Demo-Aktivisten klagen Polizei an

Der Bund

Pressekonferenz in Reitschule vor Antifa-Abendspaziergang: Berns Polizei gehe «beim geringsten Anlass» hart vor

Zwei Tage vor dem 5. Antifa-Abendspaziergang haben Ak-tivisten gestern vor der Presse «Polizeigewalt» angeprangert: Berns Polizei nehme mit «un-verhältnismässigem Einsatz» an Demonstrationen «schwere Verletzungen» in Kauf. Bleibe zu hoffen, dass es am Antifa-Umzug keine Verletzten gebe.

rudolf gafner

Daniele Jenni, Stadtrat der Grünen Partei und Rechtsanwalt, klagt an: «Bei der Polizei gibt es in letzter Zeit eine Tendenz, beim geringsten Anlass sehr starke Mittel einzusetzen» ? «unverhältnismässig» werde Tränengas versprüht, Gummischrot verschossen, «überflüssig» gross seien die Polizeiaufgebote. «Zahlreiche durch die Polizei verursachte schwere Verletzungen» habe es in den letzten Monaten gegeben.

Konkret ging es gestern um zwei jüngere Kundgebungen, bei denen gemäss Pressetext «durch unverhältnismässigen Einsatz von Gummischrot aus nächster Nähe schwere Verletzungen in Kauf genommen und verursacht» worden seien. So an der «Protestparade gegen die Armee» vom 16. Dezember in Bern, an der Mitorganisator David Böhner, Aktivist der linksautonomen Anti-WTO-Koordination, von einem Gummigeschoss knapp unter dem linken Auge getroffen wurde (vgl. «Bund» vom 18. 12.). Als er Teilnehmer vor «heraneilender Gefahr in Blau» (Polizeigrenadiere) habe warnen wollen, sei er «aus einer Distanz von drei bis vier Metern» auf Kopfhöhe beschossen worden. Nun sei die Sehkraft links auf 20 Prozent limitiert, er werde bleibende Schäden davontragen.

Strafanzeige gegen Stadtpolizei

Böhner hat gegen die Stadtpolizei Anzeige wegen schwerer Körperverletzung, Amtsmissbrauch und Nötigung eingereicht ? denn: «Es war eine total friedliche Sache, Grund zum Eingreifen gab es keinen.» Nicht minder «überflüssig», nämlich nach «kurzer, völlig harmloser Rangelei» (so Jenni), habe die Polizei am 17. Januar in Burgdorf auf WEF-Gegner Gummischrot gefeuert. Dass mehrere Demonstrierende und ein Polizist verletzt wurden, ist bekannt («Bund» 19. 1.) ? neu ist, dass nicht weniger als vier Personen Gummitreffer am Kopf erlitten haben sollen, wie gestern eine nicht namentlich vorgestellte Aktivistin an der Medienkonferenz sagte. Dies zeige, dass Flachschüsse auf Kopfhöhe und aus kurzer Distanz keine Ausnahmen seien.Dass diese Pressekonferenz just zwei Tage vor dem 5. Antifaschistischen Abendspaziergang gegeben wurde, ist, wie Böhner auf Nachfrage bestätigte, kein Zufall, sondern «schon auch überlegt»: Man wolle vor dem Abendspaziergang die Öffentlichkeit für «Polizeigewalt» gegen Demonstrierende sensibilisieren, auch in der «Hoffnung, dass es am Samstag keine Verletzten gibt».Die Polizei hat eine andere Sicht. Am 16. Dezember sei in Notlage gehandelt worden, denn Militante, die zum «Durchbruch» ansetzten, hätten sie «sonst überrannt», sagte Stadtpolizei-Infochef Franz Märki. Und am 17. Januar in Burgdorf sei «der kurze Gummischroteinsatz nötig» gewesen, weil Demonstranten teils gewaltsam die Route verlassen und in die Altstadt dringen wollten, erklärte Kantonspolizei-Sprecher Peter Abelin seinerseits: «Gummischrot wird in aller Regel auf grössere Distanz eingesetzt ? bei Zusammenstössen kann jedoch nicht verhindert werden, dass ausnahmsweise auch auf geringere Distanz Gummischrot zum Einsatz gebracht werden muss.»

Stadtpolizei gibt den Ball zurück

Aktivisten wie Böhner beklagen Polizeigewalt und vermissen Deeskalation ? die Polizei ihrerseits gibt zu bedenken, dass Deeskalation mit Dialog beginnt. «Klare Abmachungen, gegenseitiges Vertrauen und Verlässlichkeit ermöglichen erst die Deeskalationsstrategie», so Märki, und «wird das Gespräch von Seite der Organisatoren verweigert oder werden Auflagen nicht eingehalten, ist die Strategie in Frage gestellt ? wer diese präventive Strategie unterläuft, muss sich nicht über die Konsequenzen beklagen.» So sei am 17. Januar die Polizeitaktik «nach wiederum verweigerter Gesprächsbereitschaft der Organisatoren» und wegen «erneut klarer Anzeichen zu Gewalt» festgelegt worden, sagt der Stapo-Infochef.In der Tat sind sich die Demonstrationen vom 16. Dezember und vom 17. Januar (beide von Böhners Anti-WTO-Koordination mitorganisiert bzw. durch Aufruf mitgetragen) wie auch der nun anstehende Antifa-Aufmarsch in einem Punkt gleich: Die Veranstalter verweigern vorgängig den Dialog, den die Polizei aktiv sucht, und um eine Bewilligung wird gar nicht erst ersucht. Auf die Frage, ob die Organisatoren damit nicht für die beklagten Eskalationen mitverantwortlich seien, liess sich Böhner jedoch gestern in der Fragerunde nicht näher ein. Am 16. Dezember habe immerhin Kontakt mit dem Einsatzleiter vor Ort bestanden, und betreffs Antifa «fühle ich mich nicht direkt angesprochen», sagte er ausweichend.

Dialogverweigerung «vertretbar»

Anwalt Jenni, der der Berner Antifa auch schon einmal Vermittlerdienste leistete, verwies seinerseits auf die «grundsätzliche Argumentation» des Antifa-Bündnisses (vgl. «Bund» vom Montag), wonach Besammlungsfreiheit keine Bewilligung brauche und ein Dialog «mit dem Staat» sinnlos sei, weil dieser in einer Machtposition verhandle.«Da stehen also politische Überlegungen dahinter, welche durchaus vertretbar sind», meinte Jenni.