40 Polizisten warteten in Hamburg auf den Neonazi aus der Schweiz

Tages-Anzeiger vom 07.05.2012

Der 24-jährige Schweizer, der in der Nacht auf Samstag im Niederdorf einen Mann niederschoss, ist hinter Gittern. Er war nach Hamburg geflohen, wo Gesinnungsgenossen und seine Freundin leben.

Simon Eppenberger/Georg Gindely

40 deutsche Polizisten haben in der Nacht auf heute Montag in Hamburg auf Sebastien N. gewartet. Nachdem das deutsche Bundeskriminalamt BKA einen Hinweis erhalten hatte, rückten die Einheiten der Deutschen Bundespolizei sowie der Hamburger Polizei an den Hauptbahnhof sowie den Bahnhof Harburg aus.

Dort wurde der ICE 992 erwartet, in dem sich der 24-jährige Schweizer befand. Als der Zug um 2.58 in Hamburg-Harburg hielt, stieg der Neonazi mit den auffälligen Tätowierungen am Hals aus. Die mit Maschinenpistolen bewaffneten Polizisten konnten ihn widerstandslos verhaften, wie der Sprecher der Bundespolizei, Rüdiger Carstens, sagt.

Zuvor hatten die Beamten den Bahnsteig geräumt und Auf- und Abgänge aus Sicherheitsgründen abgesperrt. Der Aufwand war nötig, denn «der Täter hatte eine scharfe Pistole im Rucksack», so Carstens. Ob es dieselbe Waffe ist, mit der der Neonazi in der Nacht auf Samstag im Zürcher Niederdorf einen 26-jährigen Mann niedergeschossen und schwer verletzt hat, können die Behörden noch nicht sagen.

Auftritt mit ehemaligem SD-Nationalratskandidaten

Sebastien N. dürfte gleich mehrere Gründe gehabt haben, nach der Tat Richtung Hamburg zu flüchten. Seine Freundin lebt laut dem Solothurner Obergericht, das sich im Januar ausführlich mit N. befasste, in Buchholz in der Nordheide, einer 20 Kilometer südlich von Hamburg gelegenen Kleinstadt. Zudem pflegt N. seit Jahren Kontakte zur rechtsradikalen Szene in Norddeutschland. Wie Fotos zeigen, hat er bereits 2008 an einer grossen Nazi-Demo in Hamburg teilgenommen. Dabei war er nicht der einzige Schweizer.

Mit ihm zusammen trat damals auch Jonas Schneeberger auf. Der Rechtsextreme wollte im vergangenen Jahr für die Schweizer Demokraten in den Nationalrat ziehen. Allerdings musste er seine Kandidatur vor dem Wahltag zurückziehen. Grund war ein Bild, das den Berner Oberländer zeigt, wie er im Konzentrationslager Buchenwald die rechte Hand zum Hitlergruss erhebt – vor einem Foto mit ermordeten Juden.

SA-Zeichen auf dem Unterarm

Laut André Aden, Journalist und Kenner der rechtsextremen Szene in Norddeutschland, wohnte Schneeberger in den vergangenen vier Jahren zumindest zeitweise in Hamburg. Dort gehöre der Berner der Gruppe «Weisse Wölfe Terrorcrew» an. Diese Organisation ist eine Art Fanclub der Rechtsrock-Band Weisse Wölfe und wird vom deutschen Verfassungsschutz beobachtet. Sie weist laut der Bundesstelle ein «ein deutlich niedrigeres Durchschnittsalter und eine deutlich ausgeprägtere Gewaltaffinität» als bisherige Neonazi-Gruppen auf.

Ob Sebastien N. ebenfalls zu den Weissen-Wölfe-Anhängern gehört, ist nicht bekannt. Zumindest ist er laut Aden als Sympathisant einzustufen. Aufgefallen ist der Grenchner in Hamburg durch sein Auftreten an der Demo 2008. Er lief zuvorderst mit und zeigte sich offen mit deutschen Neonazis. Dabei präsentierte er auch das Tattoo auf dem rechten Unterarm. Es ist das Zeichen der Sturmabteilung SA, einer paramilitärischen Truppe von Adolf Hitlers Partei NSDAP. Die Verwendung des Zeichens ist strafbar.

