Patriotin gegen Nationalisten

SonntagsZeitung

Micheline Calmy-Rey ist auf dem Rütli endgültig zur Landesmutter geworden

Von Denis von Burg und Michael Lütscher

Die Bundesfeier auf dem Rütli war vorüber, die meisten Besucher auf dem Heimweg. Auf der Wiese lungerte auch noch die kleine Gruppe Rechtsradikaler herum, die es trotz allem an den Anlass geschafft hatte. Da näherte sich ihnen Bundespräsidentin Micheline Calmy-Rey mitsamt einem Schwarm von Bodyguards, Politikern, Medienleuten und Fans. Die grimmigen Nationalisten stoben auseinander und verschwanden.

Schon während der Rede der Sozialdemokratin wichen die Rechtsextremen, die 2000 und 2005 die bürgerlichen Bundesräte Villiger und Schmid niedergeschrien hatten, zurück. Kein Pfiff, kein Buh-Ruf, obwohl Calmy-Rey sie tadelte und einen multikulturellen Patriotismus pries.

Calmy-Rey zog alle in ihren Bann. Ihr Besuch auf dem Rütli war ein Triumph, ein klassischer Star-Auftritt: Mit heftigem Applaus wurde sie empfangen, mit einer minutenlangen, stehenden Ovation verabschiedet. Die Leute waren nicht aus patriotischer Pflicht aufs Rütli gekommen, sondern «wegen Micheline», wie fast alle uniform ihren Rütli-Besuch begründeten. Wie sie gegen alle Widerstände, selbst als es aussichtslos schien, für die Rütlifeier kämpfte – das hatte die Besucher mächtig beeindruckt. Nonnen ebenso wie Secondos, Militärköpfe, politisch engagierte und politisch desinteressierte Frauen. Auch die bürgerlichen Parteipräsidenten Christophe Darbellay (CVP) und Fulvio Pelli (FDP) reihten sich in die Micheline-Festgemeinde ein. «Ich mag Leute, die kämpfen», sagte Pelli über Calmy-Rey. Auch Darbellay lobte: «Wahrscheinlich hätte niemand sonst die Feier hingekriegt.»

Erst die bilateralen Verträge brachten die Wende

Beliebt war die Genfer Sozialdemokratin schon immer. Wegen ihres breiten Lachens, ihrer frechen Frisur und ihrem unprätentiös-eleganten Auftritt fand man sie charmant. Sie war der Mensch im Bundesrat, der seit Adolf Ogis Rücktritt nur noch aus Funktionären und Provokateuren zu bestehen schien.

Die Rolle der Volkstribunin, den Part des Anti-Blochers, den ihr ihre Partei zugedacht hatte, vermochte sie indes lange nicht zu spielen. Zu substanzlos war ihre Politik. Innenpolitisch war sie total abwesend. Und in ihrem Aussendepartement wurde sie vom zu ihrem Amtsantritt ausbrechenden Irak-Konflikt überrumpelt und mauerte sich danach in ideologischem Antiamerikanismus und linkem Weltverbesserertum ein.

Die Herzen der Frauen, die neben dem unbedarften Good Girl Ruth Metzler wieder eine Identifikationsfigur hatten, flogen ihr zwar zu. Ihre politische Wirkung blieb indes bescheiden, und selbst die Linke war ratlos: Da hatte sie endlich eine Galionsfigur, die aber brachte innenpolitisch keinen Millimeter Bewegung.

Erst die Schlussverhandlungen zu den bilateralen Verträgen II und die schwierigen Abstimmungen darüber brachten eine Wende. Calmy-Rey gewann 2006 die Schweizer trotz Steuerstreit für einen Milliardenbeitrag an die EU. Seither macht sie auch Innenpolitik und findet instinktsicher jene Themen, die aus ihr die Ikone jenes sozialliberalen Patriotismus machen, den viele in der von Blocher losgetretenen konservativen Revolution untergehen sehen.

Innerhalb eines Jahres ist sie von der idealistischen Aussenministerin, die man mag, oder die mit ihrer Sturheit nervt, die aber nichts bewegt, zur Kultfigur des Anti-Blocher-Lagers geworden.

