Antisemitismus in der Armee. Was, wenn die herausfinden, dass ich Jude bin?

Der Bund.

Benjamin besucht in Kloten die Rekrutenschule. Und gerät in einen Albtraum.

Zug eins spielt ein Spiel. Dreissig knapp volljährige junge Männer aus allen Ecken der Schweiz haben sich im Halbkreis aufgestellt, die Aufmerksamkeit liegt beim Wachtmeister, der vor ihnen steht. Zug eins gehört zu Kompanie eins, Rekrutenschule 62-2/2019, Waffenplatz Kloten-Bülach. Die jungen Männer stehen am Anfang der Ausbildung zum Richtstrahlpionier; sie sollen lernen, für die Armee ein Funknetz aufzubauen. Es ist Anfang Juli 2019.

«Hollywood! Hollywood!», bellt der Wachtmeister. Nun haben die Rekruten zehn Sekunden Zeit, sich einen Witz auszudenken. Dann muss einer von ihnen vortreten und das Ausgedachte vortragen. Lacht der Wachtmeister, ist alles gut. Lacht er nicht, sind Liegestütze fällig. Oder, wie es in der Armeesprache heisst: zehn Liegen!

Das «Hollywood! Hollywood!»-Spiel kommt in den ersten Wochen der Rekrutenschule in Zug eins oft zur Anwendung, und eine Vorliebe der Rekruten kristallisiert sich heraus: Witze über Juden.

«Warum haben die Duschen in Auschwitz 14 Löcher? Weil Juden nur zehn Finger haben.»

«Welches ist das beste Hotel in Europa? Auschwitz. Es hat eine Million Sterne!»

«Was steht auf dem Kamin von Hitler? Je fetter der Jude, desto wärmer die Bude.»

Einer der Rekruten heisst Benjamin, 19-jährig. Er muss einen plötzlichen Wachstumsschub durchlaufen haben, so lang und dünn sind seine Glieder. Auf einem Foto, das ihn im Sanitätsunterricht mit Kopfverband und aufgemalter Wunde am Unterarm zeigt, grinst er halb amüsiert, halb gelangweilt in die Kamera. Im Gymi war er Klassenbester, nach dem Militär will er Mathematik studieren.

Die RS als patriotische Pflicht

Benjamin ist Jude, aufgewachsen in einer Zürcher Familie, die Mitglied in der Israelischen Cultusgemeinde Zürich ist. Seine Kameraden wissen das nicht. Benjamin hat zwar vor dem Eintritt in einem Formular angekreuzt, dass er sich koscher-vegetarisch ernähre, aber ausdrücklich gesagt hat er nichts.

Benjamin sagt heute, er habe es als seine patriotische Pflicht angesehen, die Rekrutenschule zu besuchen und Militärdienst zu leisten: «Mein Vater hat mir immer bewusst gemacht, wie wichtig das Militär gerade im Zweiten Weltkrieg war.» Aber diese Einstellung zerbröselte unter den Eindrücken der ersten RS-Woche. Nach den ersten Runden «Hollywood! Hollywood!» notierte er in sein Tagebuch:

«Ich bin während meines ersten (Abend-)Ausgangs nach Hause gegangen, um mich für den Zivildienst anzumelden, weil ich erschrocken war und glaubte, dass ich den Militärdienst vielleicht nicht mit meinem Gewissen vereinbaren könne. Und da war dieser Antisemitismus, der da herrschte.»

Eine Woche später schreibt er:

«Im Ausgang wollte ich einfach weg von allem Militärischen und mied sogar den Blick von anderen Rekruten an der Bushaltestelle. Nach langem Suchen dachte ich, der beste Rückzugsort sei die Zuschauerterrasse. Dort wurde ich dann aber auch von anderen Rekruten heimgesucht. Ich fühlte mich so schlecht, dass ich in Tränen ausbrach und mit meiner Mutter den restlichen Ausgang telefonierte, um Dampf abzulassen.»

Aus dem Tagebuch, mehreren Interviews mit Benjamin sowie weiteren Dokumenten lässt sich rekonstruieren, was im Zug eins im Sommer 2019 abgelaufen ist.

