«Das Rütli ist kein Schlachtfeld»

Südostschweiz

Judith Stamm, Präsidentin der Rütli-Kommission, bedauert die Absage der diesjährigen 1.-August-Feier. Angesichts der dauernden Querelen könnte sie sich vorstellen, dass die Verantwortung für das Rütli an eine neue Trägerschaft übergeht.

Mit Judith Stamm sprach David Sieber

Frau Stamm, es hätte die letzte 1.-August-Feier mit Ihnen als Präsidentin der Rütli-Kommission werden sollen. Und dies mit starker Frauenbeteiligung. Sie wäre so etwas wie Ihr Vermächtnis geworden.

Judith Stamm: Geplant war eine Familienfeier, durchgeführt von der Frauenorganisation Alliance F. Von Vermächtnis kann man nicht sprechen. Das ist ein etwas hochgestochenes Wort, weil ich nicht unbedingt die Absicht habe, nach Amtsabgabe in absolutes Schweigen zu versinken.

Dann wäre die Feier eher ein Abschiedsgeschenk gewesen?

Stamm: Es wäre einfach die letzte gewesen. (Seufzt) Ungestört und würdig und im Beisein von Bundespräsidentin Micheline Calmy-Rey und Nationalratspräsidentin Christine Egerszegi, den zwei höchsten Frauen der Schweiz, hätte die Feier vonstatten gehen sollen. In diesem Sinn wäre es für mich als frauenbewegte Politikerin und ehemalige Präsidentin der eidgenössischen Frauenkommission ein toller Abschluss gewesen.

Die Feier wäre ein Symbol für Ihr ganzes politisches Leben gewesen …

Stamm: … und für alle Frauen. So nach dem Motto: «Wir sind angekommen.»

Nun findet die Feier nicht statt. Was geht Ihnen jetzt durch den Kopf?

Stamm: Es ist schade und traurig. Und ich verstehe den Ablauf nicht, der zur Absage geführt hat. Ich kann schlicht nicht nachvollziehen, weshalb man den Rank nicht gefunden hat.

Weil es um Geld ging, das weder Bund noch Kantone sprechen wollten?

Stamm: Wohl auch. Man hat die Rütli-Kommission schlicht ausgebremst. Wir haben keinen Abfahrtsort für die Extraschiffe mit den Gästen gefunden. Kein einziger Hafen am Vierwaldstättersee steht zur Verfügung. Somit ist unser ursprüngliches Konzept – ab Luzern ein Extraschiff und ein Pendeldienst ab Brunnen – nicht umsetzbar. Erst sagte Brunnen Nein, dann die anderen. Und Luzern, das dann einspringen wollte, pochte auf eine Bundesbeteiligung an den Sicherheitskosten …

… was der Bund ablehnte. Können Sie das verstehen?

Stamm: Nein. Das Zerren dauert ja schon lange. Als Bundesrat Samuel Schmid 2005 von den Rechtsextremen niedergeschrien wurde, sagte er, wir als private Gesellschaft seien zu schwach. Da müsse doch der Bund irgendwie mithelfen. Wir hofften darauf, dass Bund und Kantone zusammenspannen würden. Doch dann hiess es, der Bund wolle nicht. 2006 wollten wir Bundespräsident Moritz Leuenberger einladen, um ein Zeichen zu setzen, dass man auf dem Rütli nach wie vor frei reden kann. Nach langem Zögern kam die Absage: Man wolle keine Tradition begründen.

Ist für Sie das Rütli denn der Ort, wo die wichtigste Bundesfeier stattfinden sollte?

Stamm: Nicht unbedingt. Auch wir halten es nicht für nötig, dass jedes Jahr ein Bundespräsident auftritt. Kaspar Villiger kam 2000 als Luzerner, Schmid 2005 als Sportminister. Die Feier ist deshalb eine nationale Feier, weil Leute aus der ganzen Schweiz teilnehmen. Und weil die Wiese vom Bund mythisch aufgeladen wurde. Denken Sie an den Rütli-Rapport General Guisans im Zweiten Weltkrieg. Zudem ist der Bund Eigentümer. Deshalb verstehe ich diese ganzen Querelen nicht. 1.-August-Feiern finden in der ganzen Schweiz statt. Es würde doch kein Ort eifersüchtig, nur weil der Bundespräsident in zwei aufeinander folgenden Jahren auf dem Rütli spricht.

