«Die rechtsextreme Szene ist im Aufbruch»

Berner Zeitung.

Auch in der Schweiz werden gewaltbereite Rechtsextreme immer aktiver. Steigt die Gefahr von Rechtsterror?

Der Terroranschlag auf zwei Moscheen in Christchurch im letzten März inspirierte offensichtlich Rechtsextreme in der Schweiz. Wenige Tage nach dem Massaker mit 51 Toten formierte sich auf Facebook eine Geheimgruppe, die Mordfantasien gegen Juden, Schwarze und Muslime äusserte. «Sobald mir formiert sind, wärde mr schweiz weit Terror verbreite», hiess es in den Chats. «Mir rotten alles us.» Der «SonntagsBlick» enthüllte die mutmasslichen Anschlagspläne der Neonazi-Gruppe White Resistance. Mehrere Schweizer Rechtsextreme wurden vorübergehend festgenommen.

Der White-Resistance-Fall fügt sich ein in einen beunruhigenden weltweiten Trend: Gewaltbereite Rechtsextreme werden immer aktiver, und die Gefahr von Rechtsterror steigt. Auch in der Schweiz ist erhöhte Wachsamkeit erforderlich. «Die Schweizer rechtsextreme Szene ist im Aufbruch», heisst es im neuesten, letzten Mai veröffentlichten Lagebericht «Sicherheit Schweiz 2019» des Nachrichtendienstes des Bundes (NDB) .

53 rechtsextreme Ereignisse 2018

Der NDB verzeichnete im vergangenen Jahr 53 rechtsextrem motivierte Ereignisse, also dreimal mehr als im Vorjahr. Ereignisse können Veranstaltungen wie Debattenabende und Rockkonzerte sein oder auch gewaltsame Geschehnisse wie Angriffe auf Personen und Sachbeschädigungen. Ob sich die aktiver gewordene rechtsextreme Szene in der Schweiz auch in Richtung konkrete Gewaltanwendung bewegt, «bleibt vorderhand unklar», schreibt der Nachrichtendienst. Zumindest 2018 habe es keine Gewalttaten gegeben.

Bei der letzten von rechtsextremer Seite ausgehenden Gewalttat, die der NDB registrierte, handelt es sich um einen Messerangriff unter Alkoholeinfluss auf eine Person mit anderer politischer Auffassung im Dezember 2017 im Tessin. Zwei Gewalttaten waren 2016 registriert worden; 2015 waren es 12 gewesen, darunter ein Brandanschlag auf ein Durchgangszentrum für Asylsuchende in Thun BE.

Die Zahl rechtsextrem motivierter Ereignisse lag zuletzt 2011 auf dem Niveau des letzten Jahres. Damals registrierte der NDB 51 Meldungen, 18 davon waren gewaltsame Ereignisse. Laut Schätzungen des NDB gibt es in der Schweiz rund 350 gewaltbereite Rechtsextreme. Es ist jedoch mit einer grossen Dunkelziffer zu rechnen. Im Lagebericht 2014 hatte der NDB geschätzt, dass 900 bis 1000 Rechtsextreme gewaltbereit sind.

Waffenlager und Schiesstrainings

Gemäss dem NDB-Bericht 2019 verfügen die Rechtsextremen in der Schweiz über grössere Mengen funktionstüchtiger Waffen. Sie machen Schiesstrainings und trainieren Kampfsportarten. Teilweise sind die Neonazi-Gruppierungen international sehr gut vernetzt. Insgesamt sind die Rechtsextremen sichtbarer geworden. Mehrere Gruppierungen betreiben mittlerweile offene Webseiten. Eine Gruppe eröffnete in der Waadt sogar ein eigenes Vereinslokal. Hier finden Podiumsdiskussionen und andere Anlässe statt, zu denen auch ein allgemeines Publikum Zutritt hat.

«Offenkundig rechnen sich diese Gruppierungen Chancen aus, mit ihren Ideen und Aktionen bei breiteren Kreisen Zustimmung zu finden», schreibt der NDB im Lagebericht. «Die Wirkung öffentlicher Auftritte wird im Voraus abgewägt. Und nach wie vor verhält sich die rechtsextreme Szene konspirativ, gerade wenn es um die Planung von Aktionen geht.» Dazu bestehe auch Grund. So habe im Wallis ein Veranstalter wegen der öffentlichen Reaktionen das Konzert einer als rechtsextrem geltenden Band absagen müssen. Nazi-Rockkonzerte soll es 2018 nicht gegeben haben.

