Schaute die Polizei bloss zu?

Eine Demonstrantin wurde verletzt – das Strafverfahren gegen Unbekannt eingestellt

Tatort: Niederdorf. Zeit: 28. Oktober 1995, spätabends. Delikt: Eine junge Frau wird bewusstlos geschlagen. Ihr Anwalt erstattet Strafanzeige: Die Polizei sei nicht eingeschritten. Die Bezirksanwaltschaft stellt das Verfahren ein: Die Polizei sei gar nicht vor Ort gewesen.


Autor: VON LIZ HOROWITZ

Das Niederdorf vor einem Jahr: Am 7. und am 28. Oktober 1995 demonstrieren Autonome gegen „rassistische Übergriffe und die Präsenz von Faschisten“. Der zweite „antifaschistische Spaziergang“ gegen Neonazis und Skinheads endet blutig: Kurz vor Mitternacht haut ein mutmasslicher Rechtsextremer auf der Höhe der Niederdorfstrasse 30 mit einer Eisenstange auf eine „Spaziergängerin“ ein. Die 25jährige wird mit einem Schädelbruch und Hirntrauma sowie einer Quetschwunde und Prellungen am Becken notfallmässig ins Krankenhaus eingeliefert.

Wo war der Fahnder?

Ihr Anwalt, Marcel Bosonnet, reicht später gegen einen Fahnder sowie andere, unbekannte Beamte der Stadtpolizei Strafanzeige wegen Amtsmissbrauch und Begünstigung ein: Laut Zeugenaussagen habe namentlich der Polizist in Zivilkleidung den Übergriff beobachtet, sei aber nicht eingeschritten. Im August 1996 stellt die Bezirksanwaltschaft das Verfahren ein. Begründung: Es lägen nicht genügend Beweise vor, dass ein ziviler Polizeibeamter den Übergriff tatsächlich verfolgt und nicht eingegriffen habe. Auch den anderen Polizisten könne nicht vorgeworfen werden, dass sie den Täter absichtlich hätten entkommen lassen.

In seiner Rekursschrift gegen die Einstellungsverfügung der Bezirksanwaltschaft zeichnet Bosonnet ein anderes Bild. Mehreren Zeugen, darunter einem ehemaligen Kantonspolizisten, sei der zivile Fahnder aufgefallen. Er habe etwas im Ohr gehabt, das an einen schwarzen Hörapparat erinnerte, gab etwa eine Zeugin zu Protokoll.

Mehr noch: Bevor die Frau tätlich angegriffen wurde, hatte ein anderer Zeuge einen Trupp Polizisten am Limmatquai darauf aufmerksam gemacht, dass vor dem Restaurant „Schäfli“ ein Mann mit einer Eisenstange herumfuchtle. Die Polizisten hätten aber lediglich gelacht und seien dann in ihren Bus gestiegen und abgefahren. In einem Leserbrief an den TA zeigte sich der Zeuge später sicher, dass der Übergriff hätte verhindert werden können – wenn die Polizisten auf seinen Hinweis reagiert hätten.

Demgegenüber stehen die Aussagen des namentlich bekannten Zivilfahnders, auf welche die Bezirksanwaltschaft verweist: „X stellte in Abrede, sich zur Tatzeit am Tatort aufgehalten und die Auseinandersetzung mitverfolgt zu haben. Dazu erklärte X, dass er vom tätlichen Angriff des Unbekannten erst durch einen Funkspruch der Patrouille Gelb 12 erfahren habe. (. . .) Zu diesem Zeitpunkt habe er sich noch beim Limmatquai/Einmündung Badergasse befunden.“

Wo war der Täter?

Ein zweiter Vorwurf gegen die Polizei lautet, sie habe die Täter nicht verfolgt. Das, obwohl einige der Umstehenden gesagt hätten, dass sich der Täter sowie ein Begleiter ins Restaurant „Schäfli“ zurückgezogen hätten.

In der Einstellungsverfügung zitiert die Bezirksanwaltschaft den Einsatzleiter der Truppe folgendermassen: Er habe „mehrere Personen gefragt, ob jemand den oder die Täter gesehen habe und beschreiben könne. Niemand habe aber etwas sagen können oder wollen.“ Zwar hatte ein zweiter Beamter von der Anwesenheit von Rechtsextremen im „Schäfli“ erfahren: „Doch hätten sie allein aufgrund dieses vagen Hinweises und der Tatsache, dass sie eine Patrouille mit lediglich vier Leuten gewesen seien, keine Veranlassung und keine Möglichkeit gehabt (. . .) eine Kontrolle im ‚Schäfli‘ vorzunehmen“, schreibt die Bezirksanwaltschaft.

Was wusste die Polizei?

Mit Protokollen der Notrufnummer 117 sowie des Funkverkehrs der Stadtpolizei will Bosonnet ausserdem belegen, dass die Polizei frühzeitig über den Aufenthaltsort des mutmasslichen Täters im Bild war. „Der Tonbandabschrift von Anrufen an die Notfallnummer 117 ist zu entnehmen, dass die Polizei bereits um 23.58 Uhr von Frau Y informiert wurde, dass Bewaffnete mit Schlagstöcken ins ‚Schäfli‘ gegangen seien“, schreibt er in seiner Rekursschrift. „Die Anruferin weist die Polizei ausdrücklich darauf hin, dass die Gefahr bestehe, dass die Leute mit den Schlagstöcken das ‚Schäfli‘ wieder verlassen würden.“ Es existiert ein Funkprotokoll, in dem die Zentrale einem Beamten am Tatort meldet, dass sich die Männer mit den Schlagstöcken im Restaurant „Schäfli“ aufhielten: „Sötsch det emol es Aug voll neh.“ Doch das geschah nicht.

Der Sprecher der Stadtpolizei, Bruno Kistler, erklärte auf Anfrage des TA, er bedaure es, zu den erhobenen Vorwürfen keine Stellung nehmen zu können. Da es sich aber um ein laufendes Untersuchungsverfahren handle, dürfe er sich dazu nicht äussern.