Einerseits geht die normale militärische Ausbildung vonstatten: In Formation marschieren, Kampfstiefel wienern, das Sturmgewehr zerlegen und wieder zusammensetzen. Mit dieser Welt kommt Benjamin zurecht. Aber da ist auch diese andere Welt. Im Computerunterricht zeichnet ein Mitrekrut im Zeichnungsprogramm krakelige digitale Hakenkreuze. Im Ausgang falten Kameraden eine Bieretikette so zusammen, dass nur noch die Buchstaben «SS» sichtbar sind. Adolf Hitler und das Dritte Reich sind ständig Thema unter einigen Kameraden, oft mit bewunderndem Unterton. Auch der Leutnant, der Zug eins leitet, spielt mit «seinen» Rekruten das «Hollywood! Hollywood!»-Spiel. Mal sind die Witze rassistisch, mal gehts gegen Frauen, mal gegen die Juden. Nebst der ersten Ungläubigkeit – diese Ignoranz! – fühlt Benjamin Angst in sich aufsteigen: Was, wenn die herausfinden, dass ich Jude bin?

Seine Besorgnis hat auch mit dem «Zimmerchat» zu tun. Die sieben Rekruten, die sich mit Benjamin in der Kaserne einen Schlafsaal teilen, haben auf Whatsapp eine Gruppe eingerichtet. Nach wenigen Tagen postet dort ein Rekrut das Foto einer Hand, deren Finger zu einem Hakenkreuz verformt sind. Daneben das Foto eines stöhnenden Adolf Hitlers. Die Botschaft: So befriedigen sich Nazis.

Die Reaktionen:

Rekrut‬ 1: 😂😂😂😂

Rekrut 2: 😂😂

Rekrut 3‬: 😂😂😂

Später taucht im Chat Adolf Hitlers Gesicht auf, digital auf den Kopf von Anne Frank montiert, dem jüdischen Mädchen, das zum Symbol für den Schrecken des Holocausts geworden ist. Dann das Foto eines Jungen mit Down-Syndrom, in eine SS-Uniform gephotoshoppt. Adolf Hitler im Schulzimmer an der Wandtafel, «ich vergesse, ich vergass, ich vergaste» kritzelnd. Dann ein 174-seitiges PDF-Dokument mit Fotos von jungen nackten Frauen, inklusive Nahaufnahmen ihrer Geschlechtsteile. In diesem Stil geht es wochenlang weiter: Pornografie, Gewaltdarstellungen – und immer wieder Hitler-Fotos, zu Dutzenden.

Benjamin findet, eigentlich seien seine Zugkameraden ganz normale Typen, Monteure, KV-Absolventen, Handballspieler. Umso mehr fragt er sich: Was ist hier eigentlich los?

«Man schaukelt sich hoch»

Zunächst, sagt Dirk Baier, müsse er etwas klarstellen: «Im Jahr 2020 gibt es kaum einen 15-Jährigen, der nicht schon mit harter Pornografie, Gewaltdarstellungen oder antisemitischem Material konfrontiert worden ist. Es sei denn, er hat kein Smartphone.»

Professor Baier ist die erste Station auf der Suche nach einer Antwort auf Benjamins Frage. Der 44-jährige Soziologe leitet das Institut für Delinquenz und Kriminalprävention an der Zürcher Hochschule der Angewandten Wissenschaften, er hat sich auf Kriminalität und Extremismus unter Jugendlichen spezialisiert.

Der Professor forscht auf dem Zürcher Toni-Areal. In einem Sitzungszimmer im achten Stock sichtet und bewertet er Fotos und Screenshots aus dem Chat – «geschmacklos, rassistisch und abwertend», lautet sein Urteil. Der Verlauf ist laut Baier typisch: Ein Gruppenmitglied fängt mit einer Grenzüberschreitung an, und dann schaukelt man sich hoch, die Posts werden immer drastischer. Baier sagt: «Ich bin mir nicht sicher, ob diese Rekruten wirklich Antisemiten sind. Vielleicht gibt es bei einigen von ihnen rechtsextremes Gedankengut, wer weiss. Aber primär teilen die jungen Männer die Hitler-Bilder, gerade weil sie Grenzen überschreiten.»

Können Sie das näher erklären, Herr Baier?

