«Der Kappelisacker ist kein Ort der Gewalt»

Der Bund

ITTIGEN / Gemeinderat Jürg Schmid sowie Sara Gerber und Beat Gafner verteidigen den «Chäppu».

Ittigen, und besonders der «Chäppu», als Brutstätte für Gewalt und Rechtsextremismus? Der für das Sozialwesen zuständige GemeinderatJürg Schmid sowie die in der Jugendarbeit tätigen Sara Gerber und Beat Gafner halten diesen Eindruck für völlig verfehlt.

INTERVIEW: Autor: ERICH KOBEL

«BUND»: Medienberichte lassen auf eine Eskalation der Gewalt in Ittigen schliessen – was haben Sie gemerkt?

JUGENDARBEITER BEAT GAFNER: Nichts. Vielmehr habe ich den Eindruck, das Klima sei in den vergangenen Monaten ausgesprochen friedlich gewesen.

JUGENDARBEITERIN SARA GERBER: Wir wissen nichts von offenen Auseinandersetzungen, und auch von der Kappelisacker-Bevölkerung sind keine entsprechenden Hinweise an uns gelangt.

Sie haben aber Kenntnis davon, dass vor einiger Zeit auf offener Strasse ein Asylbewerber zusammengeschlagen worden ist.

GEMEINDERAT JÜRG SCHMID: Ein sehr bedauerlicher Vorfall, bei dem es aber keinerlei Indizien für eine geplante Tat oder die Beteiligung einer organisierten Gruppierung gegeben hat.

GAFNER: Durchaus bemerkt haben wir das Entstehen einer massierten Jugendszene bei der Buswendeschlaufe im Kappelisacker. Zeitweilig versammeln sich dort 30 bis 50 Personen, und die haben sich wiederholt mit Erwachsenen in verbale Auseinandersetzungen verstrickt. Gründe waren vorab der von den Jugendlichen erzeugte Nachtlärm und der hinterlassene Abfall; ferner ist es zu einzelnen Vandalenakten gekommen.Aber davon mal abgesehen ist es wohl so, dass die Jungen allein durch ihre massive Präsenz und vielleicht durch das teilweise etwas unkonventionelle Outfit bei einem Teil der Älteren ungute Empfindungen wecken, eventuell gar ein Gefühl der Bedrohung.

Das auch damit zusammenhängen könnte, dass verschiedentlich Waffen aufgetaucht sind.

SCHMID: In den Schulen sind tatsächlich Luftdruckpistolen, sogenannte Soft-Air-Waffen, aufgetaucht. Wie viele davon es in Ittigen gibt, weiss aber niemand. Ich habe mir sagen lassen, dass eine solche Pistole mehrere hundert Franken koste und problemlos zu kaufen sei.

GAFNER: Ich war selber erstaunt über das Auftauchen dieser Waffen. Vielleicht handelt es sich um eine Art Modetrend wie einst das«Gotcha», das offenbar bereits wieder verschwunden ist.

Gewisse Gewalttendenzen scheint es also immerhin zu geben. Worin könnten sie begründet sein?

SCHMID: Insgesamt hat die Gewaltbereitschaft in der Gesellschaft zugenommen, und da sind die Jugendlichen natürlich nicht ausgeklammert. Täglich sind in den letzten Jahren via Fernsehen Gewaltszenen, zum Beispiel aus dem ehemaligen Jugoslawien, in die sogenannt guten Stuben geflimmert. Auch das lässt gewisse Hemmschwellen sinken.

GAFNER: Dazu kommen die Jugendarbeitslosigkeit und der Mangel an Perspektiven für junge Leute. Es gibt eine Kluft zwischen Jugendlichen mit und solchen ohne Geld; der Verteilkampf ist härter geworden. Da können Frustrationen wachsen. Zudem setzt die Erwachsenenwelt den Jungen kaum mehr Grenzen; alles scheint machbar. Jugendliche möchten sich ihre eigenen Bereiche sichern, aber ist dann mal etwas entstanden, wird es flugs von den Erwachsenen kommerzialisiert, zum Gegenstand von Werbung und Profit gemacht.

GERBER: Die Jungen wachsen in eine Konsumwelt hinein, und dementsprechend verhalten sie sich: Da wird einfach überall etwas abkonsumiert. Bindungen und Verpflichtungen, zum Beispiel im Rahmen einer Organisation, werden eher gemieden.

Sie zeichnen ein etwas gar düsteres Bild. Etwa bei den Pfadfindern und in Sportvereinen sieht’s doch ein wenig anders aus.

GERBER: Auch in Vereinen gibt’s viele, die bloss das Angebot konsumieren und sich darüber hinaus nicht engagieren wollen. Zudem: Die Jugendlichen aus den angesprochenen Organisationen tauchen auch in der freien Szene auf; da lassen sich heute kaum mehr feste Segmente unterscheiden.

