Die meisten Schweizer verurteilen Rassismus – doch Stereotype sind weitverbreitet

Der Bund. Welche Folgen hat Fremdenfeindlichkeit? Was denken die Menschen über Juden, Muslime und Schwarze? Antworten auf solche Fragen liefert eine neue Analyse zum Zusammenleben in der Schweiz.

Wer nur die Überschrift liest, geht von einem durch und durch erfreulichen Ergebnis aus: «Die Bevölkerung ist gegenüber Diversität mehrheitlich offen – mit individuellen und regionalen Unterschieden», heisst es im Fazit einer neuen Analyse des Bundesamtes für Statistik (BFS). Es hat sich die Erhebungen zum Zusammenleben in der Schweiz zwischen 2016 und 2020 genauer angeschaut und kommt zum Schluss, dass eine Mehrheit rassistische Einstellungen ablehnt.

Alles gut also? So einfach ist es nicht. Ein genauerer Blick in die Ergebnisse lohnt sich. Denn die Resultate lassen sich auf zwei Arten interpretieren: Ja, eine Mehrheit ist gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit. Auf der anderen Seite ist der Anteil derjenigen mit negativer Haltung gegenüber als «anders» wahrgenommenen Menschen aber auch ziemlich gross.

Fremdenfeindliche Haltungen sind nicht für alle ein Tabu

Rassismus, also die Geringschätzung bestimmter Personen oder Gruppen aufgrund biologischer oder kultureller Merkmale, wird in der Schweiz von einer Mehrheit verurteilt. 69 Prozent der Bevölkerung sind klar gegen rassistische Einstellungen, 19 Prozent zeigen eine moderate Ablehnung. Zustimmung gibt es kaum, und sie hat in den letzten Jahren weiter abgenommen, wie die Analyse zeigt.

Um rassistische Einstellungen zu messen, mussten die Teilnehmenden an den Erhebungen angeben, ob sie sich im Alltag, in der Nachbarschaft oder bei der Arbeit von Menschen gestört fühlen, die eine andere Hautfarbe, Sprache, Religion oder Staatsangehörigkeit haben. Auf einer Skala von 1 (überhaupt nicht störend) bis 4 (sehr störend) liegen die Antworten im Mittel bei 1,4.

Weniger gut sieht es bei der Fremdenfeindlichkeit aus. Damit ist eine negative Haltung gegenüber Ausländerinnen und Ausländern gemeint. Zwar wird auch eine solche mehrheitlich abgelehnt, aber weniger deutlich. Zudem ist der Anteil der Menschen, die fremdenfeindlichen Einstellungen zumindest teilweise zustimmen, grösser als beim Rassismus.

Auf einer Skala von 1 (nicht einverstanden mit fremdenfeindlichen Einstellungen) bis 4 (einverstanden damit) haben immerhin 23 Prozent der Bevölkerung einen Durchschnittswert über 2,5. Und 8 Prozent davon zeigen klare Tendenzen zu Fremdenfeindlichkeit. Diese Menschen fühlen sich wegen Ausländern zum Beispiel nicht mehr sicher auf der Strasse. Oder sie sind der Meinung, dass Ausländer das System der Sozialleistungen missbrauchen und verantwortlich sind für eine Zunahme der Arbeitslosigkeit.

Stereotype sind bei vielen verankert

Auch Einstellungen gegenüber bestimmten Personengruppen wurden erhoben, etwa die Haltung zu Musliminnen und Muslimen. Mit extremen Forderungen wie einem Verbot der Religionsausübung für diese in der Schweiz können die meisten nichts anfangen. Immerhin 12 Prozent der Bevölkerung stimmen solchen feindseligen Einstellungen aber eher oder ganz zu.

Noch grösser ist der Anteil derjenigen, die mit negativen Stereotypen einverstanden sind. Etwa mit der Aussage, dass Muslime fanatisch und aggressiv seien und Frauen unterdrücken würden. 34 Prozent tendieren stark zu solchen Vorurteilen. Ein Drittel der Bevölkerung schreibt Personen muslimischen Glaubens solche Eigenschaften also generell zu.

Wichtig ist hier die Feststellung, dass sich negative Einstellungen überwiegend auf den Islam als Religion beziehen und weniger auf die Personen oder Gruppen, die ihm zugeordnet werden. Auf der Skala von 1 (dieser Stereotyp trifft kaum zu) bis 6 (dieser Stereotyp trifft vollständig zu) liegt der Mittelwert bei 3,5, also genau in der Mitte.

Ein bisschen besser, aber auch nicht wirklich gut sieht es bei der Haltung zu schwarzen Personen aus. Hier liegt der Mittelwert bei 3,1. Negativen Stereotypen im Zusammenhang mit der Hautfarbe stimmen 20 Prozent der Bevölkerung zu.

Jede(r) Fünfte ist also der Meinung, dass Schwarze gewalttätig, nicht sehr arbeitswillig oder nur auf ihren eigenen Vorteil aus seien. Solche Stereotype sind eine besondere Form der negativen Einstellung, die weniger stark ist als Feindseligkeit. Extreme Positionen wie etwa die Meinung, dass Heiraten zwischen Schwarzen und Weissen nicht gut seien, finden weniger Zuspruch.

Auch mit der Behauptung, dass Juden in der Schweiz zu viel Einfluss hätten, und mit anderen feindseligen Einstellungen können die meisten nichts anfangen. Trotzdem sind auch hier negative Stereotype weitverbreitet, etwa dass Juden geldgierig und machthungrig seien. Der Mittelwert beträgt 3,6 auf der Skala.