«Es geht letztlich um Status. In der Rekrutenschule treffen junge Menschen zum ersten Mal aufeinander. Zuvor, in der Schule oder der Lehre, waren ihre Rollen im Klassenverband festgelegt. Und nun müssen sie plötzlich ihre Positionen neu austarieren: Wer hat das loseste Mundwerk? Wer kann Stärke demonstrieren? Schockierende, grenzüberschreitende Bilder zu teilen, erhöht den Status. Früher, vor zwanzig Jahren, waren es vielleicht pornografische Zeitschriften, die man einander zusteckte, oder man ging als Gruppe in den Puff. Auch so lässt sich eine Rangordnung herstellen.»

Für Benjamin sei eine solche Situation hochgefährlich, sagt Baier: «Es muss nicht zwingend etwas passieren, wenn er sich als Jude zu erkennen gibt. Aber es gibt ein Risiko, dass er ausgegrenzt wird. Und es gibt auch die Gefahr, dass er physisch angegangen wird.»

Und das «Hollywood! Hollywood!»-Spiel?

«Ein extrem unbeholfener Versuch, Gemeinschaft zu erzeugen. Unbeholfen, weil man damit gleichzeitig auch Autorität signalisiert. Und Beliebigkeit: Der Wachtmeister entscheidet nach einem völlig willkürlichen Kriterium, ob es Liegestütze setzt.»

Könnte man von den Rekruten nicht erwarten, dass sie sich zur Wehr setzen?

«Ich glaube, das funktioniert nicht. Die Rekrutenschule ist eine streng hierarchisch organisierte Zwangsgemeinschaft, und die Armee hat einen Schutzauftrag. Die Intervention muss von einer Autoritätsperson kommen. Ich muss als Vorgesetzter hinstehen und das unterbinden. Es geht dabei nicht um Strafen, sondern um Werte, welche die Offiziere vorleben. Oder anders gesagt: Wenn der Fisch stinkt, dann tut ers vom Kopf her.»

«Schlag doch zurück!»

Mitte Juli schiebt Benjamin in der Kaserne Wochenendwache. In einer Pause sieht er am Anschlagbrett den Kontakt der Armeeseelsorge. Die könnte ich anrufen, denkt er sich, die sind unabhängig. Die Wachtmeister und der Zugführer haben sein Vertrauen verloren.

Beim ersten Seelsorger kommt die Combox – Ferien. Der zweite empfiehlt Benjamin, den psychologisch-pädagogischen Dienst der Armee (PPD) anzurufen, er selbst sei als Pfarrer im Einsatz und in der Kaserne nicht verfügbar.

Um den PPD zu kontaktieren, muss Benjamin via Zugführer einen Antrag an den Kompaniekommandanten schreiben, den nächsthöheren Offizier: «Es dauerte drei Wochen und ging mehrmals hin und her, bis ich einen Termin bekam.»

In diese Zeit fällt ein weiterer Zwischenfall. Benjamin und drei Mitrekruten haben den Auftrag, Essensboxen aus der Küche in eine Kantine zu tragen. Einer der Rekruten, nennen wir ihn Ertan, befiehlt Benjamin, die Boxen zu schleppen. Dieser weigert sich – und kassiert dafür Faustschläge von Ertan. «Schlag doch zurück!», ruft Ertan aus (immer gemäss Benjamins Erzählung). Aber Benjamin weigert sich. Als Ertan wenig später versucht, die zwei anderen anwesenden Mitrekruten als «Lastesel» einzuspannen, interveniert Benjamin erneut, worauf Ertan ihn gegen eine Wand stösst und ihm ein «Scheissjud!» an den Kopf schleudert.

«Ich war völlig baff», sagt Benjamin heute. «Zuerst glaubte ich, er hätte herausgefunden, dass ich jüdisch sei. Aber dann merkte ich: Das war für ihn einfach eine alltägliche Beschimpfung.»

Einige Wochen später – der PPD-Termin hat noch nicht stattgefunden – legt Benjamin während seines Qualifikationsgesprächs bei seinem Zugführer die Karten auf den Tisch. Er sagt, dass er jüdisch sei und dass ihn die ständigen antisemitischen Witze stören. Der Leutnant erschrickt und bietet an, dies in der nächsten Zug-Aussprache zu thematisieren. Benjamin erwidert, er wisse nicht, ob es gut sei, ihn zu «outen», weil er nicht wisse, was dann passiere.

