«Inakzeptabel»: Trotz Protest duldet die Stadt St.Gallen «arische Kunst» in einem Palace-Atelier

St. Galler Tagblatt. Ein 69-jähriger Deutscher bezeichnet seine Bilder öffentlich als «arische Kunst» und würdigt Juden und Schwarze online herab. Der Künstler malt in einem Atelier der Stadt im Palace-Gebäude an der Zwinglistrasse. Die übrigen Mieterinnen und Mieter sind empört und fordern die Stadt auf, den Künstler sofort rauszuwerfen. Doch der Stadtrat sieht das anders.

Der 69-Jährige sei eigentlich ein freundlicher, älterer Herr, sagt Jonas Huber. «Er macht einen offenen Eindruck, ist auf Anhieb sympathisch. Man kann sich gut mit ihm unterhalten.» Huber hat ein Atelier im grossen Palace-Gebäude am Blumenbergplatz. In den unteren Stockwerken des Hauses, im ehemaligen Kinosaal, finden seit über 14 Jahren Konzerte, Lesungen und Partys statt – die Gäste auf der Bühne kommen aus der ganzen Welt.

In den Stockwerken über dem Saal haben sich verschiedene Personen eingemietet. Das Haus ist eine Art Villa Kunterbunt: Die Gewerkschaft des Verkehrspersonals hat Büroräume gemietet, daneben das SP-Sekretariat, der Verband des Personals öffentlicher Dienste (VPOD) sowie der städtische und kantonale Gewerkschaftsbund. Auch mehrere Agenturen, ein Coiffeursalon und eine Studierenden-WG sind an der Zwinglistrasse 3 beheimatet.

Seit mehr als zwölf Jahren hat auch der 69-Jährige ein Atelier im Gebäude. Er malt farbenfrohe Bilder, meist mit abstrakten Wellenformen. Die Gemälde erinnern an Blumen, Samen oder das chinesische Yin-Yang, dem Zeichen für eine harmonische Koexistenz. Der Künstler wächst in Deutschland auf, studiert und unterrichtet während 15 Jahren Kunst und Deutsch.

Hunderte Beiträge auf Facebook

Als freischaffender Künstler siedelt er 2002 in die Schweiz über. Er fasst schnell Fuss, stellt seine Bilder und Skulpturen auch in St.Gallen aus. Umtriebig ist er auch in der Onlinewelt: Bis zu zehn Beiträge täglich postet er auf seinem öffentlich einsehbaren Facebook-Kanal. Im März 2016 kommentiert er ein neu gemaltes Bild mit:

«Wahre arische Kunst ist heute wichtiger als jemals zuvor. Sie soll uns Kraft, Mut und Zuversicht geben und unsere Sinne frei machen für die Wahrheit, die Schönheit und die Liebe.»

Im Juli 2017 schreibt er: «Ich liebe meine weisse arisch-germanische Rasse! Und wie! Ich möchte sie nicht vermissen und erst recht nicht vermischen. Wir sind die einzigen, die nach dem Vorbild der Götter geschaffen wurden.»

Kirche und Begegnungsfest verunglimpft

Es folgen weitere Beiträge, in denen er sich abschätzig über Juden, Schwarze und Migranten äussert, den Holocaust verharmlost. Er betitelt das Begegnungsfest der Kulturen in der St.Galler Innenstadt als «grusig». Auch zum 2016 gemalten Konterfei einer schwarzen Frau an der Fassade der Offenen Kirche am Unteren Graben äussert er sich ausfällig. Den Buchstaben W im Wort Schwarze hat er dabei absichtlich grossgeschrieben und so das Wort Warze betont.

Im März 2016 schreibt der Künstler nach dem Malen eines Bildes von «arischer Kunst».

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Auch zum 2016 gemalten Konterfei einer schwarzen Frau an der Fassade der Offenen Kirche am Unteren Graben äussert er sich ausfällig. In fast allen Beiträgen hat der 69-Jährige den Buchstaben W im Wort Schwarze absichtlich grossgeschrieben und so das Wort Warze betont.
Der Künstler teilt den Beitrag eines Holocaust-Leugners.

