«Gesinnung reicht nicht aus für Ausschluss»

Neue Zürcher Zeitung

Ein Neonazi unter den Studierenden und eine vermeintliche Verbindung zum chinesischen Militär: Die Zürcher Hochschule der Künste steht in der Kritik. Der Rektor Thomas D. Meier äussert sich im Gespräch mit Pauline Voss zu den Vorwürfen

Pauline Voss

Die Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK) war jüngst mehrfach in den Schlagzeilen. Einer ihrer Studenten soll Mitglied einer kleinen, bewaffneten Neonazi-Zelle aus dem Raum Winterthur sein, die sich «Eisenjugend» nennt. Kommilitonen forderten daraufhin seine Exmatrikulation. Auch eine akademische Kooperation mit China sorgt für Kritik: In Shenzhen ist eine Hochschule für Architektur und Design geplant, in Zusammenarbeit mit dem chinesischen Harbin Institute of Technology, das dem Militär nahesteht. Die Fälle werfen die Frage auf, wie wichtig der ZHdK die Meinungsfreiheit ist – und wo sie der freien Meinungsäusserung Grenzen setzt.

An der ZHdK ist ein Student mit rechtsextremem Gedankengut aufgefallen. Er soll Teil einer Neonazi-Zelle sein. Herr Meier, wie hat dieser Fall das Klima an der Hochschule verändert?

Über den Fall selber kann ich nicht viel sagen, da sind rechtliche Verfahren am Laufen, über die wir keine Auskunft geben können. Der Fall hat viele Ängste ausgelöst. Die Gruppe, der die Person mutmasslich angehört, zeichnet sich durch Gewaltbereitschaft aus. Es sind im Umfeld dieser Person auch Waffen konfisziert worden. Aus diesen Ängsten und aus einer politischen Haltung heraus wurden Forderungen an uns gerichtet, nach sofortigem Ausschluss der Person, voller Transparenz im Verfahren und Massnahmen gegen Rassismus an der Hochschule. Seit wir der Person den Zugang zur Hochschule untersagt haben, hat sich die Situation einigermassen beruhigt.

Knapp 2000 Mal wurde eine Petition unterschrieben, in der die Exmatrikulation des Studenten gefordert wird. Unternimmt die Hochschule genug gegen Rassismus?

In unserem Leitbild ist der Schutz der Integrität aller ZHdK-Angehörigen verankert. Wir haben seit 2009 ein Reglement gegen Diskriminierung. Im Vorlesungsverzeichnis lässt sich eine Fülle von Veranstaltungen mit gesellschaftlich relevanten Themen finden, darunter auch Diversität. Wir haben zudem die Fachstelle Gleichstellung und Diversity, die Kampagnen macht wie «Respect Now», bei denen es darum geht, für Diskriminierung zu sensibilisieren. Es geschieht viel in dieser Hinsicht. Wir erarbeiten derzeit zusätzliche Massnahmen, weil man auch an einer Kunsthochschule nicht einfach davon ausgehen kann, dass es keine strukturelle Diskriminierung gibt.

Der Fall des mutmasslichen Neonazis wirft die Frage auf, wo man als Hochschule die Grenze zieht zwischen Positionen, die toleriert werden müssen, und solchen, die nicht toleriert werden können.

Die Grenze ist dort, wo jemand sich strafrechtlich relevant diskriminierend äussert, diese Haltung verbreitet und den Betrieb der Hochschule beeinträchtigt. Dort schreiten wir ein und ergreifen Massnahmen. Gesinnung allein reicht nicht aus, um jemanden von einer Hochschule auszuschliessen. Insofern setzen nicht wir die Grenze, sie ist rechtlich begründet. In einem Land wie Deutschland, das härtere Gesetze gegen Diskriminierung kennt, würde mit dem Fall anders umgegangen. Und in den USA juristisch vielleicht gar nicht. Die Schweiz hat ihr eigenes Rechtssystem, und im Rahmen dieses Systems haben wir uns zu bewegen.

Wie geht man mit Gesinnungen um, die nicht im Rahmen des strafrechtlich Relevanten liegen?