Am 15. August reist Benjamin nach Thun zum PPD, wo er erneut seine Geschichte erzählt. Die Experten nehmen Rücksprache mit dem Zugführer. Sie sagen, er könne sich zwar untauglich schreiben oder sich in den Zivildienst einteilen lassen – und schlagen dann vor, er solle doch offenlegen, dass er jüdisch sei. «Ich erklärte ein zweites Mal, dass ich mir nicht sicher sei, weil ich Angst vor den Reaktionen einiger Kameraden hätte», erzählt Benjamin.

Tags darauf steht in Rüti ZH ein Informationstag für den Zivildienst auf dem Programm. Zurück in der Kaserne, ist Benjamin unentschlossen – was nun? Das Militär durchziehen? Zivildienst machen?

Nach dem Abendessen zitiert ihn der Kompaniekommandant in sein Büro. Er habe vom PPD-Termin gehört, und der Zugführer habe ihm «komische Sachen» erzählt, was denn mit ihm los sei? «Für mich klang es so, als ob ich etwas falsch gemacht hätte, dem Kommandanten ein Problem eingebrockt hätte», sagt Benjamin. Er erzählt seine Geschichte ein drittes Mal. Auch der Kommandant drängt nun darauf, dass er sich «outen» sollte, schlägt vor, er solle doch vor der Kompanie oder dem Zug eine Powerpoint-Präsentation über Zionismus und Israel halten. Benjamin wiederholt seine Bedenken. Die Lösung lautet am Ende, dass er sich übers Wochenende überlegen wird, ob er a) die Rekrutenschule weiterführt und b) sich als Jude outet.

Am Samstag, dem 17. August, ist das Zimmer bereits frühmorgens aufgeräumt, die Mannschaft freut sich aufs Wochenende. Benjamin geht es besser – bis ein Kamerad erzählt, dass es im Keller des Kasernengebäudes offenbar eine Gaskammer gebe. Die Kollegen steigen sofort darauf ein und fangen an, Gaskammerwitze zu reissen. Benjamin schweigt.

Dann wird die Kompanie ins Wochenende entlassen. Benjamin, aufgewühlt von den Gaskammer-Scherzen, überlegt hin und her – und bestätigt schliesslich noch am selben Tag im «E-Zivi»-System seine Anmeldung zum Zivildienst.

Sonntagabend, einrücken. Der Kompaniekommandant fängt Benjamin für ein Gespräch ab. Der Tagebucheintrag dazu lautet:

«Er machte mich darauf aufmerksam, dass er die Wachtmeister nach dem Spiel «Hollywood! Hollywood!» gefragt hatte und dass er ihnen erzählt hat, dass ich jüdisch sei. Sie seien anscheinend bleich geworden und hätten sich an den Kopf gelangt.

Dazu meinte er, ich müsse in die Offensive gehen und mit meinem wahren Ich hervorkommen. Ich erklärte ihm, dass ich mich für den Zivi entschieden hätte und ich mir sicher sei, dass es besser sei, wenn ich niemandem mehr sage, dass ich jüdisch sei. Daraufhin wurde er wütend und meinte, ich hätte doch alles angefangen, als ich das Problem zum PPD geschleppt habe.

Dann warf er mir vor, er wolle nichts davon in den Zeitungen lesen müssen. Es klang, als ob er mir unterstellen wollte, ihm mit der ganzen Aktion nur eins auswischen zu wollen. Schliesslich lief er weg, drehte sich aber nochmals um und rief: ‹Danke vil vil Mal!›»

Einen Tag später gibt Benjamin Uniform und Dienstwaffe ab und verlässt die Kaserne.

Gibt! Es! Nicht!

Nein, das «Hollywood! Hollywood!»-Spiel kenne er nicht, sagt Hans-Peter Walser. Aber die Sache sei glasklar: «Rituale ohne zwingenden dienstlichen Grund sind verboten.» So stehe es in den Reglementen – also keine Kollektivstrafen, keine Mutproben.

