Wege aus dem braunen Sumpf

OltenerTagblatt

Rechtsextremismus Eine Studie über die Ausstiegsmotivation von Rechtsextremen zeigt: Viele treten aus Frust und Übersättigung aus. Erledigt sich die Szene von selbst?

Nicolas Gattlen

Jeder Mensch strebt nach Selbstverwirklichung und Erfolg. Das ist bei Rechtsradikalen nicht anders. Bleiben diese Bedürfnisse unerfüllt, macht sich Frust breit – und der Austritt aus der Szene lässt oft nicht lange auf sich warten. Das bestätigt eine gestern vorgestellte Nationalfondsstudie unter der Leitung des Basler Soziologieprofessors Ueli Mäder. Die Langzeitstudie mit 40 Jugendlichen ging der Frage nach, was diese dazu motiviert, aus der Szene auszusteigen. Warum bleiben die einen, und die anderen gehen? Weiter interessierte, wie sich ehemalige Rechtsextreme neu in der Gesellschaft orientieren.

Um die Ausstiegsmotivation zu ergründen, muss man erst die Einstiegsmotivation verstehen. Die Wissenschafter unterscheiden dabei zwei Typen: den kompensatorischen und den politisch-ideologischen. Beim kompensatorischen Typ stehe die Befriedigung emotionaler und psychischer Bedürfnisse im Vordergrund. Häufig handle es sich um Jugendliche mit Haupt- und Realschulabschluss. Sie seien weniger gefährdet für eine längere rechtsextreme Karriere, meinen die Forscher. Anders der «ideologische Rechtsextremist»: Dieser ist früh auf Werte- und Sinnfragen fixiert. Er will die gesellschaftlichen Verhältnisse ändern und bleibt meist länger in der Szene haften.

Erstaunliches Ergebnis der Studie: Die Familie spielt bei der Ausstiegsmotivation nur eine Nebenrolle. Den Forschern ist sogar eine «gewisse Passivität» bei den Eltern aufgefallen. «Einige Eltern interpretieren die Gruppenmitgliedschaft als kurzzeitiges Phänomen im Rahmen der Identitätssuche. Die politische Meinungsbildung wird dem Jugendlichen überlassen». Diese passive Haltung sei teilweise auch Ausdruck von Verunsicherung, Angst und Überforderung. Eine ideologische Gegenposition verbunden mit der Aufrechterhaltung der Beziehung würde indes einer Radikalisierung entgegenwirken.

Entscheidender aber sind die Gleichaltrigenbeziehungen. Und die rigiden Strukturen der Szene: Diese engen die Entwicklung des Individuums massiv ein. Freundschaften verlaufen meist am Rande, persönliche Probleme werden nicht zugelassen. «Diese defizitären Beziehungsmuster führen bei internen Konflikten schnell zu einem Splitting», wissen die Forscher.

Insbesondere der kompensatorische Typ leide früher oder später an Übersättigung: «Das Gruppenleben gestaltet sich zunehmend monoton, Andauernde Konfrontationen mit der Polizei und gerichtliche Verfahren werden zur Belastung.» Beim politisch ambitionierten Typ kämen noch die fehlende Wirksamkeit («Es bringt ja nichts») und das Burnout-Syndrom hinzu («Irgendwann löscht es einem auch ab»).

Wie aber sehen die Zukunft und die wahre Gesinnung der «Aussteiger» aus? Die Nationalfondsstudie stellte fest, dass sich bloss 40 Prozent der Ausgetretenen tatsächlich auch als Ausgestiegene beurteilen lassen. Wohl legten sie ihre Springerstiefel und Bomberjacken fein säuberlich im Schrank ab, doch hielten sie ihre Ungleichwertigkeitsvorstellungen (von anderen Gruppen oder Ethnien) weiterhin aufrecht.