GAFNER: Vielen Jugendlichen gemeinsam ist wohl die Suche nach einem Standort, vielleicht auch eine Sinnsuche. Man versucht sich zu spüren und zu positionieren. In einer sinnentleerten Gesellschaft kann dies leicht zu Gewalt, Sucht, Konsum oder in eine Sekte führen.

SCHMID: Es ist heute ja alles so schnellebig, kaum etwas hat über längere Zeit Gültigkeit. Dieser rasante Wandel sowie die enorme Flut anInformationen und Reizen macht es den jungen Menschen schwer, sich zurechtzufinden.

Haben die Jungen überhaupt noch Standorte und Meinungen – wie 1968?

SCHMID: Sie sind zweifelsohne weniger politisch interessiert. Früher wurde ich als Hochschullehrer wenigstens noch mal als Faschist tituliert. . .

GAFNER: Die Politik, wie sie von den Erwachsenen verstanden und betrieben wird, ist den Jugendlichen egal. Sehr wohl sind sie aber bereit,sich gegen Atombomben, Tierversuche und ähnliches zu engagieren. Die Lebensgrundlagen und die zentralen Zukunftsfragen sind es, die interessieren.

GERBER: Junge Menschen haben auch heute noch Träume und Ideale, aber deren Umsetzung ist aus den vorher genannten Gründen schwieriger geworden. Daraus kann Gewalt resultieren, aber ebenso leicht ein Zurückziehen in sich selber.

Zurück nach Ittigen, besonders in den Kappelisacker: Wie weit spielt die Ausländerthematik eine Rolle?

SCHMID: In Zeiten harter Verteilkämpfe, vorab auf dem Arbeitsmarkt, werden Ausländer rasch einmal als Konkurrenten und als Bedrohung empfunden. Und im «Chäppu», mit seinen relativ günstigen Wohnungen, ist eben fast jeder fünfte Bewohner ausländischer Herkunft; da kann es schon Reibungen geben.

GAFNER: Ja, allein schon wegen kultureller Unterschiede. Wenn der Schweizer schlafen will, der Afrikaner aber ein Fest feiert, so liegt da ein Konfliktpotential.

GERBER: Es ist bei uns wie anderswo: Italiener und Spanier sind gut eingebunden. Die Skepsis der Einheimischen richtet sich vorab gegen Asiaten, Afrikaner, Türken – Leute, denen man ihre «Fremdheit» eben ansieht. Aber auch im Kappelisacker gibt es viele gute Beziehungen zwischen Schweizern und Ausländern. Meistens wächst mit dem gegenseitigen Kennenlernen auch das Verständnis füreinander.

GAFNER: Man müsste sich mehr auf den anderen einlassen – hüben und drüben.

SCHMID: Es ist freilich klar, dass die teilweise trostlose Bauweise des «Chäppu» nicht gemeinschaftsfördernd wirkt.

GAFNER: Aber die Bewohnerinnen und Bewohner haben durchaus eine Identität zu ihrem Quartier. Auch wenn etwa übereinander geflucht wird, fühlt man sich doch irgendwie verbunden.

SCHMID: Es ist doch schlicht so, dass statistisch gesehen überall – sagen wir mal fünf Prozent – Querschläger leben. Auch im Kirchenfeld,auch in der Elfenau. Im Kappelisacker wohnen einfach rund 2000 Menschen auf engem Raum; da fällt alles mehr auf.

Aber was ist mit der Skinheads- und Rechtsextremisten-Szene, die es in Ittigen geben soll?

GERBER: Davon haben wir nie etwas gemerkt. Man sollte vorsichtig sein mit schnellen Urteilen: Nicht jeder, der kahlköpfig und in Leder gekleidet herumläuft, ist gleich ein Skinhead oder ein Neonazi. Ittigen kann sicher nicht als Hort der Rechtsextremen bezeichnet werden, auch der «Chäppu» nicht.

Haben denn die dramatischen Medienberichte ein falsches Bild gezeichnet?

GERBER: Sie waren zum Teil undifferenziert, und alle möglichen Faktoren sind kunterbunt vermischt worden. Gewisse Journalisten haben ganz klar dramatisiert – teilweise, obwohl sie von uns mit Informationen versorgt worden sind, welche die aufgegriffenen Erscheinungen stark relativieren.

GAFNER: Ittigen ist nicht besser und nicht schlechter als andere vergleichbare Gemeinden und der Kappelisacker nicht anders als andere vergleichbare Quartiere. Wohlverstanden: Wir nehmen jede Tendenz zur Gewalt ernst und versuchen Konfliktherde zu entschärfen – nicht erst seit dem völlig unangemessenen Medienrummel.

SCHMID: Unser Jugendarbeit-Team wird seine erfolgreiche Tätigkeit, mit voller Unterstützung des Gemeinderats, fortsetzen. Gerade jetzt istes gelungen, den Quartierverein im Kappelisacker zu reaktivieren – ein gutes Zeichen.