und manche sind einkommensschwach, auch weil der Mann sehr viel Zeit in religiöse Studien investiert. Wir sollten das Judentum aber nicht auf eine Gruppe reduzieren. Das Spektrum der jüdischen Menschen in der Schweiz reicht heute von Strengreligiösen bis zu Atheisten, von Linken bis Rechten. Aber sie teilen alle eine jüdische Identität.

Sie versuchen, den Antisemitismus durch interreligiösen Dialog einzudämmen. Funktioniert das?

Der institutionalisierte Austausch ist sehr angenehm und offen. Bei der Bevölkerung, auf der Strasse, bei der Arbeit und in der Schule kommt er aber leider nicht an. Wir müssen das Verständnis weiter fördern, gerade bei den Jugendlichen. In unserem Programm Likrat erklären junge Juden in Schulklassen ihre Religion und Kultur. Und natürlich muss der Holocaust im Unterricht thematisiert werden.

Am eindrücklichsten sind die Schilderungen von Zeitzeugen. Was bedeutet es für die Erinnerungskultur, wenn keine Holocaust-Überlebenden mehr da sind?

Es gibt den sachlichen Zugang zu diesem Thema, und der bleibt bestehen. Aber Sie haben natürlich recht: Der menschlich-emotionale Zugang ist viel nachhaltiger. Deshalb ist es wichtig, dass mit den Überlebenden noch Film- und Tonaufnahmen gemacht werden, die später gezeigt werden können. Die Erinnerung an die Shoah ist für die ganze Gesellschaft von grosser Bedeutung.