Korpskommandant Walser ist der oberste Ausbilder der Armee. Er empfängt auf dem Areal des Berner «Pentagon» zum Gespräch, direkt neben dem Hauptquartier des Schweizer Nachrichtendiensts. Walser trägt die Verantwortung, dass Schweizer Nachwuchssoldatinnen und -soldaten richtig schiessen lernen. Gleichzeitig geben er und seine 2500 Mitarbeitenden auch etwas anderes weiter: den Umgang untereinander. Kameradschaft. Werte.

Das Problem des Falls Benjamin lässt sich als Frage formulieren: Wie kann es sein, dass in der Schweizer Armee im Jahr 2020 Unteroffiziere und Offiziere Antisemitismus zuerst ignorieren und dann, damit konfrontiert, dem Betroffenen nicht helfen können?

Walser holt aus: 140’000 Angehörige hat die Armee, die jedes Jahr rund 5,4 Millionen Diensttage leisten. Die jüngsten, die Rekruten, rücken als 19- oder 20-Jährige ein. Alle haben eine Vorgeschichte, aber nicht alle haben eine gute Erziehung genossen. «Wir sind ein Abbild der Gesellschaft», sagt Walser.

Aber die Armee sei auch eine Zwangsgemeinschaft. Sie habe den Auftrag, ihre eigenen Leute zu schützen. «Bei uns gilt Nulltoleranz. Jeder Diskriminierungsfall ist einer zu viel und tut mir persönlich weh.»

In Walsers Augen – der 56-Jährige ist seit über 25 Jahren Berufsoffizier – hat sich die Armee erheblich gewandelt. «Hamburgertaufen» etwa gehörten grösstenteils der Vergangenheit an, gerade einmal noch habe er in seiner Zeit als Kommandant einer Division davon gehört: «Einer, der zum ersten Mal zum Wiederholungskurs antrat, musste Bier aus einem Kampfstiefel trinken.» Gibt! Es! Nicht!, hallte Walsers Urteil durch die Division. Auch wenn die Einheit das «Ritual» zuvor 30 Jahre lang gepflegt habe.Die Regel ist einfach, sagt Walser: «Hinschauen, nicht wegschauen.» Ein Vorfall muss dem Kompaniekommandanten gemeldet werden, und der kann Hilfe holen, bei der Extremismusfachstelle, der Diversity-Fachstelle, der Militärjustiz, der Armeeseelsorge, dem psychologisch-pädagogischen Dienst, dem Sozialdienst.

«Steht alles im ‹Kochbuch› drin», sagt Walser und zeigt auf das Reglement.

Aber was, wenn Offiziere nicht nach dem Buch kochen?

«Es gibt in unserer Miliz immer wieder Führungsfehler», sagt Walser. «Das gehört dazu. Wir brauchen eine Fehlerkultur.» Wachtmeister, höhere Unteroffiziere und Zugführer seien nun mal sehr jung. «Sie müssen Erfahrungen sammeln können. Oft passieren solche Sachen, wenn etwa ein Wachtmeister überfordert ist.» Da helfe nur ausbilden, ausbilden, ausbilden.

Wichtig sei, dass die Betroffenen sich dann auch melden würden. «Dies passiert wahrscheinlich noch zu wenig. Wir müssen diese Kultur hinkriegen: Ein Soldat, der das Gefühl hat, er werde unrecht behandelt, soll das ohne persönliche Zweifel melden können.»

Und dann wird Walser grundsätzlich. Um diesen Kulturwandel hinzukriegen, müsse sich die Armee noch viel stärker verändern. Walser will mehr Frauen, mehr Diversität – und er befürwortet persönlich einen obligatorischen, weit gefassten «Bürgerdienst» für beide Geschlechter, um die Idee des «Dienstes am Staat» im 21. Jahrhundert neu zu verankern.

Und der Fall Benjamin? Walser entschuldigt sich höflich, den könne er nicht kommentieren. In der Sache ermittelt inzwischen die Militärjustiz wegen allfälliger Rassendiskriminierung.