Von allen drei betrachteten Personengruppen sind die Jüdinnen und Juden am stärksten mit negativen Haltungen konfrontiert. 39 Prozent der Bevölkerung geben einen Wert zwischen 4 (eher starke Stereotype) und 6 (starke Stereotype) an und stimmen den vorgeschlagenen Aussagen über Personen jüdischen Glaubens somit stark zu.

Ein Drittel hat schon Diskriminierung oder Gewalt erfahren

Dass ein Teil der Bevölkerung fremdenfeindliche Ansichten vertritt und Stereotype weitverbreitet sind, bleibt nicht ohne Folgen. 32 Prozent der Befragten waren eigenen Angaben zufolge mindestens einmal in den letzten fünf Jahren Diskriminierung oder Gewalt ausgesetzt. Und die meisten Opfer führen das auf ihre Staatsangehörigkeit oder ihre Sprache zurück. Auch Religion, Hautfarbe und ethnische Herkunft sind viel genannte Diskriminierungsgründe.

Am häufigsten geschehen solche Vorfälle in der Arbeitswelt. Mehr als die Hälfte der Befragten gab an, in ihrem Arbeitsumfeld beziehungsweise bei der Stellensuche diskriminiert worden zu sein. Auch der öffentliche Raum wird von zahlreichen Opfern erwähnt. Zu Diskriminierung kommt es unter anderem aber auch bei der Wohnungssuche, im Kontakt mit der Polizei und auf sozialen Medien.

Auch viele Linke zeigen fremdenfeindliche Tendenzen

Aber was ist mit den «individuellen Unterschieden», die es laut dem BFS gibt? Die meisten Erkenntnisse diesbezüglich sind wenig überraschend. Der wichtigste Faktor bei den Einstellungen gegenüber Diversität ist die politische Orientierung. Personen im rechten Spektrum sind deutlich negativer eingestellt als solche in der politischen Mitte und im linken Spektrum.

Erstaunlich ist aber, dass auch 20 Prozent der linksorientierten Personen mit Ja antworten, wenn sie gefragt werden, ob sie sich durch als «anders» wahrgenommene Menschen gestört fühlten. Hier gab es keine Abstufung der Antworten, keine Skala. Nur Ja oder Nein.

Ein Drittel der Personen in der politischen Mitte fühlt sich im Alltag, in der Nachbarschaft oder bei der Arbeit in irgendeiner Form von Personen mit einer anderen Sprache, Religion, Staatsangehörigkeit oder Hautfarbe gestört. Bei Personen, die sich als rechts bezeichnen, ist dieser Anteil fast doppelt so gross.

Die Einstellungen gegenüber der ausländischen Wohnbevölkerung in der Schweiz variieren ebenfalls stark nach politischer Ausrichtung. Beispielsweise finden 67 Prozent der rechtsorientierten Personen, dass Ausländer das schweizerische System der Sozialleistungen missbrauchen, gegenüber 18 Prozent im linken Spektrum. Das heisst aber auch, dass fast jede fünfte Person im linken Spektrum diese fremdenfeindliche Haltung vertritt.

Neben der politische Orientierung spielen auch die Nationalität und der Migrationsstatus eine Rolle. Grundsätzlich sind rassistische und fremdenfeindliche Einstellungen bei Personen mit Schweizer Pass und solchen ohne Migrationshintergrund stärker ausgeprägt. Die Lebensbedingungen, also die finanzielle Situation, spielen kaum eine Rolle. Dasselbe gilt für das Bildungsniveau.

Die Deutschschweizer sind rassistischer als die Romands und die Tessiner

Die angesprochenen «regionalen Unterschiede» zeigen sich auf drei Ebenen: bei den Grossregionen, den Sprachregionen und beim Urbanisierungsgrad. Letzteres ist am wenigsten überraschend. Die Bevölkerung von dicht besiedelten Gebieten zeigt sich in der Regel offener als jene von weniger dicht besiedelten. Ein Stadt-Land-Graben lässt sich daraus nicht einfach so ableiten. Eine Erkenntnis ist aber, dass Menschen in urbanen Zentren mehr Kontakt zu zugewanderten Personen haben und deshalb auch offener gegenüber ihnen sind.

Bei den Unterschieden nach Grossregionen sind keine klaren Muster erkennbar. Mehr Rechte für ausländische Personen (Familiennachzug, automatische Einbürgerung, politische Partizipation) werden vor allem in der Zentral- und der Ostschweiz abgelehnt. Auch negative Einstellungen finden dort mehr Zuspruch als beispielsweise in der international geprägten Genferseeregion.

Grundsätzlich sind fremdenfeindliche und rassistische Haltungen in der Deutschschweiz stärker verankert als in den andere Sprachregionen. So fühlen sich in der Deutsch- und der rätoromanischen Schweiz 37 Prozent der Bevölkerung von Personen mit anderer Staatsangehörigkeit, Religion, Sprache oder Hautfarbe gestört. In der französisch- und der italienischsprachigen Schweiz sind es je 24 Prozent. Rassismus ist also kein Randphänomen.

Deutschschweizerinnen und Deutschschweizer sind auch häufiger der Ansicht, dass Ausländer das System der Sozialleistungen missbrauchen und dass sie in der Schule die Ausbildung der Schweizer Kinder beeinträchtigen. Jede(r) Vierte fühlt sich wegen Ausländern fremd in der Schweiz und auf der Strasse unsicher.

Ganz so positiv, wie die Lage auf den ersten Blick schien, ist sie also nicht. Hierzulande leben Menschen mit über 190 verschiedenen Nationalitäten. Nebst den vier Landessprachen wird knapp ein Dutzend weitere Sprachen häufig verwendet. Es gibt zahlreiche Religionsgemeinschaften. Diese Vielfalt ist nicht nur eine Bereicherung, sondern auch eine Herausforderung für die Gesellschaft.