Attacke im Zug und Neonazi-Konzert – Polizeisprecher waren im Dauerstress

Gian Andrea Rezzoli und Hanspeter Krüsi blickenauf intensive Monate mit vielen Überstunden zurück. Die beiden Sprecherder St. Galler Kantonspolizei mussten mit der Attacke in einemRegionalzug in Salez am 13. August und dem Grossaufmarsch von Neonazisim Toggenburg am 15. Oktober aussergewöhnliche Herausforderungenbewältigen.

In Salez, wo ein 27-jähriger Schweizer in einemZug der Südostbahn (SOB) eine brennbare Flüssigkeit ausgoss undanzündete und seine Opfer mit einem Messer angriff, kamen zwei Frauen im Alter von 17 und 34 Jahren sowie der Täter ums Leben. Vier weiterePersonen wurden zum Teil schwer verletzt.

Ausländische Medien löcherten die Polizei sofortmit Fragen nach einem terroristischen Hintergrund der Tat. Der Grund:Nur wenige Wochen zuvor hatte ein Flüchtling in einem Regionalzug imdeutschen Würzburg fünf Menschen mit einem Beil und einem Messerangegriffen und sie verletzt.

Journalisten wollten wissen, ob der Täter in Salez «Allah» gerufen habe und ob die Opfer Kopftücher trugen. «Sie wolltenBestätigungen für Gerüchte und Hypothesen erhalten, die wir nicht gebenkonnten», sagt Polizeisprecher Gian Andrea Rezzoli rückblickend. DiePolizei habe das Ereignis sachlich kommentiert, «auch wenn einzelneMedien gerne eine andere Geschichte gehabt hätten».

Terrorszenario

Auch wenn die Tat von Salez kein Terrorakt war:Mit dem Szenario «Terroranschlag» setzt sich der Mediendienst derKantonspolizei schon länger auseinander, wie Rezzoli derNachrichtenagentur SDA erklärte. «Wir erarbeiten derzeit Konzepte, wiewir ein solches Ereignis medial bearbeiten wollen respektive können.»Die personellen Ressourcen in der Kommunikation seien beschränkt.

Vor allem der Einbezug von sozialen Medien wieFacebook und Twitter, die immer wichtiger werden, sei aufwendig. Beieinem Terroranschlag müsste die Polizei die Bevölkerung über möglichstviele Kanäle informieren, wie sie sich zu verhalten habe und wo siesicher sei. «Bei so einem Ereignis ist das mediale Informationsbedürfnis enorm.»

Eine rasche Veröffentlichung von Informationenüber Täter und Opfer könne die Arbeit der Polizei stark beeinflussen,sagt Rezzoli. Aber auch sonst käme im Falle eines Terrorakts eineInformationsflut auf die Polizei zu, «wichtige Informationen, aber auchFalschmitteilungen». Dann dürfe man das Ereignis nicht aus den Augenverlieren und nur kommunizieren, was den Tatsachen entspreche.

Lob und Kritik

Im Fall von Salez wurde die Polizei für ihrezurückhaltende Kommunikation zum Teil kritisiert. Anders sah dies derJournalistikprofessor Vinzenz Wyss von der Zürcher Hochschule fürAngewandte Wissenschaften (ZHAW): Angesichts der lange unsicherenInformationslage sei die Zurückhaltung richtig gewesen, sagte Wyss zweiTage nach der Tat gegenüber der SDA.

Die Situation war damals angeheizt mit Gerüchten,Hetzen und Verschwörungstheorien, verbreitet vor allem aufSocial-Media-Plattformen. Die Polizei habe zurecht vermieden, diesenSpekulationen noch zusätzlichen Sauerstoff zu geben, fand Wyss. Dochhätte die Polizei in einer Prozesskommunikation noch stärker erklärensollen, weshalb sie gewisse Informationen nicht weitergab.

Polizei wurde überrumpelt

Kaum war «Salez» bewältigt, geriet derPolizeimediendienst erneut unter Dauerstress: Am 15. Oktober trafen sich rund 5000 Neonazis im Toggenburger Dorf Unterwasser zu einemRechtsrockkonzert. «Wir sind betreffend den Veranstaltungsortüberrumpelt worden», räumt Gian Andrea Rezzoli ein. Öffentlichgeäusserte Polizeischelte und politische Forderungen liessenentsprechend nicht lange auf sich warten.

Den Anlass selbst habe die Polizei nicht andersbearbeiten können, verteidigt Rezzoli. «Wir haben dafür gesorgt, dassRuhe, Ordnung und Sicherheit gewahrt wurden.» Die politische Komponentehabe die Polizei jedoch unterschätzt oder schlicht nicht in Betrachtgezogen. «Wir hätten offensiver über das Ereignis kommunizieren müssen», findet der Mediensprecher heute.

Selbstkritisch sieht die Polizei auch ihrenVerzicht auf Medienkonferenzen in Salez und in Unterwasser. Dies stiessbei Medien angesichts der Grösse und Schwere der Ereignisse aufUnverständnis. «Wir haben erkannt, dass wir diesen Punkt überdenken undanpassen müssen», sagt Rezzoli.

Nach der Tat von Salez steht ein Schlussberichtder Staatsanwaltschaft noch aus. Unter anderem interessieren die Motivedes Täters.

Empört und enttäuscht

Das Neonazi-Konzert hingegen wird noch einpolitisches Nachspiel haben. Die Staatsanwaltschaft gab Mitte Dezemberbekannt, dass der Grossanlass in Unterwasser keine Strafuntersuchung zur Folge habe – mangels genügender Beweise für Straftaten. Die St. GallerSP reagierte «empört und enttäuscht» auf dieses Eingeständnis.

Nationalrätin Barbara Gysi will eine Verschärfungder Rassismus-Strafnorm prüfen und dazu einen Vorstoss im Parlamenteinreichen. Nazisymoble und -gesten müssten auch in der Schweiz verboten werden. Sonst drohe die Schweiz und speziell der grenznahe Kanton St.Gallen «zum Mekka der europaweit organisierten Neonazi-Szene» zu werden. sda