«Antisemitismus ist nicht naturgegeben»

Schweiz am Sonntag: Der Zofinger Klaus Plaar hat sich intensiv mit Antijudaismus und modernem Antisemitismus auseinandergesetzt

Über einen Zeitraum von nicht weniger 35 Jahren hat er die Ursprünge des Antisemitismus erforscht. Dabei hat sich Klaus Plaar nicht nur methodenpluralistisch mit der Geschichte auseinandergesetzt. Er ist dabei auch seinen eigenen Anschauungen auf den Grund gegangen.

Der Anthropologe René Girard vertritt, verkürzt gesagt, die Haltung, dass das Neue Testament nicht per se antijüdisch sei, wenngleich es antijüdisch interpretierbare Stellen gebe. Sein berühmtes Diktum lautet: «Man darf nicht den Evangelien die verengte antijüdische Lektüre vorwerfen, der man sie unterzieht.» Ist es wirklich so einfach?

Klaus Plaar: Girard vertritt natürlich eine sehr apologetische Haltung; er scheint sich verletzt und als Opfer zu fühlen. Richtig ist zwar, dass man den Evangelisten nicht generell Antijudaismus vorwerfen kann, vielmehr muss man differenzieren. Es gibt allerdings Stellen im Neuen Testament, die nicht nur «antijüdisch interpretierbar», sondern offen antijudaistisch sind. Ausserdem muss man zwischen den einzelnen Evangelien unterscheiden, denn ihre Inhalte sind keineswegs identisch.

Ihr Werk zu Antijudaismus und Antisemitismus und deren rezeptionsgeschichtlichen Spuren bis heute ist 1150 Seiten dick. Welche sind Ihre wichtigsten Erkenntnisse?

Antijudaismus und Antisemitismus sind nicht naturgegeben, sondern ein Produkt systematischer Hetze und Diffamierung. Es gab Jahrhunderte friedlicher Koexistenz. Die Christen spüren nicht von Natur eine Abneigung gegenüber dem Jüdischen, sondern sind durch Predigt und Propaganda antijüdisch konditioniert. Deshalb bilden Antijudaismus und Antisemitismus – eingestanden oder nicht – einen integralen Bestandteil des christlichen Abendlandes. Leider mit schwerwiegenden Folgen. Sie reichen von der Diffamierung bis zur Schoah.

Sie haben explizit kein theologisches Werk verfasst. Dass Jesus Christus von der Mehrheit der Theologen entpolitisiert worden ist, erachten Sie als verhängnisvoll. Weshalb?

Mein Werk ist interdisziplinär und methodenpluralistisch erarbeitet; es umfasst Judaistik, Theologie und Geschichtswissenschaft. Die Entpolitisierung des historischen Jesus in der Kirchengeschichte und frühchristlichen Literatur entstand aus dem Bedürfnis der Gläubigen, ihren vergöttlichten Christus losgelöst von allen irdischen Banden zu sehen. Er musste von einer Jungfrau geboren sein, durfte keine leiblichen Geschwister haben und hat sich ausschliesslich mit göttlichen, nicht politischen Dingen befasst. Doch die religiöse Geschichte Israels muss konsequent zur politischen Geschichte Israels in Beziehung gesetzt und immer in diesem Zusammenhang gesehen werden: Sie ist der Dreh- und Angelpunkt zur Zeit Jesu, auch in den Evangelien – obschon sowohl die Evangelisten wie viele Theologen alles darangesetzt haben, Jesus zu entpolitisieren. So aber kann man weder den historischen Jesus noch dessen Gefangennahme noch die Verhöre und die Verurteilung verstehen.

Sie erkennen in den neutestamentarischen Schriften antijudaistische Narrative. Welche haben in der Rezeption die grösste Wirkung entfaltet?

Ein Kristallisationspunkt des Antijudaismus in den Evangelien ist der angebliche geldmotivierte «Verrat» des Apostels Judas Iskarioth, der gar nie stattgefunden hat. Judas Iskarioth wurde rezeptionsgeschichtlich zur Personifikation des Bösen schlechthin, zum verteufelten Juden, dem die Personifikation des absolut Guten in der vergöttlichten Gestalt des Jesus von Nazareth gegenübersteht. Der teuflische Jude und der göttliche erste Christ – das ist das Schema des neutestamentlich begründeten Antijudaismus. Andererseits bilden die Verhöre Jesu durch Kajaphas, Pilatus, die Passah-Amnestie, die Freilassung des Barabbas und das Urteil des Pilatus weitere antijudaistische Kristallisationspunkte. Siehe dazu das Johannes-Evangelium.

Die Juden als Gottesmörder zu bezeichnen gehört zum antisemitischen Gedankengut. Wie konnte sich dieser Vorwurf herausbilden?

Die Juden sollen vor dem Prätorium geschrien haben: «Kreuzige ihn!» Eine solche Szene hat nie stattgefunden. Bezeichnend ist, dass in den älteren Evangelien noch von Volk, Menge und Schar die Rede ist. Bei Lukas 23, 18-25 heisst es zum Beispiel, dass die Sadduzäer die Scharen hätten überreden müssen, die Kreuzigung zu fordern. Später bei Johannes wird die Volksmenge zu «Juden». Hier stehen wir vor einem der Kristallisationspunkte des christlichen Antijudaismus: Von nun an galten die Juden als «Gottesmörder», nicht nur in der Vulgärfrömmigkeit, sondern auch in der Theologie.

