«Die Polizei arbeitet im Glashaus»

Neue Zürcher Zeitung: Grossereignisse führen zu Kritik an der Kommunikation schweizerischer Polizeikorps

Im Zeitalter der Smartphones kann jeder Zeuge eines Unfalls oder Verbrechens zum Leserreporter werden. Das macht die Informationsaufgabe für die Polizei anspruchsvoller.

Im Wettlauf gegen die Zeit geriet die Kommunikationsabteilung der Kantonspolizei schon nach Stunden uneinholbar in den Rückstand: Über das Rockkonzert mit Neonazi-Bands am vorletzten Wochenende verlor sie auch dann kein Wort, als die Medien längst ausführlich darüber berichteten. Einen Tag später verlor sie auch den Kampf um Deutungshoheit bei der Einordnung des Ereignisses, als ein Sprecher den im Geheimen geplanten Grossanlass Rechtsradikaler verharmlosend als «absolut geordnet und professionell organisiert» bezeichnete – zu einem Zeitpunkt, als sich die User auf Facebook und Twitter über den braunen Aufmarsch im beschaulichen Dorf Unterwasser schon ein eigenes Bild gemacht hatten. Nicht nur vom grölenden Mob liess sich die Polizei überrumpeln, auch von den Medien. Seither ist ihr Image angekratzt.

Internationale Medien sofort da

Immer schneller fordert die Öffentlichkeit bei Unglücksfällen, Verbrechen oder Katastrophen detaillierte Informationen, im Extremfall noch während das Geschehen im Gang ist. Während sich die Sonntagsmedien bis vor einigen Jahren darauf beschränkten, am Samstagabend routinemässig die Pikettoffiziere in den Kantonspolizeien nach Unfällen und Verbrechen abzuklappern, stehen die Informationsabteilungen heute im dauerhaften Bereitschaftsdienst. Bis nach einem Grossereignis internationale Fernsehsender auf der Matte stehen, vergeht nach Aussagen des langjährigen Sprechers der Stadtpolizei Zürich, Marco Cortesi, dank Twitter und Facebook oft weniger als eine Stunde. Acht Mediensprecherinnen und -sprecher sind ihm inzwischen unterstellt.

Weil auch die Medien das Informationsmonopol verloren haben und Bilder, Details und Gerüchte via Social Media ohnehin an die Öffentlichkeit gelangen, genügt die simple Formulierung «ist Gegenstand von Abklärungen» nicht mehr. Gefragt sind auf den Einzelfall abgestimmte Kommunikationsstrategien. Sechzig bis achtzig Mal pro Jahr, immer dann nämlich, wenn sie an einen Ereignisort ausrücken, sehen sich die Angehörigen des Mediendienstes der Kantonspolizei Aargau herausgefordert. So stellt sich ein scheinbar gewöhnlicher Brand in einem Einfamilienhaus innert weniger Stunden als eines der schrecklichsten Verbrechen der letzten Jahrzehnte heraus. Erlebt hat dies Roland Pfister, der beim Vierfachmord von Rupperswil nach dem ersten Alarm ausrückte.

Der Dienstchef Medien und PR der Kapo Aargau spricht von einem «Spagat» zwischen den Anliegen der Medien und den Zielen der Staatsanwaltschaft, den es zu bewältigen gelte. So hätten die Journalisten im Fall Rupperswil gesehen, dass die Polizei die umliegenden Gärten abgesucht habe, und daraus ihre Schlüsse gezogen. «Doch natürlich mussten wir zurückhaltend sein und konnten am ersten Tag nichts zur Todesursache und zur Identität der Opfer sagen», erklärt Pfister. Im Aargau geht die Information nach den ersten 24 Stunden von der Polizei an den ermittelnden Staatsanwalt über. Cortesi bringt das Dilemma so auf den Punkt: «Bei den Medien geht Schnelligkeit vor Richtigkeit. Für uns ist es genau umgekehrt.» Die Folge: Zu den Hintergründen eines Ereignisses kann die Polizei oft auch dann nichts sagen, wenn im Netz bereits Bilder und Thesen kursieren.

Leserreporter und ihre Handys

Wie schnell Behörden in dieser Situation ins Kreuzfeuer der Kritik geraten können, hat die Kantonspolizei St. Gallen in diesem Sommer in einem anderen Fall erfahren. Nach dem Amoklauf in einem Regionalzug in Salez musste sie sich vorwerfen lassen, zu defensiv kommuniziert zu haben. Ausserdem bemängelten ausländische Medienvertreter, dass die Informationen nur in deutscher Sprache erfolgten. Der Amoklauf geriet sofort in die «breaking news» internationaler Medien. Es sei deshalb wichtiger denn je, sämtliche Vorfälle in internationalem Kontext zu sehen und kommunikativ entsprechend einzuordnen, betont ein erfahrener Polizeisprecher.

Solche nationalen, aber auch internationale Fälle werden an den Jahrestagungen der Schweizerischen Konferenz der Medienbeauftragten der Polizeikorps (SKMP) besprochen und analysiert. Auch der Verband Schweizerischer Polizeibeamter (VSPB) wird dem Informationsfluss im veränderten Medienumfeld im kommenden Jahr eine eigene Tagung widmen, wie Sprecher Reto Martinelli erklärt. SKMP-Präsident Florian Grossmann, der seit zwanzig Jahren im Business ist, stellt fest, dass sich die Arbeit im Zeitalter der Leserreporter und der omnipräsenten Handys stark verändert habe, und konstatiert: «Die Polizei steht heute innert Minuten im Fokus der Medien. Was auch immer passiert: Wir arbeiten im Glashaus.»