Bei einem Anschluss an eine rechtspolitische Partei sehen die Verfasser der Studie «die Gefahr, dass Ungleichwertigkeitsvorstellungen nicht abgebaut, sondern rationalisiert werden». In diesem Umfeld finde der Ausgetretene eine gesellschaftlich anerkannte Bestätigung seiner Überzeugungen, die er aber wegen des offiziellen Status der Partei verschweigen müsse. Immerhin: Bei allen Ausgetretenen wurde «eine Distanzierung von Gewaltanwendung» festgestellt.

euphorische Momente Doch «irgendwann löscht es einem auch ab», erzählt ein Aussteiger. Keystone/Sigi Tischler

«Es gibt neue Formen, die kaum erfassbar sind»

Wieso wird einer Neonazi – und nicht Punk, Junkie oder Evangelikaner?

Ueli Mäder: Biografische Verläufe sind nicht linear. Manchmal führen kleine Begebenheiten zu radikalen Wendungen in die eine oder andere Richtung. Über das Individuelle hin-aus spielt das familiäre, schulische und gesellschaftliche Umfeld eine Rolle. Hinzu kommt die grundlegende Wertfrage. Linke postulieren die Gleichwertigkeit, Rechte die Ungleichwertigkeit.

Gilt: Einmal rechtsradikal, immer rechtsradikal?

Mäder: Nein, überhaupt nicht. Zahlreiche Beispiele bestätigen, dass ein Ausstieg möglich ist.

Wie viele schaffen denn tatsächlich den Ausstieg?

Mäder: Dazu fehlen verlässliche Angaben. Die Anzahl rechtsextremer Jugendlicher ist nicht bekannt. Es gibt auch neue Formen in den Bereichen Esoterik oder Musik, die kaum erfassbar sind und keineswegs dem Klischee von Springerstiefeln und Glatze entsprechen.

Steigen Frauen müheloser aus als Männer?

Mäder: Ja, Frauen fällt der Ausstieg leichter. Auch, weil sie weniger in die Szene eingebunden sind. Einzelne übernehmen zwar männliche Selbstbilder. Aber Frauen kommen in der Szene eher als «mitlaufende» Freundin oder Kumpeline vor. Vielleicht fällt ihnen auch die Geschlechtsreflexion einfacher, die das Abrücken von rechtsextremen Haltungen fördert.

Sie haben in der Studie festgestellt, dass sich viele Eltern von jungen Rechtsradikalen «passiv» verhalten. Wäre eine stärkere Gegenposition wünschenswert?

Mäder: Wichtig ist, dass Eltern mit ihren Kindern in Beziehung bleiben, sich mit ihnen auseinander setzen und Vereinbarungen aushandeln. Ideologische Gegenpositionen sind von beschränkter Reichweite, Gespräche über eigene Gefühle oft hilfreicher. Nützlich sind auch Debatten über ganz andere Sachverhalte. Sie fördern die Ausdrucksfähigkeit und den Zugang zu sachlichen Argumenten.

Müsste der Staat resoluter eingreifen, auch bei Jugendlichen unter 18?

Mäder: Klare Grenzen sind nötig. Ob Stafverfahren zur Ausstiegsmotiva tion beitragen, ist umstritten. Strafen wirken besonders, wenn sie nachvollziehbar sind, wenn sie zeitlich bald nach der Straftat erfolgen und wenn vom Jugendlichen eine persönliche, Leistung abverlagt wird. Je stärker indes das Gruppengefühl ist, desto eher wirkt das Strafverfahren als szeneinterne Aufwertung. Manchmal fördert auch das veränderte Umfeld den Ausstieg aus der Szene. Vor allem, wenn Inhaftierungen beratend und therapeutisch begleitet werden.

Sind die meisten «Karrieren» von Rechtsextremen nicht einfach Episoden aus der Pubertät, die sich mit zunehmendem Alter von selbst erledigen?