Bilder: Screenshots Facebook

Alle diese Inhalte hat der Künstler mittlerweile von seinem Facebook-Profil gelöscht. In der Vielzahl an weiteren Postings leugnet der Deutsche zudem den Klimawandel, sympathisiert mit mehreren, teils abstrusen Verschwörungstheorien und bezeichnet den früheren US-Präsidenten Barack Obama als «Satansfigur». Eine SBB-Plakatwerbung, auf der ein Mädchen Seifenblasen bläst, kommentiert er mit: «Unfassbar und eine reine Wohltat: Eine ganz aktuelle SBB-Werbung nur mit weissen, blonden Mädels / Frauen, eben europäisch.»

Mieterinnen und Mieter schliessen sich zusammen

Zurück an die Zwinglistrasse: Dort betreibt Jonas Huber mit zwei Kollegen eine Kommunikationsagentur. «Wir sind per Zufall auf die irritierenden Beiträge unseres Nachbarn gestossen.» Das habe sie stutzig gemacht. Das Trio gräbt tiefer und findet immer mehr. «Das ist menschenverachtendes, antisemitisches und rassistisches Gedankengut», sagt Huber.

«Der Mann hat zwei Seiten: Nach aussen charmant, im Netz aber tun sich Abgründe auf.»

Nach den Entdeckungen informiert Huber andere Mieterinnen und Mieter im Haus. Auch sie sind empört. Gemeinsam setzen sie Anfang Dezember einen Brief auf, adressiert an die damalige Baudirektorin und jetzige Stadtpräsidentin Maria Pappa sowie die städtische Immobilienbewirtschaftung.

Denn die Eigentümerin des Gebäudes ist die Stadt St.Gallen. Sie vermietet die günstigen Ateliers, ist für den ordnungsgemässen Gebrauch zuständig. Im Brief steht:

«Künstlerischer Ausdruck von Antisemitismus und Rassismus hat in einem Atelier, das sich im Besitz der Stadt befindet, nichts verloren.»

Und weiter: «Er versteht seine Werke als ‹arische Kunst›, als Ausdruck nationalsozialistischer Gesinnung.» Screenshots der Beiträge hängen sie ihrem Schreiben an.

«Wenn Wand an Wand explizite Rassendiskriminierung und die Erniedrigung von Minderheiten ausgelebt wird, stört dies nicht nur – es schüchtert auch ein.» Elf Mietparteien, insgesamt 17 Personen, unterzeichnen den Brief und fordern die Stadt auf, den Mietvertrag mit dem Künstler sofort aufzulösen und rechtliche Schritte zu prüfen.

Stadtrat Markus Buschor übernimmt das heisse Dossier

Die Sache kommt ins Rollen: Am 15. Dezember 2020 bittet die Stadt den Künstler, Stellung zu nehmen und droht mit der Kündigung des Mietvertrags. Einen Monat später reicht der 69-Jährige eine zehnseitige Stellungnahme ein. In der Zwischenzeit tritt Maria Pappa das Amt als Stadtpräsidentin an und gibt ihre bisherige Direktion Planung und Bau ab. Ihr Nachfolger Markus Buschor übernimmt das Dossier.

Doch erst am 19. Februar empfängt er den Künstler für eine einstündige Unterredung in seinem Büro. Am 8. März schliesslich informiert die Stadt den Mieter, dass man gegenwärtig von einer Kündigung absehe. Einen Tag später wird auch das Mietkollektiv darüber in Kenntnis gesetzt.

Stadtrat Buschor schreibt auf Anfrage, über das Gespräch könne er aus Rücksicht auf die Persönlichkeitsrechte des Mieters im Detail keine Auskunft geben. Nur so viel:

«Er hat mir glaubhaft dargelegt, dass er keine Werke mit ‹arischer Kunst› verfasst. Auch verneinte er mir gegenüber klar, eine nationalsozialistische Gesinnung zu haben.»

Die Vorwürfe der Mieterinnen und Mieter seien «aufgrund von Jahre zurückliegenden Facebook-Einträgen» erhoben worden.