Was bedeutet die Rütli-Wiese für Sie persönlich?

Stamm: Ich finde es sensationell, dass die Schweiz als nationales Symbol eine Wiese hat. Sensationell. Kein Prunkbau, kein Denkmal, kein Schlachtfeld, einfach eine Wiese …

… mit Kuhdreck drauf, wie SVP-Präsident Ueli Maurer kürzlich sagte.

Stamm: Genau (lacht). Natürlich ist das Rütli für gewisse Leute mythisch aufgeladen. Es gibt ja noch Menschen, die glauben, was Schiller geschrieben hat. Dass man dort oben nämlich geschworen und so die Eidgenossenschaft begründet hat – obwohl das historisch längst bestritten wird. Aber es ist eine Wiese, in die jede und jeder etwas hineinlegen kann. Bis zur Gleichgültigkeit. Ich sagte immer, hört, das ist nicht nur eine Wiese der Vergangenheit, sondern auch der Gegenwart und der Zukunft. Dort oben soll jeder in freier Rede sagen dürfen, was ihn beschäftigt in der Schweiz. Und man hört dem Sprechenden zu, auch wenn einem das Gesagte nicht passt. Wenn die selbst ernannten Patrioten mit ihren Glatzen fordern, dass Worte wie EU und Integration nicht fallen dürfen, dann müssen wir dem einen Riegel schieben.

Wie kommt es eigentlich, dass die Glatzen alljährlich aufs Rütli marschieren?

Stamm: Sie haben es 1995 für sich entdeckt. Das Rütli scheint für sie ein Kultobjekt zu sein, sie vergessen dabei aber ganz, dass unsere Vorfahren damals auch über ihre Grenzen schreiten mussten, um einen Bund zu bilden. Offenbar dient die Pilgerfahrt aufs Rütli auch der Einigung der vielen rechten Splittergruppen.

Teilen Sie den Eindruck, wonach plötzlich jede Partei das Rütli für sich vereinnahmen will?

Stamm: Es ist in der Tat interessant, wie sich jetzt plötzlich alle auf dieses Rütli stürzen. Ich muss aber sagen, es ist reichlich spät dafür. Man konnte wochenlang beobachten, wie wir und die Urner sowie die Luzerner Sicherheitsdirektorinnen von Kanton und Stadt für diese Feier gekämpft haben …

«Blocher geht immer auf die Schwachen los.»

Ist die Absage der diesjährigen Feier nicht die Folge von jahrelangen Versäumnissen der Rütli-Kommission?

Stamm: Ich muss nun einmal klarstellen: Die Vorkommnisse im Jahr 2000 wurden medial dermassen hoch gekocht, dass selbst Bundesrat Villiger das Gefühl hatte, auf einer andern Wiese gewesen zu sein. Passiert ist damals Folgendes: Die Rechtsextremen haben die Rede ein paar Mal gestört, was wir als extrem unanständig empfunden haben. Doch nach der Feier sassen wir, inklusive Villiger, im Restaurant – wie die Rechtsradikalen auch. Zu weiteren Gehässigkeiten kam es nicht. Erst 2005 ist dann passiert, was der «Blick» fünf Jahre zuvor als «Schande vom Rütli» bezeichnet hatte: Samuel Schmid wurde in Grund und Boden geschrien.

Nochmals: Hat die Rütli-Kommission diese Entwicklung unterschätzt?