Für die Zukunft erwartet der Nachrichtendienst, dass sich die rechtsextreme Szene wieder stärker ins Private zurückzieht, weil die Reaktionen auf sie mit öffentlichen Auftritten zunehmen werden. «Gewaltsame Frustreaktionen sind dabei möglich», heisst es im Bericht. «Das Gewaltpotenzial könnte sich in dem Moment realisieren, in dem die Szene einen Anknüpfungspunkt in der Tagesaktualität sieht.» Im White-Resistance-Fall war es der Anschlag von Christchurch, der eine Gruppe Schweizer Rechtsextremer möglicherweise zu einer Nachahmertat inspiriert hat.

Verbindungen zu Blood & Honour/C18

Der NDB nennt in seinem Lagebericht keine Namen von rechtsextremen Gruppierungen. Das macht hingegen das Informationsportal der antifaschistischen Aktion Schweiz. Demnach ist die Résistance Helvétique eine der aktuell aktivsten, sehr öffentlich agierenden Gruppierungen der rechtsextremen Szene in der welschen Schweiz. Die Antifa-Aktion weist insbesondere auch auf die Kameradschaft Heimattreu hin. Sie sieht Verbindungen zwischen dieser Neonazi-Gruppierung und der aufsehenerregenden Ku-Klux-Klan-Aktion an der letzten Schwyzer Fasnacht. Die Kameradschaft Heimattreu, deren Mitglieder grösstenteils aus der Region March (SZ) stammen, gilt offiziell als Unterstützungsgruppe des internationalen Neonazi-Netzwerks Blood & Honour/C18.

Nach Einschätzung der Antifa-Aktion ist die Schweiz ein Paradies für rechtsextreme Gruppen und Strukturen. «Die Schweiz wird durch die lasche Gesetzgebung von rechtextremen Organisationen aus dem Ausland als Veranstaltungsort und Treffpunkt geschätzt, die funktionierenden Strukturen vor Ort werden durch namhafte Grössen gelobt.» Ist die Organisation Blood & Honour in Deutschland seit dem Jahr 2000 verboten, «wurde die Schweizer Sektion mittlerweile zu einem der wichtigsten Standbeine des Netzwerkes».

Zunahme antisemitischer Vorfälle

Mit dem Rechtsextremismus eng verbunden ist der Antisemitismus. Allerdings kommt der Antisemitismus nicht nur aus rechtsradikalen, sondern auch aus linksextremen, muslimischen und anderen Kreisen. Wie es der internationalen Entwicklung entspricht, haben sich antisemitische Vorfälle auch in der Schweiz gehäuft. Fakten und Zahlen sowie Beispiele und Erklärungen zum Antisemitismus liefert der alljährliche Antisemitismusbericht des Israelitischen Gemeindebundes (SIG) in der Schweiz.

Der Antisemitismusbericht 2018 weist 577 Vorfälle aus, bei denen es hauptsächlich um Aussagen geht. «Besonders beunruhigend ist das Ausmass an antisemitischen Vorfällen im Internet», heisst es im Bericht. Dabei wird die Befürchtung geäussert, dass verbale Drohungen im Internet in körperliche Gewalt in der realen Welt umschlagen könnten. Der Schweizer Nachrichtendienst spricht von einer Lage der akuten Bedrohung für Juden.

Mehr Schutz für Juden und Muslime

Der Bund will nun jüdische, aber auch muslimische Gemeinschaften besser schützen. Er beteiligt sich künftig mit bis zu 500’000 Franken pro Jahr an den Sicherheitskosten für Bevölkerungsgruppen, die besonders gefährdet sind, ein Ziel von Anschlägen zu werden. Der Bundesrat hat die entsprechende Verordnung verabschiedet, wie er heute mitteilte. Möglich sind finanzielle Hilfen für bauliche, technische und organisatorische Sicherheitsmassnahmen. Nicht möglich ist hingegen eine Beteiligung des Bundes an den Kosten von Sicherheitspersonal.