«Rassismus ist kein Jugendproblem»

 
Der Bund

Autor: Dominik Straub

Publikationsdatum unklar, irgendwann im Oktober 1995.

TAGUNG / Spezialisten und Praktiker diskutierten das Thema «Jugend und Rechtsextremismus».

Es sind zwar meistens Jugendliche, die Gewalttaten gegen Ausländer verüben, grundsätzlich sind Rassismus und Fremdenfeindlichkeit bei Erwachsenen jedoch verbreiteter. Dies ist das Fazit einer Tagung über Jugend und Rechtsextremismus in Bern. Und: Die Gewalttäter zur Rede stellen ist besser, als sie auszugrenzen.

dsb. Übergriffe gegen Ausländer und Anschläge gegen Asyleinrichtungen haben in den letzten Jahren abgenommen – warum also das Thema wieder aufgreifen? Weil Ausländerfeindlichkeit und Rassismus latent nach wie vor recht weit verbreitet seien – und weil Rechtsparteien mit Wahlslogans wie «Das Boot säuft ab» weiterhin Nährboden für Rassismus lieferten, leitete Ilana Ganzfried von der Berner Informationsstelle für Ausländerfragen die gestrige Tagung im Käfigturm ein.

«Kleiner Frontenfrühling» vorbei
Tatsächlich sei der «Kleine Frontenfrühling», welcher Ende der 80er und Anfang der 90er Jahre Sumpfblüten wie Marcel Strebels «PatriotischeFront» oder die «Mutschellen-Front» hervorgebracht hatte, vorbei, meinte der Journalist und Rechtsextremismus-Spezialist Jürg Frischknecht. «Heute gibt es keine ,Viking-Jugend‘, keine ,Patriotische Front‘, keine NPS mehr.» Derzeit existierten zwei Gruppen von Schweizer Rechtsextremen: Auschwitzlügner, welche versuchten, den Nationalsozialismus wieder salonfähig zu machen und sich in Gemeinschaften wie der «Gemeinschaft Avalon» sammelten, sowie die «Glatzen», also rechtsradikal orientierte Jugendliche.

1995 wieder «starker Zulauf»
Letztere hätten derzeit wieder «ausserordentlich starken Zulauf», hielt Frischknecht fest. Ja, das Jahr 1995 stelle geradezu eine Zäsur für diese Gruppen dar: Bis vor kurzem hätten sich die Rechtsradikalen kaum mehr ins Zürcher Niederdorf getraut; dieses Jahr sei es wiederholt zu Zusammenstössen auf dem Hirschenplatz gekommen. Ihr letztes «Coming out» habe diese Szene am Rande von Christoph Blochers Kuhglockendemo in Zürich gehabt: «Da haben sie zunächst andächtig zugehört und dann für Krawall gesorgt – völlig unvermummt, völlig offen . . .»

Die «Glatzen», altersmässig laut Frischknecht «zwischen Stimmbruch und Stimmrecht», rekrutierten sich hauptsächlich aus Zukurzgekommenen, sozial Deklassierten. Getrieben vom Bedürfnis, in einer Gruppe aufgehoben zu sein, stossen sie zur Szene – und oft genug eigneten sich die Betroffenen die rechtsradikale Ideologie erst nach ihrer Aufnahme in der Gruppe an. Nach Frischknechts Meinung sind sie kaum therapierbar: Solange die Gruppe ihre Heimat sei und dafür kein Ersatz geboten werde, seien diesbezügliche Bemühungen kaum von Erfolg gekrönt. «Was wirklich zur Trennung von der Gruppe führt, ist die Kiste: nämlich entweder das Gefängnis oder die Beziehungs-Kiste», meinte Frischknecht.

Nicht nur Jugendproblem
Matthias Wachter, Assistent am Höheren Lehramt der Universität Bern, wies darauf hin, dass es sich bei Rassismus und Fremdenfeindlichkeit nicht um ein Randgruppenproblem handle – und insbesondere nicht um ein spezifisches Problem von gescheiterten Jugendlichen. Im Gegenteil: Bei über 50jährigen sei Fremdenfeindlichkeit weit verbreiteter als bei Jungen. «Salopp ausgedrückt könnte man sagen: Je älter, desto fremdenfeindlicher.» Die Aufmerksamkeit, sagte Wachter, fokussiere sich allein deshalb auf die Jungen, weil es in der Regel sie seien, welche die Gewaltakte verübten. Dabei handle es sich aber oft um «mehr oder weniger spontane Aktionen von Kleingruppen, oft unter Alkoholeinfluss.»

Die Jugendlichen würden so zu Sündenböcken: «Die Fokussierung auf die Skinheads entlastet die politisch Verantwortlichen; die Gewaltakte werden als ein vorübergehendes Laster einer Lebensphase dargestellt.» Dadurch, betonte Wachter, würden nicht nur die Täter geschützt,sondern auch die Taten verharmlost. Auch Wachter zeigte sich relativ pessimistisch bezüglich der Wirksamkeit von pädagogischen oder therapeutischen Interventionen, aber: «Wenn die überhöhten Erwartungen gedämpft werden, ist Jugendarbeit vielleicht der Tropfen auf denheissen Stein, welcher den Stein davor bewahrt, zu überhitzen.»

Wie mit ihnen umgehen?
Die Praktiker, nämlich die Jugendarbeiter selber, warnten denn auch davor, rechtsorientierte Jugendliche auszugrenzen. «Ich ging zu ihnen und sagte klipp und klar, was drin liegt und was nicht», erklärte René Keusen, Jugendkoordinator und Leiter des Jugendtreffs von Langenthal gegenüber dem «Bund». Und irgendwie hätten die Langenthaler Skins, die Anfang der 90er Jahre mit Anschlägen auf das Flüchtlingsheim in Roggwil und auf ein von Tamilen bewohntes Haus in Lotzwil landesweit Schlagzeilen gemacht hatten, dies akzeptiert. Wichtig sei auch, ihnen Orientierungshilfen zu geben. So habe er ihnen gesagt, dass unter ihrem Tun auch die anderen Langenthaler Jugendlichen zu leiden hätten.

«Geschuftet wie die Affen»
Ähnliche Erfahrungen hat der Jugendarbeiter Beat Ramseier in einer Zürcher Vorortsgemeinde mit einer Gruppe von zehn rechtsorientierten Jugendlichen gemacht. Der Entscheid, die Gruppe trotz allem in den Jugendtreff hereinzulassen und sich mit ihnen abzugeben, habe zwarSchwierigkeiten mit sich gebracht, dafür aber Kommunikation und letztlich auch eine Woche auf einer Alp ermöglicht – wo die Jugendlichen «geschuftet haben wie die Affen».

Heute, drei Jahre später, sei kein einziger der Gruppe Mitglied einer rechtsextremen Gruppe, berichtete Ramseier. «Aber einer hat sich am 1. August mit einem Sturmgewehr erschossen. Warum weiss ich nicht.»

Der «Kleine Frontenfrühling» ist zwar vorbei, doch nun formieren sich die rechtsextremen Jugendlichen wieder. (ap)