Zur Dramaturgie eines Vorwurfs

Das Lamm.

Der Tagesanzeiger druckt einen haarsträubenden antisemitischen Artikel ab. Die darauffolgende Debatte wirft Schlaglichter auf ein linkes Problem und eine rechte Strategie. 

Man kann einen Artikel über eine Frau aus der jüdischen Gemeinde Zürichs kaum schlimmer beginnen als kürzlich ein junger Journalist im Tagesanzeiger. Erst wird die porträtierte FDP-Politikerin als Sparkassen-Kundenberaterin gezeichnet, die Kredit mit „vernünftigem Zins“ vergibt, um sie im nächsten Absatz ins Zentrum eines Spinnennetzes zu setzen. Das Vorurteil über jüdische Menschen als geschickte Geldverleiher:innen hat seinen Ursprung im Mittelalter und lebt bis heute fort. Das ebenfalls alte Bild der Spinne wiederum wurde in der Hetze der Nationalsozialisten, aber auch in der antisemitischen Mobilisierung des Stalinismus bewirtschaftet.

Das Urteil könnte eindeutiger nicht ausfallen: Das Porträt mit dem groben Titel „Die Frau mit dem Spinnennetz“ bedient auf nicht mal 5’000 Zeichen mehrere antisemitische Stereotype. Am 24. Januar rutscht es durch die Qualitätskontrolle von Tamedia, zwei Tage später veröffentlicht der Schweizerische Israelitische Gemeindebund (SIG) eine Mitteilung dazu. Am selben Tag entschuldigt sich die Tamedia-Chefredaktion und verspricht Massnahmen, damit sich so etwas nicht wiederholt. Das Opfer, die porträtierte Politikerin, meldet sich zu Wort und bedankt sich für den klärenden Kommentar. Der Journalist schliesslich bittet um Verzeihung und versichert, „aus diesem Fehler zu lernen“.

Die Debatte hat sich zu diesem Zeitpunkt längst verselbstständigt. Auf Twitter sind alle aufgetreten, die sich eine Rolle im Drama zugedacht haben: Linke und Journalist:innen verteidigen den linken Journalisten mit Verweis auf dessen weisse Weste. Rechte schreiben die antisemitische Verfehlung zur Eigenschaft des Autors selbst hoch: Antisemit! Ein paar Besonnene mahnen noch zu Differenzierung und Genauigkeit, da sind schon die beiden freiesten Medien der Schweiz der Affäre habhaft geworden: Die Weltwoche sieht im Artikel ein „vulgärsozialistisches Weltbild“ am Werk. Der Nebelspalter entdeckt die „Fake News der Woche“. Die berechtigte und notwendige Kritik ist zum rechten Instrument entstellt. Das Unglück folgt nun einer Dramaturgie, die eine Debatte so unendlich vertrackt macht.

Die Linke hat ein Problem

Am Anfang steht aber eine Krux mit der Linken. Diese bietet für Kritik immer wieder Anlass, wenn sie mit schlafwandlerischer Sicherheit antisemitische Stereotype und Fehlleistungen produziert: Bösewichte mit sechszackigen „Sheriffsternen“, Gebilde mit weltumgreifenden Kraken, Plakate mit düsteren Marionettenspielern. Oder wie 2016 in der Juso-Kampagne zur Spekulationsstopp-Initiative: Eine Karikatur, in der ein Mann mit klischierter Nase, schwarzen Koteletten und Hut als Symbol der „internationalen Finanzlobby“ fungiert. Als Medien das krasse Bild kritisierten, entschuldigten sich die Jungsozialisten, entfernten die Karikatur und schrieben: „Wir werden den Vorfall vertieft behandeln und sicherstellen, dass es nie wieder zu so einem Fehler kommt.“

So läuft es meist, wenn man die Linke auf den antisemitischen Gehalt von Bildern, Denkmustern oder Formulierungen hinweist. Bloss: Warum sich das beständig wiederholt, wird selten diskutiert. Auch im Falle des nun verhandelten Porträts gab es keine redliche Debatte darüber, warum in einem kurzen Text gleich mehrere antisemitische Stereotype bedient werden.

