Wie soll die Stadt mit Extremisten umgehen?

Der Ladnbote. Neonazis, Jihadisten und Corona-Skeptiker Die Stadt Winterthur hat zusammen mit Genf, Bern und Basel ein Buch zum Umgang mit Extremisten herausgebracht. Ein Beispiel aus Winterthur illustriert das Vorgehen.

2016 gründete Winterthur die Fachstelle Extremismus und Gewaltprävention (FSEG) als Reaktion auf ein Geschwisterpaar, das nach Syrien zum Islamischen Staat gereist war. Die Stadt war damals nicht allein. Vergleichbare Fachstellen wurden auch in Bern, Basel und im Kanton Genf gegründet. Diese vier Stellen haben sich nun zusammengetan und ein Handbuch zum Thema Radikalisierung in der Schweiz veröffentlicht. Die Kernfragen sind: Wann definieren die verschiedenen Stellen eine Situation als Radikalisierungsfall? Und wie wird dann vorgegangen? Im Buch beschreiben die Autoren mehrere Fälle.

Beispielsweise haben die Betreiber eines Kampfsportzentrums sich bei der Fachstelle gemeldet, weil sie sich Sorgen machten, dass sie möglicherweise extremistischen Personen Kampfsporttechniken vermitteln. Der Fall ist stark anonymisiert. Recherchen dieser Zeitung zeigen aber: Es dürfte sich dabei um einen Fall aus Winterthur handeln.

Die «Junge Tat» im Kampfsportzentrum

Denn ein Mitglied der rechtsextremen «Jungen Tat» trainierte in einem Winterthurer Kampfsportzentrum. Die «Junge Tat» ist die derzeit wohl bekannteste Neonazi-Gruppierung der Schweiz. Vor zwei Jahren geriet sie in Winterthur noch unter dem alten Namen «Eisenjugend Schweiz» erstmals wegen antisemitischer Sticker in die Schlagzeilen. Zuletzt kaperte die Organisation eine Corona-Demonstration in Bern. Diese Redaktion zeigte, wie die Organisation ihren Weg an die Spitze der rechtsradikalen Szene geschafft hatte. Wie Videoaufnahmen belegen, war die Gruppe aber auch bei der grossen Corona-Demonstration im September in Winterthur präsent.

Hier hat die Organisation auch ihren Ursprung. Ihr Anführer, ein ehemaliger Kunststudent, wohnt in Winterthur, ebenso ein anderes Mitglied: Thomas*. Dieser trainierte in einem Kampfsportzentrum in Oberwinterthur, darüber berichtete zuerst das linke Infoportal Barrikade.info.

Info von linkem Kollektiv

Ferdi Hutter, der Betreiber des Kampfsportzentrums, wurde vom Kollektiv «Recherche gegen Rechts» auf die Gesinnung seines Kunden aufmerksam gemacht. In einer Mail outeten die Absender Thomas als Rechtsradikalen. Hutter sagt heute: «Ich hätte mir ein klärendes Gespräch mit den Aktivisten von ‹Recherche gegen Rechts› gewünscht.» Er fragte sich: «Was ist dran an den Vorwürfen?» Doch die Informanten reagierten nicht auf seine E-Mails. Daraufhin habe er sich Hilfe bei der FSEG der Stadt Winterthur geholt.

Die FSEG ist eine Anlaufstelle für alle Fragen rund um Radikalisierung und Extremismus. Man wolle Wissen im Bereich von Radikalisierung, Extremismus und Gewalt vermitteln und Personen in diesen Gebieten vernetzen, erklärt Serena Gut, Leiterin der Fachstelle. Zudem berät die FSEG auch Vereine bei Vorfällen.

Meist seien es Personen aus dem Umfeld von Betroffenen, die sich an die Fachstelle wendeten. «Die Fallberatung ist die Kernkompetenz der Anlauf- und Fachstellen», heisst es dazu im Handbuch.

Im Winterthurer Fall empfahl die Fachstelle, dass der junge Mann im Kampfsportzentrum behalten werden solle. «Ein Verein kann für potenziell Gefährdete als Schutzfaktor gegen Radikalisierung und als Alternative zu ihrem extremistischen Milieu sein», sagt Gut von der Fachstelle.

Zweite E-Mail und Ausschluss

Die Leitung des Clubs folgte dem Rat der Fachstelle. Bis zwei Wochen später eine zweite Mail eintraf, diesmal von Barrikade.info. Darin vier Bilder von Thomas. Eines zeigt ihn mit vier Gleichgesinnten. Die Gesichter haben sie mit dem Symbol des SS-Totenkopfverbandes abgedeckt. Im Dritten Reich war diese Division zuständig für die Überwachung und den Betrieb der Konzentrationslager.

Die Abmachungen zwischen Thomas und dem Kampfsportzentrum brachten nichts. Thomas kehrte zurück in die Szene. Darauf wandte sich Hutter erneut an die Fachstelle und diese empfahl einen Rausschmiss. Der damalige Fachstellenleiter Urs Allemann habe mehrere Gründe genannt, warum man dem Mitglied den Zutritt verbieten solle, so Hutter. Das tat die Kampfsportschule. «Es ging dabei auch um unseren Ruf.»

Nur wenige sind wirklich radikalisiert

Thomas dürfte ein Einzelfall sein. Die Autoren schreiben: «Nur bei einem kleinen Teil der Fallmeldungen handelt es sich tatsächlich um ideologisch verfestigte politische oder religiöse Radikalisierungen.» Es gehe vor allem um die Sensibilisierung von Fachpersonen.

Der Leiter des Kampfsportzentrums hat mittlerweile seine Lehren aus dem Fall des rechtsradikalen Mitglieds gezogen. «Der Kampfsport hat einen gewissen Reiz für solche Personen», sagt Hutter. Als Beispiel für diese These dient ein Blick in die Vergangenheit. 2015 reiste der zweimalige Thai-Box-Weltmeister Valdet Gashi zum Islamischen Staat. Der «Landbote» titelte damals: «Vom Box-Center in den Jihad».

Im Oberwinterthurer Kampfsportzentrum verlangen die Betreiber von neuen Mitgliedern einen Strafregisterauszug und behalten sich vor, beim Arbeitgeber Referenzen einzuholen. Davon versprechen sie sich eine abschreckende Wirkung. Und Thomas? Soweit der ehemalige Trainer informiert ist, trainiert der junge Mann mittlerweile in einem anderen Zentrum – vermutlich mit Gleichgesinnten. «Es ist traurig.»

* Name geändert