«Ein gefährliches Statement der Stadt»

Jonas Huber hält das Vorgehen und den Entscheid des Stadtrats für äusserst naiv. «Von welchem juristischen Verständnis zeugt es, wenn bei solch offenkundig geäusserter Diskriminierung der Verfasser einfach gefragt wird, ob er tatsächlich diskriminierend sei?» Anstatt dagegen anzutreten, schaue die Stadt weg, sagt Huber.

Auch andere Mieter irritiert das Vorgehen der Stadt. Marcel Angehrn, Inhaber der Branding- und Webagentur Absolut, sagt, Menschenfeindlichkeit und Hass dürfe heute keinen Platz mehr bekommen – egal, ob in der Kunst, der Politik oder den sozialen Medien.

«Dass ausgerechnet die Stadt als Vermieterin diesem rückwärtsgewandten und hässlichen Gedankengut wissentlich Raum zur Verfügung stellt und hier nicht entschlossen Grenzen zieht, ist sehr ernüchternd und ein gefährliches Statement.»

Auch die beiden Palace-Co-Betriebsleiter Fabian Mösch und Johannes Rickli sind schockiert:

«Wir erwarten eine ausführliche Stellungnahme der Stadt, die aufzeigt, wieso sie zu diesem Entscheid gekommen ist.»

Es sei unverständlich, weshalb die Stadt für «arische Kunst» im Gebäude einen Atelierraum zur Verfügung stelle. «Das Palace versteht sich als inklusiven, weltoffenen, feministischen und humanitären Raum, in dem Diskriminierung in jeglicher Form keinen Platz hat.» Sollte nun eine Person im selben Haus öffentlich völkische, tief rassistische und frauenfeindliche Inhalte verbreiten und sogar offen den Holocaust hinterfragen, so sei das inakzeptabel.

Künstler vermutet Racheaktion

Wie rechtfertigt der Maler und Bildhauer selbst die happigen Vorwürfe? Am Telefon sagt er: «Das ist eine verrückte Geschichte und absoluter Schwachsinn.» Er stelle sakrale Kunst her. Die Bezeichnung «arische Kunst» sei aus dem Zusammenhang gerissen. Er habe damals aus einer gewissen Euphorie heraus geschrieben – und meine damit eine ursprüngliche Bedeutung des Wortes.

«Als edle, erhabene und schöne Kunst ist das zu verstehen.»

Er setze sich für die Schönheit der Kunst ein, so der 69-Jährige. Zudem habe ein Arzt seinen Werken schon eine heilende Wirkung auf die betrachtende Person attestiert.

«Die Mieter haben aus dem Wort ‹arisch› einfach nationalsozialistisch gemacht», so der Deutsche. Er vermutet eine Racheaktion. «Die Mieter wollten mich einst mit ungerechtfertigten Reinigungskosten erpressen.» Deswegen sei er auch schon zur Polizei gegangen. Und jetzt wollten ihn die Ateliernachbarn auf eine fiese Art und Weise aus dem Atelier rausekeln. Deshalb hätten sie seine schätzungsweise 15’000 Beiträge, die er in den vergangenen zehn Jahren verfasst habe, nach belastendem Material durchforstet.

«Und betreiben damit jetzt Rufmord.»

Jonas Huber dementiert: «Zu keiner Zeit wurde der Künstler erpresst. Dass sich dieser abrupt nicht mehr an gemeinsamen Reinigungskosten beteiligen wollte, steht in keiner Verbindung zu den Vorwürfen.» Der Künstler verbreite zudem weiterhin diskriminierende Inhalte, sagt Huber.

«Er hat lediglich seine Präsenz von Facebook auf Telegram verlagert.»

Trotz der Kritik, die im Raum steht: Stadtrat Markus Buschor sieht von weiteren Schritten ab. Er schreibt, im Gespräch habe er den deutschen Künstler «unmissverständlich auf die Mietsorgfaltspflichten hingewiesen». «Arische Kunst» werde nicht toleriert. Erhalte man in Zukunft Kenntnis von solchen Werken, werde das Mietverhältnis umgehend gekündigt.