«Ein massiver Angriff auf die Persönlichkeit»

Nach dem Ende seines Diensts schickt Benjamin eine Zusammenfassung seiner Erlebnisse an den Schweizerischen Israelitischen Gemeindebund (SIG). Der interveniert über einen Kontakt bei der Armee. Das Resultat: Am 8. Oktober, knapp zwei Monate nach Benjamins Austritt, ruft der oberste Kommandant des Waffenplatzes Kloten-Bülach an und entschuldigt sich bei ihm. Hätte er schon im Sommer davon gehört, hätte er früher gehandelt, sagt der Kommandant. Er habe die Militärjustiz eingeschaltet.

Benjamin muss nun sein Mobiltelefon vorlegen. Ermittler werten den «Zimmerchat» aus. Mehrere Rekruten müssen zur Befragung antraben. Allerdings schleppt sich das Verfahren quälend langsam voran – im Januar 2021, über ein Jahr nach Start, befindet es sich laut einem Sprecher der Militärjustiz immer noch im Stadium einer Voruntersuchung. «Das stört mich am meisten», sagt Benjamin, «dass die Armee die Aufklärung so verschleppt.»

Mit dem Ermittler ist ein Gespräch nicht möglich. Aber ein anderer Spezialist ist bereit, die Fotos, Witze und Hitler-Filme einzuschätzen. Der Zürcher SP-Ständerat Daniel Jositsch ist nicht nur Strafrechtsprofessor, als Oberstleutnant in der Militärjustiz ist er laut dem Magazin «Tachles» am militärischen Grad gemessen der zweithöchste Jude in der Armee.

Jositsch reibt sich die Augen, als er den Besucher in seinem Büro an der Uni begrüsst, er leitet gerade einen virtuellen Lehrgang, der Fall Benjamin kostet ihn seine Mittagspause.

Als er die Bilder aus dem Chat sieht, erzählt er zuerst von seinem eigenen Militärdienst: «Ich durchlief meine Ausbildung in den 80ern. Natürlich wurden auch dumme Witze gemacht. Aber damals galt für uns ausnahmslos: Was rechts ist, ist tabu. Die Erinnerungen waren noch frisch. Wir kannten Opfer. Mein Grossvater war im Aktivdienst. Heute haben Sie eine Generation, für die der Zweite Weltkrieg sehr weit weg ist – weniger real. Das macht auch die Grenzüberschreitung weniger real.»

Was aber nicht bedeutet, dass Benjamins Zugkameraden nun kein Problem haben. Laut Jositsch bewegen sich die Chateinträge «im Dunstkreis» der Antirassismusstrafnorm. Da stellt sich unter anderem die Frage, ob ein Gruppenchat eine «Öffentlichkeit» herstellt. Schwieriger Fall, findet Jositsch,den müsste man ganz genau prüfen und die Akten kennen. Aber gleichzeitig sei wohl auch Benjamins Ehre verletzt worden, «diese Fotos sind ein massiver Angriff auf seine Persönlichkeit als Jude». Dabei sei es nicht entscheidend, dass die Rekruten vermutlich nicht wussten, dass sie einen jüdischen Kameraden hatten. «Die haben das meiner Meinung nach billigend in Kauf genommen», sagt Jositsch.

Dann muss er zurück in die Videokonferenz.

Der Schweizerische Israelitische Gemeindebund begrüsst, dass die Armee ermittelt. Benjamins Erlebnisse sind in dessen Antisemitismusbericht ausdrücklich erwähnt und dort als «gravierender Fall» kategorisiert. Solche Geschichten aus der Armee seien selten, sagt Generalsekretär Jonathan Kreutner am Telefon. Nicht aber das antisemitische Material, das seinen Weg in den Chat fand: «Von solchen Schock-Fotos hören wir oft, zu oft.» Kreutner argumentiert ähnlich wie Jositsch: Unter Jugendlichen gehe es heute meist nicht um Antisemitismus, sondern um Provokation, kombiniert mit Unwissen. «Dazu kommen die jahrhundertealten Klischees.»

Ertan erzählt

Es ist schwierig, mit Benjamins Kameraden und Vorgesetzten über ihr Bild des Judentums zu sprechen. Auf einen Kontaktversuch zum Zugführer meldet sich sogleich ein Armeesprecher und erklärt sich zuständig. Die Mitrekruten wollen nicht reden: Einer drückt mehrere Anrufe weg, ein zweiter nimmt das Telefon nie ab, ein Dritter sagt, er könne wegen des laufenden Verfahrens nichts sagen.