In den Artikulationen kommt zum Ausdruck, was tief in europäische Geschichte, bürgerliche Gesellschaft und kapitalistische Wirtschaft eingeschrieben ist: christliche Tradition, nationale Gemeinschaft und die ökonomische Spaltung in Produktion und Zirkulation, Profit und Zins. Die Linke als kritischer Teil dieser Gesellschaft erzeugt aber besondere Bilder und Denkfiguren, mit denen sie oftmals glaubt, den Kapitalismus zu kritisieren. Dabei reproduziert sie nicht nur aufgeladene Topoi, sondern produziert auch kreuzfalsche Vorstellungen über den Kapitalismus. Statt das umfassende gesellschaftliche Verhältnis zu fassen, werden bestimmte – teils imaginierte – „Auswüchse“ dargestellt und angeprangert: Das Finanzsystem, Geheimvereinbarungen, „Fremdherrschaft“ oder besonders mächtige Personen. Das ist nun kein handfester Antisemitismus, aber solche Vorstellungen erzeugen immer wieder ähnliche Bilder und sie können sich zu einem Weltbild vermengen. Das folgt aber keinem ausgebildeten „Antikapitalismus“, wie ihn Christoph Mörgeli in der Weltwoche am Werke sehen will, sondern Vorurteilen, Affekten und Vereinfachungen der gesellschaftlichen Verhältnisse.

Das beste Antidot dagegen wäre, sich systematisch mit dem Kapitalismus, aber auch dessen ideologischen Folgen auseinanderzusetzen. Es gäbe genügend fundierte Literatur von Linken dazu: Theodor W. Adorno, Jean Améry, Detlev Claussen oder Moishe Postone sind nur einige Autoren, die zugleich aber Kritiker der Linken waren. Mit gutem Grund. Die Linke hat ihre Verstrickungen in diese Gesellschaft und deren Tradition zu wenig reflektiert, so bleiben ihre kritischen Interventionen oftmals darin befangen. Antisemitismus – und das ist an dieser Stelle ein analytischer Begriff – registriert sie vor allem dann, wenn er brachial von rechts formuliert wird. 

Die rechte Strategie ist ein Problem

Dort hat sich mittlerweile eine Strategie durchgesetzt, die man nun in der Debatte um den antisemitischen Artikel im Tagesanzeiger beobachten kann. Die Rechte bewirtschaftet das Versäumnis der Linken, um sich reinzuwaschen und ihre Agenda zu setzen. Am lautesten polterten in der „Diskussion“ Claudio Zanetti und Christoph Mörgeli, beides langjährige Mitglieder der SVP des Kantons Zürich. Diese schaltete noch 1997 ganzseitige Zeitungsinserate gegen den „sozialistischen und goldenen Internationalismus“, ein Begriff, der in der NS-Propaganda für „Weltjudentum“ steht. Die Sektion machte immer wieder von sich reden, etwa als Christoph Blocher 2016 die SVP als die „neuen Juden“ ausgab. 2020 warb die SVP Zürich schliesslich mit dem Berliner Holocaust-Mahnmal für die „Begrenzungsinitiative“. Das sind keine Versehen, hier wird bewusst mit Vorurteil und Tabubruch gearbeitet. Eine alte Strategie der Rechten.

Eine besondere Stilblüte produzierte die Weltwoche, in der sich nun Mörgeli als aufrechter Ritter gegen den Antisemitismus inszenieren kann. 2018 warnte sie auf einer Titelseite vor einem „neuen Antisemitismus“ in Europa und glorifizierte zugleich Viktor Orban als Segen für den Kontinent. Der ungarische Staatschef spielte in seiner Kampagne gegen George Soros gekonnt auf der Klaviatur des Antisemitismus, die auch Chefredaktor Roger Köppel einige Nummern später in einem Editorial anschlug, als er vom „internationalen Netzwerk des amerikanischen Linksaktivisten George Soros“ schrieb.

Das soll die linken Probleme nicht kleinreden oder die Verfehlungen des Journalisten in Abrede stellen, in dessen Text Bilder aus dem auch links tradierten antisemitischen Fundus eingeflossen sind. Aber es zeigt eines: Mit Redlichkeit hat der rechte Furor nichts zu tun. Vielmehr handelt es sich um eine Strategie, die eine redliche, um Aufklärung bemühte Debatte praktisch verunmöglicht und darum allen schadet – ausser den rechten Dramaturgen. Man sollte ihrem Manöver nicht auf den Leim gehen und stattdessen die blinden Flecken und Verstrickungen der Linken aus eigener Motivation reflektieren, diskutieren und zu überwinden versuchen. Denn das linke Projekt einer Welt ohne Ausbeutung und Unterdrückung ist im Gegensatz zur rechten Volksgemeinschaft universalistisch, zielt auf allgemeine menschliche Emanzipation. Antisemitismus ist das exakte Gegenteil.