Politphilosophin: «Die Bewegung wird von Extremen benutzt»

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Besorgte Bürger, Verschwörungstheoriker, Rechtsextreme: Philosophin Katja Gentinetta zum Umgang mit den Corona-Demos.

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Aus Protest gegen die Corona-Politik sind in Deutschland am Wochenende wieder tausende Menschen an «Querdenker»-Demonstrationen gegangen. Wie bei früheren Protesten demonstrierten besorgte Bürgerinnen und Bürger neben Anhängern von Verschwörungstheorien und Rechtsextremen. Die Gesellschaft müsse eine Antwort auf das Phänomen finden, sagt Politphilosophin Katja Gentinetta.

Katja GentinettaPolitphilosophinDie promovierte Politphilosophin ist unter anderem als Publizistin und Dozentin tätig. Sie moderiert die Talksendung «NZZ Standpunkte» und lehrt an verschiedenen Schweizer Universitäten. Von 2011 bis 2014 moderierte sie die Sendung «Sternstunde Philosophie» auf SRF.

SRF News: Für wie gefährlich halten Sie diese andauernden Proteste in Deutschland?

Katja Gentinetta: Man kann von einem «bunten Haufen» sprechen, auch ich habe diesen Zwiespalt. An den Demonstrationen versammeln sich auch Bürgerinnen und Bürger, denen die Massnahmen zu weit gehen oder Gastronomen und Geschäftsinhaber, die ihre Existenz bedroht sehen. Das sind legitime Anliegen.

Auf der anderen Seite versammeln sich Leute, die Verschwörungstheorien anhängen und das Coronavirus und die Massnahmen für dunkle Machenschaften halten. Sie stellen das System und die Ordnung infrage – das ist gefährliche Teil der Bewegung.

Also gefährden die Proteste den Zusammenhalt der Gesellschaft?

In der Tat. Sie sind auch gefährlich für die öffentliche Ordnung und die Anerkennung demokratischer Institutionen und Prozesse generell. Sie stellen genau das infrage, was ihnen Demokratien bieten. Nämlich, dass Institutionen versuchen, vernünftige Entscheide zu fällen und diese Massnahmen durchzusetzen.

Es sind aber auch Menschen, die sich missverstanden fühlen. Haben Politik und Gesellschaft zu wenig gemacht, um sie zu erreichen?

Die Schwierigkeit bei den Massnahmen besteht darin, dass man sich fragen muss, wie weit man gehen soll. Wenn wir die aktuellen Zahlen anschauen, steht die Schweiz bezüglich Betroffenheit an drittoberster Stelle, Deutschland ist sehr weit unten.

Die Bewegung wird von den Extremen benutzt.

Trotzdem erlebt Deutschland einen Teil-Lockdown. Hier können existenzielle Sorgen entstehen. Ich verstehe, dass man sich dagegen wehrt und fragt: Muss das denn so drastisch sein?

An diesen Demos wird zuweilen ausgerechnet von Menschen aus dem rechtsextremen Spektrum vor einem «totalitären Staat» gewarnt. Das hat schon etwas Absurdes?

Ja, das geht ganz klar zu weit. Auch, dass diese Demonstrationen für sich die Parallele zu den Montagsdemonstrationen beim Sturz des DDR-Regimes in Anspruch nehmen. Das ist kommunikativ zwar äusserst geschickt, hat aber nichts damit zu tun, was sie wirklich wollen.

Der deutsche Verfassungsschutz schätzt einen Teil der Leute, die an diesen Demonstrationen teilnehmen, ganz klar als gefährlich ein.

Die Demonstrationen sind das eine. Die Erstürmung des Reichstags, ein Brandanschlag auf das Robert-Koch-Institut, eine Sprengstoffexplosion in Berlin-Mitte – diese Vorfälle machen klar, dass die Bewegung von den Extremen benutzt wird. Sie benutzen jede Bewegung, um sich gewalttätig in Szene zu setzen.

«Einfach Kopfschütteln geht aber nicht (…) Nehmt die Gefahr ernst!», schreibt Goran Buldioski von den Open Society Foundation in einem Gastbeitrag der Online-Ausgabe der «Zeit». Er adressiert dabei die Verschwörungstheorien, die an den Protesten geäussert werden. Sehen Sie das auch so?

Immerhin schätzt der deutsche Verfassungsschutz einen Teil der Leute, die an diesen Demonstrationen teilnehmen, ganz klar als gefährlich ein. Das ist die Wachsamkeit, die ich mir erhoffe. Ich weiss, welche Auswirkungen diese Verschwörungstheorien haben und wie breit sie derzeit um sich schlagen, in den USA, aber auch bei uns, überall. Wir wissen aber noch nicht, wie wir damit umgehen müssen. Das ist für mich die grösste Frage. Als Gesellschaft müssen wir noch lernen, damit besser umzugehen.

Das Gespräch führte Claudia Weber.