Nur einer ist bereit, Auskunft zu geben. Es ist ausgerechnet Ertan – jener Kamerad, der Benjamin laut dessen Erzählung als «Scheissjud» beschimpft hat. Ertan wartet gerade irgendwo in der Zürcher Agglomeration auf einem Parkplatz auf seine Kollegen und findet es merkwürdig, dass ihn jemand anruft, der Journalist sein soll. Per Videochat kontrolliert er den Presseausweis – «okay, cool». Dann erzählt er:

«Es war eine schöne Zeit im Militär. Wir hatten es lustig. Natürlich macht man da Sprüche. Ich bin zum Beispiel Moslem. Da hiess es auch mal: ‹Moslem Pilot? 150 tot›. Es gab Witze gegen Schwarze, Juden, Frauen. Was im Militär passiert, bleibt im Militär.

Benjamin hat mir nie gesagt, dass er jüdisch ist. Ich hatte keine Ahnung. Ich finde, er hätte sich wehren sollen. Hätte er das gemacht, hätten die anderen sofort aufgehört. Bei mir – ich bin nicht gerade dünn – rief ein Wachtmeister mal, als ich am Boden vorwärtsrobben musste: «Robb schnäller, dänn gits Schweinefleisch!» Das sagte ich dem Höheren, und dann war fertig. Wenns zu weit geht, dann sagt man eben ‹Jungs, chilled mal›.»

Zum «Scheissjud»-Zwischenfall sagt Ertan: «Ich kann mich nicht erinnern, dass ich mit Benjamin je eine Auseinandersetzung hatte. Bis in die dritte Sek war ein Jude einer meiner besten Freunde. Benjamin war immer ein ruhiger Typ. Ein liebe Siech. Aber ich verstehe schon: Es ist hart, wenn man sich so verstecken muss.»

«Nie wieder schweigen»

Benjamin, inzwischen 20-jährig, hat sein Mathestudium an der ETH angefangen. Als er am Telefon von Ertans Version der Dinge hört, wird er laut: «Das stimmt nicht, was er sagt. Natürlich ist das passiert.»

Und was denkt er über den Punkt, dass er sich hätte wehren sollen? Dass er seine Kameraden hätte zurechtweisen sollen?

«Das habe ich mir auch oft überlegt. Wenn ich zurückdenke, ging das damals einfach nicht. Ich war eingeschüchtert von der Organisation und den Offizieren, ich fürchtete die Reaktion der anderen. Ich finde auch heute nicht, dass ich damals einen Fehler gemacht habe. Es waren nicht meine Witze und Hitler-Bilder. Ich finde, das gehört nicht in die Armee, das gehört nicht ins Berufsleben, das gehört nirgendwohin.»

Trotzdem, hängt Benjamin an, habe ihn die ganze Geschichte verändert. «Heute mache ich es anders. Wenn jemand einen antisemitischen, rassistischen oder sexistischen Spruch macht, dann sage ich sofort etwas. Ich werde nie wieder schweigen.»


Ein 50-Prozent-Pensum gegen Extremismus

Die Armee unterhält eine Fachstelle Extremismus, die mit einer halben Stelle dotiert ist. Im Jahr 2019 beschäftigte sich die Stelle mit 55 Anfragen und Meldungen, die überwiegende Mehrheit davon drehte sich um Rechtsextremismus. Antisemitismus war, wie schon in den Jahren zuvor, ein Randphänomen. Nebst der Beratung von Führungskräften leitete die Fachstelle auch 15 Schulungen. Ein 50-Prozent-Pensum auf 140’000 Armeeangehörige – das klingt nach wenig. Man habe schon mehrfach darüber diskutiert, sagt Hans-Peter Walser, Chef des Kommandos Ausbildung: «Wir sind der Meinung, dass die Ressourcen ausreichen.» (ms)


Mario Stäuble ist Co-Chefredaktor des «Tages-Anzeigers». Der Jurist studierte an der Universität Zürich, 2011–2012 absolvierte er das Volontariat beim «Tages-Anzeiger», ab 2013 war er Mitglied des Tamedia-Rechercheteams. Er ist Träger des Zürcher Journalistenpreises (2018).