Angriff auf Grossratssitze. Bern wird zum Lackmustest für impfskeptische Politiker

Berner Zeitung.

Die Gegner des Covid-19-Gesetzes wollen in den Nationalrat. Als Testlauf kandidieren sie bei den Berner Kantonswahlen. 

Nach der verlorenen Abstimmung geben die Gegner der Corona-Massnahmen nicht auf: Mit einer neuen Gruppe, «Aufrecht Schweiz», will die Bewegung in die Parlamentspolitik einsteigen. Gestützt wird «Aufrecht Schweiz» von bekannten Verbänden wie den «Freunden der Verfassung». Der mittelfristige Plan ist es, bei den nationalen Wahlen 2023 anzutreten. Den ersten Lackmustest bilden aber die Wahlen in den bernischen Grossen Rat im März 2022. Die Gruppe plant auch eine Kandidatur für den Regierungsrat. 

Geheime Treffen

Auf ihrer Website wirbt «Aufrecht Schweiz» um Leute, die «Menschenrechte stärken» wollen. Gelockt wird mit den Parlamentariern zustehenden Entschädigungen und Sitzungsgeldern, die der Aufruf detailliert auflistet. An einem geheimen Treffen in Biel konnten sich potenzielle Kandidierende diese Woche vorstellen. Der Anlass war auf Anmeldung für Sympathisanten offen, Medienschaffenden wurde die Teilnahme jedoch verwehrt. Die politisch zumeist unerfahrenen Interessenten sollten nicht abgeschreckt werden, erklärt Peter Eberhart, Vorstandsmitglied von «Aufrecht Schweiz». 

Der Drogist Eberhart sass bereits für die SVP und die BDP im Kantonsparlament und ist der bisher einzige bestätigte Kandidat der Berner Sektion. Bei den letzten Wahlen scheiterte er mit einer eigenen Kleinpartei, während der Pandemie ist er in impfskeptischen Kreisen aktiv geworden. Die Kandidatensuche solle «seriös» verlaufen, so Eberhart. «Ich sage nicht, dass der Käfer kein Problem ist, er ist da», sagt er zu Sars-CoV-2. Allerdings steht Eberhart der Gruppe Aletheia nahe, die auf ihrer Website behauptet, es gebe keine «fundierten» Indizien für eine «wirkliche» Pandemie. 

Eberhart beteuert, man grenze sich von Extremismus ab, wolle aber die Breite der skeptischen Bewegung abbilden. Dass diese sehr unterschiedliche Kräfte vereint, bereitet «Aufrecht Schweiz» offenbar Schwierigkeiten: Im Onlineauftritt ist das Programm vage gehalten, die Rede ist von «Verhältnismässigkeit» und «miteinander». Eberhart präzisiert, man fordere etwa mehr Gemeindeautonomie. Vorerst zeichne man sich mit dem Corona-Thema aus. «Wen sollen die 38 Prozent der Menschen wählen, die mit dem Abstimmungsresultat nicht zufrieden sind?», fragt er rhetorisch.

Sitzgewinn möglich

Kann diese Strategie aufgehen? Die Massnahmenkritik vermag immerhin viele Menschen zu mobilisieren, wie die regelmässigen Proteste in Bern dieses Jahr gezeigt haben. Mehrere Gemeinden – vor allem in von impfskeptischen Freikirchen geprägten Regionen – lehnten das Covid-19-Gesetz deutlich ab.

Für den Berner Politanalysten Mark Balsiger ist der Berner Jura das anschaulichste Beispiel. In jenem Verwaltungskreis stimmten fast 49 Prozent der Beteiligten gegen das Gesetz. «Bei Grossratswahlen brauchte man dort etwa acht Prozent der Stimmen, um einen Sitz zu holen», so Balsiger. Dennoch bedeute das nicht, dass «Aufrecht» vor einer tiefen Hürde stehe. 

«Bei Abstimmungen ist die Frage binär: Ja oder Nein», sagt er. «Bei Wahlen hingegen stehen rund zehn verschiedene Listen zur Verfügung, die Konkurrenz ist gross.» Balsiger betont, dass es für den Grossen Rat primär um eine Listenwahl gehe. Also müsse «Aufrecht Schweiz» möglichst volle Listen zusammenbringen, «was auch für etablierte Parteien eine Herausforderung ist».

Letztlich werde der Erfolg der Gruppe von der «politischen Grosswetterlage» im März abhängen, sagt Balsiger – also ob die Pandemie weiterhin das dominante Thema sei. Er schliesst nicht aus, dass die Massnahmenkritiker «in mehreren Wahlkreisen» einen Sitz im Grossen Rat holen könnten. Für Balsiger nicht per se bedenklich: So würden sie weniger in eine Parallelwelt abtauchen. «Zentral ist, dass sie sichtbar sind. Dass ihre Verlautbarungen zuweilen schwer verdaubar sind, kann eine stabile Demokratie verkraften.» 

SVPler umworben

Wem könnte «Aufrecht Schweiz» gefährlich werden? Laut Eberhart ist die Gruppe vor allem im Oberland breit aufgestellt – einer Hochburg der SVP. Die Partei übt regelmässig Kritik an den Massnahmen, geht aber vielen Skeptikern nicht weit genug. Der SVP-Grossrat Thomas Knutti aus der Simmentaler Gemeinde Därstetten macht sich jedoch wenig Sorgen. «Selbst hier sind überraschend viele geimpft», sagt er. Mit Massnahmenskepsis allein könne man nicht punkten. Einige SVPler in der Region seien von «Aufrecht Schweiz» als Kandidaten umworben worden, so Knutti. Er habe aber keine Kenntnis von Zusagen. 

Ebenfalls angefragt wurde Simone Machado, die massnahmenkritische Berner Stadträtin (GaP). Sie hat abgelehnt. Die Kampagne um Eberhart sei «unredlich und unprofessionell», findet sie. «Die Gruppe ist eine leere Hülle, da gibt es keinen politischen Inhalt», sagt sie mit Bezug auf das unklare Wahlprogramm. «Kein Mensch wählt eine Blackbox.»