Von der Hingabe zur Verblendung

Luzerner Zeitung. Sekten-Beratungsstellen verzeichnen immer mehr Anfragen. Was treibt Menschen überhaupt in die Fänge einer Sekte? Eine Art von fundamentalen Gruppierungen bereitet den Infostellen besondere Sorgen.

Sekten, evangelikale Gemeinschaften und esoterische Bewegungen beschäftigen die Gesellschaft nach wie vor ungebrochen. Das zeigt die aktuelle Statistik von «infoSekta», der Schweizerischen Fachstelle für Sektenfragen. Die steigenden Beratungskontakte betreffen laut «infoSekta» hauptsächlich die beiden bekanntesten Gemeinschaften Zeugen Jehovas und Scientology. «infoSekta» rechnet weiterhin mit einer Zunahme von Anfragen.

Das klingt besorgniserregend, erst recht, weil man bei der Beratungsstelle weiss, dass bei rund einem Viertel der Beratungskontakte Kinder und Jugendliche involviert sind.

Innere Krise als häufiger Einstiegsgrund

Dennoch lässt sich nicht allgemein feststellen, dass junge Menschen gefährdeter sind, in die Fänge einer radikalen religiösen Gemeinschaft zu geraten. «Das kann grundsätzlich jedem passieren», sagt hierzu Georg O. Schmid, Religionsexperte und Leiter von Relinfo.ch, der evangelischen Infostelle Kirchen – Sekten – Religionen. Es geschehe jedoch kaum aus jeder Situation heraus und nicht in jede beliebige Gemeinschaft, relativiert Schmid. «Ein Beitritt erfolgt in aller Regel aufgrund einer Krise. Menschen etwa, die sich einsam fühlen, werden angezogen von einer familiär auftretenden Gruppe, welche die interessierte Person mit Begeisterung aufnimmt und mit Zuneigung überschütten.» So eine Krise könne gerade in einem Konflikt innerhalb der eigenen Familie bestehen, nennt hier «infoSekta» einen Grund. So würden die ersten Kontakte zu einer religiösen Gruppierung Aufbruchsstimmung in den Betroffenen hervorrufen; der Kontakt zu neuen Menschen, gemeinsame Aktivitäten oder die Orientierung an klaren Werten würden dann auf diese Leute attraktiv wirken. Doch die anfängliche Hingabe könne zur Verblendung führen, warnt «infoSekta». Entfremdung und Abwendung vom vertrauten Umfeld seien die Folgen. Georg O. Schmid von Relinfo.ch weiss aus Erfahrung, dass die innere Krise, aufgrund derer jemand Zuflucht bei einer Sekte sucht, für Angehörige oft gar nicht objektiv, sondern für sie unwahrnehmbar und nicht nachvollziehbar ist.

«Auch wenn der Grossteil der radikalen Gemeinschaften im Prinzip alle Menschen ansprechen möchte, hat doch jede Organisation ihr Zielpublikum», erklärt Schmid. So zielten beispielsweise radikale salafistische Werber eher auf Junge ab, die mit der Gesellschaft negative Erfahrungen gemacht haben. Wer hingegen lehre, dass diese Welt immer schlechter wird und auf eine Apokalypse lossteuert, habe bei einsamen Senioren bessere Karten als bei partyzentrierten Jugendlichen. «Insgesamt kann aber gesagt werden», resümiert Schmid, «dass Menschen desto weniger anfällig für Werber radikaler Bewegungen sind, je besser ihr soziales Netz ist, je krisenresistenter sie sind und je positiver sie die moderne Gesellschaft erleben».

Zeugen Jehovas und Scientology oben auf Am meisten Probleme bereiten den Schweizer Beratungsstellen die Zeugen Jehovas und die Scientology. Bei «infoSekta» wird man im Falle der Zeugen Jehovas in der Beratungstätigkeit stets mit dem grossen psychischen Druck innerhalb der Gemeinschaft konfrontiert. Und oft stünden Aussteiger vor dem Nichts, hätten sämtliche sozialen Beziehungen verloren, Angst und Verunsicherung begleiteten die Aussteiger nach all der Beeinflussung durch die Sekte.

Bei Relinfo.ch verzeichnet man in Bezug auf die Scientology-Organisation am meisten Anfragen. «Dies, obschon sich die Zahl ihrer aktiven Mitglieder in den letzten 20 Jahren deutlich reduziert hat», sagt Georg O. Schmid. Doch geniesse Scientology halt grosse Bekanntheit. «Wenn der neue Geschäftspartner oder die neue Chefin negativ auffällt, wird gerne bei den Beratungsstellen nachgefragt, ob da ein Scientology-Hintergrund bestehen könnte», weiss er. Dieser Verdacht treffe manchmal tatsächlich zu, meist sei er jedoch unbegründet.

Grössere Sorgen bereiten Georg O. Schmid beispielsweise die sogenannten «Neugermanen», eine Gemeinschaft, welche die alten germanischen Götter als eine Art Volksreligion aller germanischsprachigen Menschen wiederbeleben will. «Manche Vertreter dieser Richtung, die vor allem für junge Leute attraktiv ist, verbinden diesen Ansatz mit explizitem oder unausgesprochenem Rassismus, was die Sache höchst problematisch macht», gibt Schmid zu bedenken.

Fundamentale Kleingruppen bereiten Sorgen

In der Zentralschweiz beobachtet man bei Relinfo.ch Zuwachs insbesondere bei Gemeinschaften, die spezifisch katholisch geprägte Menschen abholen wie etwa fundamentalistisch-christliche Gemeinschaften oder Gruppen, welche Esoterik mit Christentum verbinden. «Christlich geprägte Menschen, die sich vom Wertewandel der Gesellschaft bedroht fühlen, können von solchen Gruppen, die eine kommende neue Welt mit fundamentalistisch-christlichen Werten verheissen, fasziniert sein», erklärt Schmid. Tragisch dabei sei, dass ein Grossteil dieser Gruppen die Züchtigung von Kindern als Glaubenspflicht lehre. «So gibt es immer mehr junge Eltern, welche selbst als Kinder keinerlei Körperstrafen erfahren haben, sich nun aber in ihrer Überforderung einer Gemeinschaft anschliessen, die sie dazu auffordert, ihre Kinder mit der Rute zu züchtigen, um deren Eigenwillen zu brechen.»

Die wachsende Tendenz zu solchen fundamentalen familiären Kleingruppen sei sehr bedenklich, sagt Georg O. Schmid. «Während zu grossen Organisationen dank des Internets kritische Informationen zahlreich zur Verfügung stehen, können radikale Kleingruppen manchmal über Jahre problematischste Praktiken ausüben – ohne dass dies ruchbar würde.»