Letzten Mittwoch formulierte sie auf dem Rütli ihre Vorstellung von Patriotismus: «Wir sind Patrioten, die unser Land und die Menschen darin lieben. Wir sind keine Nationalisten, die die anderen hassen und sie ausschliessen. Wir grenzen nicht aus. Wir schliessen ein.» Calmy-Rey beschwor Frauenrechte, Multikulti-Gesellschaft, Zusammenhalt der Gesellschaft, Offenheit – alles was die bürgerliche Rechte schon längst disqualifiziert zu haben glaubte. Sie erntete tosenden Applaus.

Calmy-Rey sei «der Star», und die «Siegerin nach Punkten» habe ihre «Stellung als Alptraum rechtskonservativer Männerbünde gefestigt», mussten anderntags jene Innerschweizer Zeitungen feststellen, die zuvor kein gutes Wort für die Rütlifahrt der Bundespräsidentin gefunden hatten.

Im Hickhack um die Rütlifeier hatte sie zunächst den Eindruck erweckt, als disqualifiziere sie sich einmal mehr mit nerviger Sturheit zum Zwecke der persönlichen Profilierung, diesmal mit einer Weiberwanderung zum 1. August. Jetzt wird ihr Durchsetzungsvermögen gefeiert. Auch weil sie intelligent die Rechte auf ihrem eigenen Gebiet geschlagen hat: «Es geht um die Redefreiheit», sagte sie in der SonntagsZeitung im Mai auf dem Höhepunkt der Rütlikontroverse. Fortan war es schwierig, ihren Rütlischwur als Calmy-Gala zu disqualifizieren.

Die Rechte intelligent auf deren Gebiet geschlagen

Auf dem Rütli hat sie das Fernduell mit Blocher klar gewonnen – auch weil sie inzwischen gleich funktioniert: Wie Blocher besetzt Calmy-Rey das Terrain des Gegners, indem sie emotionale Themen sucht, mit denen sie sich als Hüterin des nationalen Wohlergehens darstellen und sich gleichzeitig von der Rechten distanzieren kann. Ob es wirklich um reale Probleme geht, hat zweite Priorität: Im Streit um die Mohammed-Karikaturen mahnte sie zu Zurückhaltung. Statt über Krankenkassenprämien spricht sie über die Lohnschere. Und jedes Mal führte Calmy-Rey die Gefährdung der Sicherheit oder des Zusammenhalts der Schweiz an. Sie wehrte sich auch gegen ausländische Einmischung in Steuerfragen, fordert aber Grenzen im Steuerwettbewerb.

Während andere Bundesräte immer wieder lavieren, steht Calmy-Rey repetitiv wie Blocher für ihre Positionen ein, wenn nötig gegen den Bundesrat oder die eigene Partei. Der SP warf sie vor, an den Leuten vorbeizupolitisieren. Und sie kennt den Wert öffentlicher Auftritte und kontrolliert sie entsprechend. Interviews mit der Presse liest sie persönlich gegen und beharrt selbst dann auf Aussagen, wenn sie in schlechtem Deutsch formuliert sind. Sie weiss, dass sie, um glaubwürdig zu sein, nicht nur dort auftreten kann, wo sie ein Heimspiel hat. Von dem sie hofierenden «Blick» hat sie sich teilweise verabschiedet.

All das hat auch Blocher-Advokat Christoph Mörgeli gesehen. In seiner letzten «Weltwoche»-Kolumne schrieb der SVP-Nationalrat von «La petite Blocher». Häme sollte es sein; zu lesen ist Ärger über eine, die es auch kann.

Kann Calmy-Rey, 62, die Schweiz verändern, wie das Blocher mit dem Nein zur EU und dem schärferen Ausländerrecht gemacht hat und jetzt mit einer konservativen gesellschaftspolitischen Revolution möchte? Calmy-Rey hat eine Haltung entwickelt, mit der sie im Wahljahr als Anti-Blocherin auftreten kann. Vermutlich wird ihre Partei, die derzeit serbelt, bis zu den Wahlen davon profitieren. Aber um zur Anführerin einer wirklichen politischen Bewegung zu werden, die über 1.-August-Jubel hinausgeht, fehlt Calmy-Rey ein konkretes politisches Projekt.