Mäder: Schön wärs. Das Alter spielt gewiss eine Rolle. Etliche Jugendliche wachsen in der Tat aus der Szene her-aus. Beispielsweise, wenn sie neue Freundschaften knüpfen oder sich beruflich verändern. Aber ein Austritt ist noch lange kein Ausstieg. Es gibt auch Ältere, die ideologisch dem rechtsextremen Gedankengut verhaftet bleiben. (nig/sch)

Wieso wird einer Neonazi – und nicht Punk, Junkie oder Evangelikaner?

Ueli Mäder: Biografische Verläufe sind nicht linear. Manchmal führen kleine Begebenheiten zu radikalen Wendungen in die eine oder andere Richtung. Über das Individuelle hin-aus spielt das familiäre, schulische und gesellschaftliche Umfeld eine Rolle. Hinzu kommt die grundlegende Wertfrage. Linke postulieren die Gleichwertigkeit, Rechte die Ungleichwertigkeit.

Gilt: Einmal rechtsradikal, immer rechtsradikal?

Mäder: Nein, überhaupt nicht. Zahlreiche Beispiele bestätigen, dass ein Ausstieg möglich ist.

Wie viele schaffen denn tatsächlich den Ausstieg?

Mäder: Dazu fehlen verlässliche Angaben. Die Anzahl rechtsextremer Jugendlicher ist nicht bekannt. Es gibt auch neue Formen in den Bereichen Esoterik oder Musik, die kaum erfassbar sind und keineswegs dem Klischee von Springerstiefeln und Glatze entsprechen.

Steigen Frauen müheloser aus als Männer?

Mäder: Ja, Frauen fällt der Ausstieg leichter. Auch, weil sie weniger in die Szene eingebunden sind. Einzelne übernehmen zwar männliche Selbstbilder. Aber Frauen kommen in der Szene eher als «mitlaufende» Freundin oder Kumpeline vor. Vielleicht fällt ihnen auch die Geschlechtsreflexion einfacher, die das Abrücken von rechtsextremen Haltungen fördert.

Sie haben in der Studie festgestellt, dass sich viele Eltern von jungen Rechtsradikalen «passiv» verhalten. Wäre eine stärkere Gegenposition wünschenswert?

Mäder: Wichtig ist, dass Eltern mit ihren Kindern in Beziehung bleiben, sich mit ihnen auseinander setzen und Vereinbarungen aushandeln. Ideologische Gegenpositionen sind von beschränkter Reichweite, Gespräche über eigene Gefühle oft hilfreicher. Nützlich sind auch Debatten über ganz andere Sachverhalte. Sie fördern die Ausdrucksfähigkeit und den Zugang zu sachlichen Argumenten.

Müsste der Staat resoluter eingreifen, auch bei Jugendlichen unter 18?

Mäder: Klare Grenzen sind nötig. Ob Stafverfahren zur Ausstiegsmotiva tion beitragen, ist umstritten. Strafen wirken besonders, wenn sie nachvollziehbar sind, wenn sie zeitlich bald nach der Straftat erfolgen und wenn vom Jugendlichen eine persönliche, Leistung abverlagt wird. Je stärker indes das Gruppengefühl ist, desto eher wirkt das Strafverfahren als szeneinterne Aufwertung. Manchmal fördert auch das veränderte Umfeld den Ausstieg aus der Szene. Vor allem, wenn Inhaftierungen beratend und therapeutisch begleitet werden.

Sind die meisten «Karrieren» von Rechtsextremen nicht einfach Episoden aus der Pubertät, die sich mit zunehmendem Alter von selbst erledigen?

Mäder: Schön wärs. Das Alter spielt gewiss eine Rolle. Etliche Jugendliche wachsen in der Tat aus der Szene her-aus. Beispielsweise, wenn sie neue Freundschaften knüpfen oder sich beruflich verändern. Aber ein Austritt ist noch lange kein Ausstieg. Es gibt auch Ältere, die ideologisch dem rechtsextremen Gedankengut verhaftet bleiben.