Verräterisches V-Wort

SonntagsZeitung vom 12.04.2009

In der Schweizer Debatte fällt immer öfter ein Wort, das sich unter guten Demokraten verbietet: das Wort «Verrat».

Roger de Weck

In der Geschichte ist der ständige Vorwurf des Verrats ein Merkmal autoritärer Politik: Wer sich der Nation, der Partei, dem Führer oder dem Kollektiv nicht unterordnet, wer vielmehr als Individuum eigenständig denkt, gilt als illoyal und darf als Verräter entwürdigt werden. Kommunisten und Nazis, Hexenjäger im Kalten Krieg und 68er- Splittergruppen haben unablässig Verräter gejagt, denn in jedem Kritiker sahen sie einen Feind. In jüngerer Zeit war es den völkischen Neonazis von der Partei National Orientierter Schweizer (Pnos) vorbehalten, diese Keule zu schwingen: «Verrat an der Schweiz», titelte das sektiererische Monatsblatt der Pnos. «Verrat an der Schweiz» und «Der Bundesrat verrät die Schweiz», verkündet aber neuerdings auch die «Weltwoche». SVP-Anzeigen warnen: «So wird die Schweiz verraten.» Der Parteipräsident ortet «Landesverräter» im Bundesrat. Entweder Toni Brunner meint es ernst, undaufgrund von Art. 267 des Strafgesetzbuchs («Vergehen gegen den Staat») müsste er klagen. Oder er «zeuselt» wieder und vergiftet so die Debatte. «Verrat – ihr habts gesprochen / Verrat – ihr habts erkannt / Es sei mit euch gebrochen; / Die Brücken sind verbrannt», heisst es in Georg Herweghs berühmtem Gedicht: Mit Verrätern führt man keinen demokratischen Dialog. Brunners ungeheure Unterstellung, im Bundesrat sässen Landesverräter, verträgt sich am allerwenigsten mit der Konkordanz. Herrscht aber «Wirtschaftskrieg», wie es heisst, ist schonungsloser Chauvinismus angesagt.Jeder Zweifel am Schwarzgeldgeschäft ist praktisch schon Verrat, ein nicht linientreuer St.Galler Ethikdozent wird blossgestellt. Doch der Verrats-Diskurs, in den selbst der CVP-Präsident einstimmte, erschwert eine vernünftige Politik. Jedes Zugeständnis an die USA und die EU, das der Bundesrat realistischerweise wird machen müssen, steht nun im Ruch des Verrats. Der Rückgriff auf das V-Wort verrät autoritäre Engstirnigkeit: Wer das Steuerhinterzieher-Business infrage stellt, stellt auch das Vaterland infrage, ist kein Patriot. Neue Zeiten, alte Untugenden: «Anschuldigungen wegen Landesverrats beruhten häufig aufpolitischen Intrigen», vermerkt das «Historische Lexikon der Schweiz».