Was ist aus dem Antisemitismus geworden? Welche Formen hat er explizit und implizit angenommen?

Antisemitismus ist auch heute noch virulent und in allen Formen erhalten. Offener Antisemitismus jedoch ist seit der Schoah nicht mehr opportun. Heute will niemand mehr etwas mit ihm und dem Zivilisationsbruch der Schoah zu tun haben. Der Antisemitismus treibt seither inkognito sein Unwesen. Heute findet der Antisemitismus ohne Antisemiten statt. Der «codierte Antisemitismus» sucht sich Methoden und Strategien, die Björn Milbradt in einem hervorragenden Aufsatz am Beispiel des pseudodokumentarischen US-Independent-Films «Zeitgeist» von Peter Joseph – ein Pseudonym – aus dem Jahre 2007 analysiert und beschrieben hat. Dem Film wird allgemein «struktureller Antisemitismus» vorgeworfen, weil er mit esoterisch angehauchten Verschwörungstheorien operiert und sie mit Schlüsselworten wie «Hochfinanz», «Kriegswirtschaft» und den Anschlägen vom «11. September» in Verbindung bringt, freilich ohne die angeblich «unsichtbaren Mächte hinter dem Vorhang» beim Namen zu nennen.

Sie haben mit Unterbrüchen 35 Jahre an diesem Buch geschrieben. Wie hat sich Ihr Blick aufs Thema verändert? Wären Sie heute ein anderer, wenn Sie dieses Buch nicht geschrieben hätten?

Ja, ich wäre ein anderer, wäre genauso antijudaistisch konditioniert wie jene, die noch keine «Ermittlungen gegen sich selbst» durchgeführt haben. Historisches Forschen ist ein geeignetes Instrumentarium, um seine eigenen Anschauungen zu hinterfragen.

Wie nehmen Sie den Palästina-Konflikt und die Diskussion darüber wahr? Inwiefern verstellt uns die Schoah den nüchternen Blick auf diese verworrene politische Situation?

Wieso sollte uns die Schoah den «nüchternen Blick» auf den Palästina-Konflikt verstellen? Es war eine Folge der Schoah, dass der Staat Israel am 14. Mai 1948 durch die UNO ausgerufen wurde. Ich würde Ihre Frage deshalb umkehren und sagen, dass ohne die Schoah der nüchterne Blick auf den Palästina-Konflikt verstellt ist.

Wo erkennen Sie heute in Debatten zu Rassismus und Anti-Islamismus ähnliche Muster wie im Antisemitismus? Oder anders gefragt: Wo verbietet sich explizit jeglicher Vergleich, weil er einfach unzutreffend ist?

Man sollte meiner Meinung nach unterscheiden zwischen Rassismus, Xenophobie, Islamophobie und Antisemitismus. Die Juden sind keine andere Rasse als wir, die Opfer der Schoah waren keine Fremden, sondern akkulturierte und naturalisierte Mitbürger deutscher und europäischer Gesellschaften. Islamophobie kann man schon deshalb nicht mit Antisemitismus vergleichen, weil den Muslimen niemals «Gottesmord», Verrat oder antithetische Lehren vorgeworfen werden konnten. Pauschalisierungen sind immer gefährlich.

Haben Sie bereits ein nächstes Buchprojekt in der Pipeline?

Nein. Ich warte zunächst einmal die Reaktionen auf dieses doch ziemlich umfangreiche Werk ab.

zur Person

Klaus Plaar, geboren 1947 im deutschen Essen-Werden, lebt seit 1966 in Zofingen. Während vieler Jahre war der gelernte Fotograf als Redaktor beim Zofinger Tagblatt im Ressort Kultur tätig. Sein Interesse für Literatur, Philosophie, Geschichte und Religionen hat sich in diversen Publikationen niedergeschlagen. Die jüngste erschien 2008 unter dem Titel «Oberst (1832–1908). Patriot, Pionier, Philantrop.» Klaus Plaar ist heute freier Mitarbeiter des Zofinger Tagblatts im Ressort Kultur. Er schreibt auch regelmässig für das Zofinger Neujahrsblatt.

Juden, Jesus, Judas – Antijudasimus und Antisemitismus im Fokus

Vor 35 Jahren begonnen ist Klaus Plaars Werk «Juden, Jesus, Judas. Neues Testament, christlicher Antijudaismus und rezeptionsgeschichtliche Wurzeln der Judenverfolgung von der Antike bis zur Gegenwart» soeben erschienen. Die zwei Bände zeichnen auf, worauf Judentum und Christentum beruhen, wo Gemeinsamkeiten und Brüche liegen, was die christlichen Quellen des Judenhasses sind, wann und wie er entstand, begründet und tradiert wurde, sodass es zur Katastrophe der Schoah kommen konnte. Das Buch trägt die ISBN 978-3-89846-749-0 und ist zu € 148 im Buchhandel bestellbar.