Stamm: Was hätten wir denn tun sollen? Wir hatten keine rechtliche Handhabe. Die Feier ist öffentlich, und diese rechten Gruppen sind nicht verboten. Wir haben eine Hausordnung erlassen, an die sie sich bis 2005 «mehr oder weniger» gehalten haben. 2005 konnte man polizeilich nicht eingreifen, weil es auf dem Rütli keine Fluchtmöglichkeiten gibt. Das hätte die vielen Gäste, darunter zahlreiche Familien, gefährdet. Danach war die öffentliche Meinung so weit, dass wir ein Ticketsystem einführen und die Anzahl Besucher auf 2000 beschränken mussten. Doch zu meinem grössten Erstaunen kam das ganz schlecht an. Nun hiess es, seid ihr wahnsinnig, eine Million Franken auszugeben, nur damit man auf dem Rütli ein wenig reden kann. Unser Fehler war, dass wir zu wenig klar kommuniziert haben, dass die Polizeipräsenz vor allem in Brunnen stattfand, weil man Auseinandersetzungen zwischen Rechten und Linken befürchtete.

Christoph Blocher hat die Kommission harsch kritisiert. Er schäme sich für die schlechte Organisation.

Stamm: Wissen Sie, mir ist aufgefallen, dass Blocher immer auf die Schwächsten losgeht. Das ist sein Verhaltensmuster. Die Scheininvaliden, die Sozialschmarotzer, die Asylmissbraucher. Die Rütli-Kommission war bei dem Spiel zwischen Kantonen, Gemeinden und Bund das schwächste Glied. Darum trampelt er auf uns herum. Fakt ist: Unsere Feier ist organisiert. Wir können nur auf den Knopf drücken. Und sie ist auch finanziert. Der Kredit wurde von der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft längst gesprochen.

Wie ist es zu erklären, dass sich ausgerechnet die SVP, die Meisterin im ausnützen nationaler Symbole, über das Rütli lustig macht?

Stamm: Überhaupt nicht. Im Zusammenhang mit der Wilhelm-Tell-Aufführung auf dem Rütli hat Christoph Blocher mehr als einmal gesagt, welch bedeutender Ort dies sei. Er selbst hat das Schauspiel unterstützt und zum 60. Jahrestag des Kriegsendes auch auf dem Rütli gesprochen. Und Ueli Maurer sagte nach der letztjährigen Feier, durch die Polizeipräsenz sei das Rütli entwürdigt worden.

Der Soziologe Paul Imhof meint, der SVP sei es nie gelungen das Rütli für sich zu vereinnahmen, weil Ihre Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft als FDP- und CVP-Hochburg dies verhindert habe.

Stamm: Das höre ich jetzt zum ersten Mal. Natürlich, die Gemeinnützige Gesellschaft ist ein stark liberales Werk. Aber ich bin zum Beispiel die erste CVP-Frau an der Spitze. Doch dass die SVP irgendwie ausgeschlossen würde, ist absurd. Gegründet wurde die Gesellschaft schon 1810. 1859 kaufte die Gesellschaft das Rütli, weil dort ein Hotel gebaut werden sollte, und schenkte es umgehend dem Bund.

Die Gemeinnützige Gesellschaft repräsentiert auch heute noch die traditionelle Bürgerlichkeit. Die SVP hat hingegen noch immer einen Rebellenstatus.

Stamm: Ich glaube der Hund liegt woanders begraben: Wir engagierten uns – erstmals in unserer Geschichte – in einem Abstimmungskampf. Es ging um die Solidaritätsstiftung, für die keine Partei richtig eintreten wollte und die in der SVP ihre grösste Gegnerin hatte. Ich sagte damals noch, wenn wir damit nur unsere Mitglieder nicht verärgern. Es gab einen oder zwei Austritte, was den Schluss zulässt, dass unser Publikum dieses Engagement guthiess.

Ist für die Gemeinnützige Gesellschaft die Zeit gekommen, die Rütli-Verwaltung abzugeben?

Stamm: Im Schenkungsvertrag von 1860 ist klar festgehalten, dass wir zum Rütli schauen. Dazu gehört ja nicht nur die Feier. Es gibt ein Restaurant, und es finden zahlreiche Anlässe statt. Aber ich schliesse nicht aus, dass man darüber reden könnte.

Ihr Problem wird das nicht mehr sein. Sie treten Mitte September als Präsidentin der Rütli-Kommission zurück.

Stamm: Das stimmt.