Zustand des Opfers ist stabil

Die Schweiz wird nach Angaben der Zürcher Kantonspolizei ein Auslieferungsgesuch stellen. Das Opfer aus Zürich befindet sich schwer verletzt, aber in stabilem Zustand im Spital. Es konnte noch nicht vernommen werden. Die Kantonspolizei kann im Moment noch keine Angaben darüber machen, wie es zum Streit vor dem McDonalds an der Niederdorfstrasse 30 kam und ob sich Opfer und Täter kennen.

Sebastien N. ist bei der Polizei und den Behörden bekannt. Das Obergericht Solothurn hat den Grenchner Anfang Januar zu 39 Monaten Gefängnis verurteilt. Zur Last gelegt wurden ihm über 40 Delikte, unter anderem Rassendiskriminierung, Drohung, Gewalt gegen Beamte und Tätlichkeiten. So hatte N. 2006 einen Albaner mit einem Schlagring attackiert und den Angriff einer befreundeten Gruppe Neonazis auf einen Jugendlichen gefilmt. Zwei Männern brach er 2007 mit einem Tritt und einem Kopfstoss die Nase.

Öffentlich Nazi-Lieder gesungen

Einem Betrunkenen trat er im gleichen Jahr derart heftig ins Gesicht, dass dieser eine Gehirnerschütterung erlitt. Zudem sang N. in der Öffentlichkeit Nazi-Lieder, zeigte den Hitlergruss und schrie Propagandaparolen. Vor Gericht zeigte sich: N. hatte eine schwierige Kindheit. Er wurde von Pflegefamilie zu Pflegefamilie und von Heim zu Heim geschoben.

In der rechtsradikalen Szene fand er laut eigenen Angaben eine Heimat. Das Obergericht verzichtete darauf, N. nach dem Urteilsspruch in Sicherungshaft zu nehmen. Er sollte erst ins Gefängnis gehen müssen, wenn das Urteil rechtskräftig wird. Der Verurteilte hatte bereits 16 Monate in Untersuchungshaft gesessen und lebte bis zum Urteil über eineinhalb Jahre in Freiheit. In dieser Zeit verübte er kein Delikt und hielt sich an die Auflagen der Behörden. Er hatte eine feste Arbeitsstelle, einen festen Wohnsitz und nahm seit 2008 das Medikament Antabus ein, um seine Alkoholsucht zu bekämpfen.

«Aufgrund dieser guten Berichte beschlossen wir, auf die Anordnung einer Sicherungshaft zu verzichten», sagt Richter Hans-Peter Marti. Dazu beigetragen habe auch die Tatsache, dass N. zwar viele, aber keine besonders schwerwiegenden Delikte verübt hatte. Aus diesem Grund hätte auch keine Verwahrung ausgesprochen werden können.

Bereits im Januar abgetaucht

Mit dem Strafmass war N. nicht einverstanden und sprach von einem «Gesinnungsurteil»: Nur wegen seines nationalsozialistischen Gedankenguts habe das Gericht eine so lange Strafe gewählt. N. legte Berufung beim Bundesgericht ein – und verschwand. Die Bewährungsbehörde meldete dem Obergericht Ende Januar, dass N. nicht mehr auffindbar sei. Doch es geschah nichts.

Der Oberrichter Marti spricht von einer «damals gesetzlich nicht geregelten Situation». In der Eidgenössischen Strafprozessordnung habe bis vor kurzem eine Vorschrift, die regle, wer aktiv werden müsse, wenn sich nach dem Urteil und vor Antritt der Strafe etwas Wesentliches ändere. Aus diesem Grund habe niemand reagiert – weder Gericht, Staatsanwaltschaft noch Vollzugsbehörde.