Diskursiv. Da geht es um den Austausch von Argumenten, das Aushalten von Dissonanzen, die Konfrontation auf argumentativem Weg.

Erleben Sie konfrontative Diskussionen an der Hochschule? Welches sind da die Reizthemen?

Durchaus. Meistens sind es Themen der Hochschulpolitik, etwa in welche Richtung sich die Hochschule entwickeln soll. Zudem gibt es immer wieder Diskussionen, weil eher aktivistische Angehörige der ZHdK finden, die Hochschule habe sich politisch deutlicher zu positionieren. Das lehnen wir ab, weil wir zu politischer Neutralität verpflichtet sind.

Sie sollen sich gegen rechts positionieren?

Genau. Die «Wochenzeitung» hat angefangen, sich mit uns zu beschäftigen. Sie hat eine politische Agenda und möchte, dass wir uns innerhalb dieser Agenda positionieren, im linken Spektrum. Doch das gehört nicht zu unseren Aufgaben.

Die «Wochenzeitung» veröffentlichte in letzter Zeit mehrere kritische Hintergrundrecherchen über die ZHdK. Unter anderem warf sie der Hochschule vor, die Radikalisierung des Studenten zu lange ignoriert zu haben. Nehmen Sie die Artikel der Zeitung als Versuch wahr, Sie unter Druck zu setzen?

Ein Stück weit ist das ein Versuch, uns unter Druck zu setzen, damit wir uns in einer Weise positionieren, die wünschbar wäre aus Sicht dieser politischen Agenda.

Warum ist Ihnen Neutralität so wichtig?

Wir werden öffentlich finanziert durch Steuergelder und haben keinen politischen Auftrag. Das politische Spektrum an dieser Hochschule ist, das vermute ich zumindest, so breit wie in der Gesellschaft insgesamt. Wir setzen uns ein, wenn es um Hochschulpolitik geht: für befreundete Hochschulen im Ausland, die unter Druck geraten; gemeinsam mit allen Schweizer Hochschulen gegen die Begrenzungsinitiative. Wir äussern uns, wenn wir als Hochschule direkt betroffen sind. Sonst sind wir politisch neutral, was ja nicht heisst, dass politische Themen nicht diskutiert würden.

Ist Politik, abseits von Skandalen, überhaupt noch ein Thema unter den Studierenden?

Die Sensibilität für politische und gesellschaftliche Fragen ist für viele, die künstlerisch tätig sind, ein wichtiger Treiber, eigentlich in jeder Disziplin. Wir sehen seit Jahren eine starke Bewegung unter den Studierenden in Richtung Nachhaltigkeit. Das schlägt sich nieder in Diplomarbeiten, in Texten, in Aktionen. Es gibt bei uns grosse Diskussionen in den einzelnen Disziplinen über Identitätspolitik und Diversität. Diese Bewegung ist deutlich stärker geworden in den letzten Jahren. Das wollen wir aufnehmen, einen Umgang damit finden, und wir bestehen weiter darauf, dass dies multiperspektivisch passiert und nicht eindimensional.

Viel diskutiert wird dieser Tage über die Cancel-Culture. Der Begriff beschreibt den Versuch, missliebige Meinungsäusserungen durch öffentlichen Druck zu diskreditieren. An amerikanischen Hochschulen ist dieses Phänomen schon länger zu beobachten, doch auch im deutschen Sprachraum wurde jüngst immer öfter der Vorwurf der Zensur erhoben. Kommen Sie an der ZHdK mit Cancel-Culture in Kontakt?

Nicht direkt. «Cancel-Culture» ist zu einem rechten Kampfbegriff geworden. Unter dem Deckmantel der Kritik an der sogenannten Cancel-Culture wird auch rassistisches Gedankengut verbreitet. Andere meinen mit «Cancel-Culture», dass Meinungsäusserungen, die nicht ins eigene politische Spektrum passen, diskreditiert werden. Ich kenne keine Fälle von Cancel-Culture an dieser Hochschule. Es ist eine Thematik, die wir mit Sorgfalt weiter beobachten. Es ist interessant, dass die amerikanische Leitkultur mit diesen Ansätzen auch in Europa zunehmend Fuss fasst. Gewachsen ist sie auf genuin amerikanischem Boden, und sie ist verwurzelt in der Geschichte dieses Landes. Das unbesehen in die Schweiz zu importieren, halte ich nicht für zielführend.

