Das Problem ist in den Köpfen

Neue Zürcher Zeitung: Die Gefahr, die von Linksextremen ausgeht, wird unterschätzt und verdrängt. Von Lucien Scherrer

Auch Linksextreme gehen mit der Zeit. Einst versuchten sie, Arbeiter für die Diktatur des Proletariats zu begeistern, heute versuchen sie, mit zeitgeistigen Themen wie «Wohnungsnot», «Freiräumen» und «Gentrifizierung» zu punkten. Geblieben sind ihre schlechten Aussichten, jemals die Macht zu übernehmen. Nur: Wie die Krawalle vom letzten Freitag gezeigt haben, ist die linksautonome Szene immer wieder in der Lage, einen wütenden Mob aus Aktivisten, Hooligans und Mitläufern zusammenzutrommeln, der für einen kurzen Moment die Macht auf der Strasse übernimmt und alles kurz und klein schlägt. In diesem Machtrausch, das sollte inzwischen allen klar sein, geht es nicht nur darum, Polizisten anzuzünden und kaputtzuschlagen. Faktisch ist jeder an Leib und Leben bedroht, der zur falschen Zeit am falschen Ort ist: vom Hausbewohner, der sich den Randalierern entgegenstellt, über den Kunden des Vegi-Restaurants bis zum Besitzer des Quartierladens, der sich gerade eine Existenz aufgebaut hat.

Wie ist es möglich, dass es in Zürich in regelmässigen Abständen zu derartigen Gewaltorgien kommt? Hunderte von Leuten waren über SMS und Aufkleber über die «Veranstaltung» informiert worden – nicht nur Insider, sondern auch Studenten, Journalisten, ja selbst Ladenbesitzer in der Europaallee. Dass die Polizei nicht fähig war, sich diese Informationen zu beschaffen, ist das eine. Das andere ist, dass keiner der Eingeweihten auf die Idee kam, die Polizei zu warnen. Dabei war die Eskalation nach ähnlichen Vorfällen in der Vergangenheit absehbar, das Gewaltpotenzial ebenso. Noch erstaunlicher ist, dass es selbst nach dem jüngsten Exzess Leute gibt, welche die Taten als «unpolitisch» relativieren oder gar mit der «strukturellen Gewalt» der Gesellschaft rechtfertigen. Das Problem ist offensichtlich in den Köpfen: Die Gefahr, die für eine zivilisierte Gesellschaft von Linksextremen ausgeht, wird gerne verdrängt und verharmlost. Lieber beruhigt man sich, dass es doch nur «die Bullen» (als wären Polizisten keine Menschen aus Fleisch und Blut) oder die «Banken» treffe, und um die sei es ja nicht so schade. Dass sich nach dem Krawall vom Freitag selbst betroffene Ladenbesitzer fragten, warum es denn ausgerechnet sie getroffen habe, wo sie doch keine Bank seien, spricht Bände: Man kann es nicht fassen, man will es nicht glauben, dass die Täter derart böse und gemein sind, wo sie doch angeblich nur die «Aufwertung» des öffentlichen Raums bekämpfen oder das Grosskapital.

Das wiederum hängt mit dem Irrglauben zusammen, wonach es schlechte und weniger schlechte politische Gewalt gibt. Stellen wir uns vor: In der Stadt Zürich kommt es in regelmässigen Abständen zu brutalen Krawallen, die von Rechtsextremen geschürt werden und in denen es für die Opfer um Leben und Tod geht. Hunderte wissen im Vorfeld davon, aber keiner warnt die Polizei. Es ist schlicht undenkbar, weil in der Gesellschaft und in der Politik Konsens darüber herrscht, dass Rechtsextreme mit allen Mitteln bekämpft werden müssen. Und das aus gutem Grund. Es würde Vorstösse hageln, es gäbe Mahnwachen und Lichterketten, und man würde alles daransetzen, die Täter vor Gericht zu bringen. Niemand, der einigermassen bei Trost ist, käme auf die Idee, die Taten öffentlich zu verharmlosen oder zu relativieren, mit Argumenten wie: «Unsere Gesellschaft übt indirekt Gewalt aus, da ist es ja kein Wunder, wenn . . .», oder: «Die Forderungen dieser jungen Leute nach einer völkischen Ordnung sind ja berechtigt, nur dass sie derart dreinschlagen, ist ein wenig übertrieben.»

Genau dies aber geschieht jedes Mal, wenn Linksextreme gegen «Kapitalismus» oder «Gentrifizierung» auf die Strasse gehen und das Ganze leider in eine Orgie der Gewalt ausartet: Man sucht eine Mitschuld bei der Polizei, bei der Gesellschaft, oder man verweist auf die vermeintlich hehren Motive und Forderungen der Täter. Als ob es für die Betroffenen eine Rolle spielte, ob sie im Namen einer «guten Sache» zum Krüppel oder gar totgeschlagen werden. Wenn sich die Einsicht durchsetzt, dass es diese Gewalt ohne Wenn und Aber zu bekämpfen gilt, wäre schon viel getan, um weitere Exzesse zu verhindern.