Um etwas müssen Sie sich aber noch kümmern: Bundespräsidentin Micheline Calmy-Rey will trotz der Absage aufs Rütli. Wie kommt Sie dahin?

Stamm: Das weiss ich nicht. Und sie auch nicht. Es ist ja auch noch gar nicht klar, ob das Rütli am 1. August überhaupt offen sein wird. Für die Sicherheit ist die Kantonspolizei Uri zuständig. Hat sie Anzeichen, dass eine Gefährdung besteht, muss sie entscheiden, was vorzukehren ist. Und solche Anzeichen gibt es, sagten doch die Rechtsextremen, sie wollten trotzdem kommen. Und die Gegner von links ebenfalls.

Sie sind 1999 aus dem Nationalrat zurückgetreten. Sind Sie froh, nicht mehr dabei zu sein?

Stamm: Ich bin keine Insiderin mehr. Doch ich höre, es sei hektischer und härter geworden, die Positionen unverrückbarer. Zu meiner Zeit konnte man noch parteiübergreifend Lösungen erarbeiten. Darum geht es aus meiner Sicht in der Politik – und nicht um Schaukämpfe. Ich dachte damals manchmal, vielleicht sollte die CVP auch Maximalforderungen stellen und dann den andern die Schuld geben, wenn sie damit nicht durchkommt. Doch der Sache dient das nicht.

Denken Sie, die Wählerschaft wird diese Art des Politisierens wieder einmal honorieren?

Stamm: Ich glaube zwar, dass die CVP sich aufgefangen hat. Doch um mehr als ein, zwei Sitze wird sie bei den Wahlen im Herbst wohl nicht zulegen.

Sie sind eine Frauenrechtlerin der ersten Stunde. Sind Sie zufrieden mit dem Erreichten?

Stamm: Ja. Mit der rechtlichen Situation schon. Wir haben einen Gleichstellungsartikel in die Bundesverfassung geschrieben, die entsprechende Ausführungsgesetzgebung erlassen, ein neues Eherecht beschlossen und und und. Nur bei der Lohngleichheit und der Vereinbarung von Beruf und Familie haperts. Das hängt aber nicht mit Gesetzen, sondern mit der Mentalität zusammen. Doch auch hier sehe ich Fortschritte.

Dafür stagniert der Frauenanteil in der Politik.

Stamm: Das ist so – und gilt für alle Behörden. Es ist nun mal einfach so, dass die zuständigen Auswahlgremien doppelt soviel Zeit einsetzen müssen, um weibliche Kandidierende zu finden. Zudem üben sich viele Frauen im Spagat zwischen Familie und Beruf. Da reicht es einfach nicht mehr für die Politik, die ein hartes Pflaster ist, wenn man etwas erreichen will. Schön haben es Frauen in der Politik nur, wenn sie tun, was die informellen Parteiführer von ihnen verlangen.

In diesem Fall hatten Sie es nie schön in Bern?

Stamm: Doch, doch (lacht). Ich bin halt eine Frau, die das aushalten kann.

Eine Frau, die ihren Mann steht

Judith Stamm gehört zu den Pionierinnen der Schweizer Frauenrechtsbewegung. Und dies beruflich wie politisch. Die heute 73-Jährige war die erste Luzerner Polizistin, die es bis zur Offizierin gebracht hat. Später war sie Jugendanwältin. In die Politik stieg Stamm 1971 ein. Bis 1984 sass sie für die CVP im Luzerner Kantonsparlament. Von 1983 bis 1999 sass die von den CVP-Platzhirschen oft als unbequem empfundene Kämpferin im Nationalrat, den sie im Jahr 1997 präsidierte. Zwischen 1989 und 1996 leitete sie die eidgenössische Kommission für Frauenfragen. Ihr soziales Engagement lebt sie seit ihrem Rückzug aus der Politik in vielen Gremien aus. So in der traditionsreichen Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft (SGG), die auch für das Rütli zuständig ist. Stamm gibt das SGG-Präsidium im Juni und das der Rütli-Kommission im September ab. Zur Nachfolgerin wird im Juni die abtretende Bundeskanzlerin Annemarie Huber-Hotz (FDP) gewählt.