Die ZHdK war noch wegen eines weiteren Themas in den Schlagzeilen: In der chinesischen Stadt Shenzhen wird gerade eine neue Designschule gebaut, ein Gemeinschaftsprojekt der ZHdK und des chinesischen Harbin Institute of Technology (HIT), dem eine enge Beziehung zum Militär nachgesagt wird. Wie soll unter solchen Bedingungen freie Kunst entstehen?

Die Verbindung des HIT zum Militär ist unbestritten. Im Technologiebereich gilt das für viele Hochschulen, nicht nur für chinesische. Die Vereinigten Staaten haben das HIT auf die Liste von Hochschulen gesetzt, mit denen amerikanische Hochschulen nicht mehr kooperieren. Das ist nur im Kontext der gegenwärtigen machtpolitischen Konfrontation zwischen diesen beiden Ländern zu verstehen. Wir kooperieren zudem mit China bewusst nicht im Bereich der Künste, sondern in Design und Architektur. Freiheit in Lehre und Forschung gilt nach wie vor, das ist für uns ein hohes Gut, von dem wir nicht abweichen wollen. Inwiefern wir in China inhaltlich und finanziell verantwortlich handeln können, wird sich erst zeigen können, wenn die Zusammenarbeit tatsächlich beginnt. Bisher gab es in dieser Hinsicht keine Beschränkungen. Aber wir bleiben da sehr aufmerksam.

Der Direktor des Departements Design an der ZHdK, Hansuli Matter, erzählte laut der «WOZ» bei einer Infoveranstaltung, dass die Projekte und Kursthemen von chinesischen Parteisekretären gutgeheissen werden müssten.

Wir gehen davon aus, dass die Curricula, die wir gemeinsam mit unseren chinesischen Kolleginnen und Kollegen entwickeln, auch von den Parteisekretariaten geprüft werden. Die Frage ist: Erlaubt uns das, weiterhin das zu tun, wovon wir überzeugt sind? Wenn nicht, werden wir das Gespräch mit unseren Partnern suchen und die Bedingungen der Kooperation überprüfen. Wir sind überzeugt, dass man heute nicht darum herumkommt, sich mit China auseinanderzusetzen. Früher ist das immer mit einer gewissen Arroganz geschehen, aus westlicher Perspektive, unter dem Entwicklungshilfe-Aspekt. Das ist total naiv und längst vorbei, weil wir inzwischen auch in den Feldern Design und Architektur unglaublich viel von China lernen können. Wir sind gegenwärtig der Meinung, dass ein Abbruch des Dialogs, den wir in vielen Kooperationen seit 2002 pflegen, keine Option ist. Aber es ist eine Frage der Bedingungen, unter denen diese Kooperationen stattfinden.

Wenn es um Architektur und Design geht, sind durchaus auch politische Fragen relevant, zum Beispiel im Hinblick auf Überwachungstechnologie.

Ich wüsste nicht, was Design und Architektur mit Überwachungstechnologie zu tun haben sollen.

Zum Beispiel kann man mit Sensoren in Häusern die Bewohner überwachen. Technische Geräte, die von der Hochschule entworfen würden, könnten Überwachungstechnologie enthalten.

Design und Architektur entwickeln keine Überwachungstechnologien. Klar ist, dass Überwachung in China ein grosses Thema ist, aber es gibt ein riesiges anderes China, das mit Überwachung nichts zu tun hat. Smart Cities, Sustainable Cities, neue Technologien, da sind die chinesischen Hochschulen teilweise weiter als wir. Wir werden uns nicht in den Dienst eines Überwachungssystems stellen. Darauf haben wir auch Einfluss.

«Die Grenze ist dort, wo jemand sich strafrechtlich relevant diskriminierend äussert, diese Haltung verbreitet und den Betrieb der Hochschule beeinträchtigt.»

«Man kommt heute nicht darum herum, sich mit China auseinanderzusetzen», sagt Thomas D. Meier.

Simon Tanner / nZZ