«Neue Anschlagsziele sind möglich»

Der Bund

Extremismus-Forscherin Julia Ebner recherchiert verdeckt in Anti-Corona-Netzwerken. Sie erklärt, weshalb Neonazis und Impfgegner gemeinsam auf die Strasse gehen – und warum QAnon eine Gefahr darstellt.

Aleksandra Hiltmann

In Deutschland und in der Schweiz gehen an den Anti-Corona-Demos Anhänger von QAnon, Rechtsextreme, die den Hitlergruss zeigen, und Impfgegner gemeinsam auf die Strasse. Was ist da los?

Diese Art der Koalition überrascht auch mich. Die Gruppierungen sind sich dabei nicht einmal einig, wer der gemeinsame Gegner ist. Die einen leugnen das Coronavirus, andere glauben, dass es sich dabei um eine kinetische Biowaffe handelt, wieder andere, dass Bill Gates versucht, die gesamte Bevölkerung unter seine Kontrolle zu bringen, indem er den Leuten über Impfungen Mikrochips einpflanzt.

Was verbindet diese Menschen?

Ausschlaggebend ist ein starkes Anti-Establishment-Ressentiment. Das brachte bereits bei den Gelbwesten-Protesten in Frankreich Menschen aus unterschiedlichsten ideologischen Ecken zusammen. Bei den Anti-Corona-Demos kommt nun noch der Frust rund um den Lockdown und das Maskentragen als einendes Element dazu.

Kann man bei diesen Demos bereits von einer Bewegung sprechen – vergleichbar mit der Fridays-for-Future-Bewegung?

Man kann mittlerweile durchaus von einer internationalen Bewegung sprechen. Die Anti-Corona-Demos in Zürich, Berlin, Madrid, Melbourne und Michigan folgen alle einem ähnlichen Muster: Man sieht dieselben Slogans und Verschwörungstheorien auf den Postern, und die Online-Mobilisierungskanäle sind teilweise stark global vernetzt.

Wieso eignet sich Corona so gut, um zu polarisieren?

Weil es wahrscheinlich die grösste Krise ist, die unsere Generation direkt betrifft. Bereits in den letzten Jahren gab es Krisen, etwa die Wirtschaftskrise. Die grossen Migrationsströme lösten bei vielen eine Identitätskrise aus, andere befanden sich nach Terroranschlägen in einer Sicherheitskrise. Und nun diese Gesundheitskrise, die gleichzeitig auch eine ökonomische ist – und das auf globaler Ebene. Mit so einer Situation hatten wir es zuvor noch nie zu tun. Dazu kommt ein riesiges Informationsvakuum. Dieses können Verschwörungstheoretiker mit ihren eigenen Inhalten füllen.

Bei den Anti-Corona-Demos laufen nicht nur Extremisten mit. Wieso lassen sich auch relativ «normale» Leute von Extrempositionen ergreifen?

Viele Demonstrierende, ob Mitglieder von verschwörungstheoretischen Netzwerken oder nicht, fürchteten sich bereits vor Corona, sozial abzusteigen. Jetzt werden sie wirtschaftlich besonders hart getroffen. Von ihren Regierungen haben sie nur bedingt Lösungsangebote erhalten. Die Ängste dieser Leute sind riesig.

Trotzdem erstaunt es, dass das Misstrauen gegenüber den Regierungen so verbreitet ist.

In Ländern wie Deutschland und der Schweiz sind die Todeszahlen im Vergleich zu anderen Ländern niedrig. Gerade hier ist das Misstrauen sehr gross. Schauen wir nach Italien, stellen wir fest, dass es sehr viel weniger QAnon-Anhänger gibt. Italien ist traumatisiert, besonders im Norden kennt jeder jemanden, der an Corona erkrankte oder Angehörige verloren hat. Da zu behaupten, Corona existiere nicht, ist schwierig.

Der relative Erfolg in der Corona-Bekämpfung verleiht Verschwörungstheorien und deren Anhängern also Auftrieb?

Ironischerweise ja.

Welche Gruppierung profitiert am meisten?

Stark profitiert haben alternative Mediennetzwerke und rechte Onlinegruppen. Diese haben in den letzten Jahren stark daran gearbeitet, das Vertrauen in die Demokratie, grosse Parteien und die Wissenschaft zu untergraben. Gerade während der Migrationskrise haben rechte Gruppierungen im deutschsprachigen Raum viele neue Kanäle gegründet und mittlerweile ein eigenes alternatives Informationsökosystem aufgebaut. Dieses wird nun eingesetzt, um zu mobilisieren. Auch rechte Youtuber und Influencer erhalten nun so richtig Zulauf.

Besteht Grund zur Sorge?

Wir sollten extremistische und verschwörungstheoretische Netzwerke auf keinen Fall unterschätzen. Das taten westliche Regierungen in der Vergangenheit viel zu lange. Bis tatsächlich et was passierte. Die Alt-Right-Netzwerke, also die rechtsextremen, weiss-nationalistischen Gruppierungen, inspirierten eine ganze Reihe von Terroristen, die Anschläge verübten. Das Attentat von Christchurch war für viele Regierungen, nicht nur für die neuseeländische, ein Weckruf. Es könnte auch im Zusammenhang mit Corona bei verschwörungstheoretischen Gruppierungen dazu kommen, dass einzelne Mitglieder zu Gewalt inspiriert werden. Etwa dann, wenn sich Feindbilder so stark etablieren, dass sich daraus ganz neue Anschlagsziele ergeben.

Welche?

Pharmakonzerne, Wissenschaftlerinnen, die an Impfstoffen forschen, Politiker, denen vorgeworfen wird, sie seien Teil dieser einen grossen Verschwörung. Und Journalisten, denn die produzieren laut QAnon Fake News. An den Anti-Corona-Demos in Deutschland haben wir bereits gesehen, wie Medienteams angegriffen wurden. Andere stürmten den Reichstag. Das sind alles erste Versuche, ein Zeichen zu setzen. Es kann jederzeit eskalieren. Man sollte diese Netzwerke sehr ernst nehmen.

Unsicherheit, aber auch falsche oder unzureichende Informationen bieten extremistischen Gruppierungen einen Nährboden. Haben Politik, Ämter und Medien in ihrer Kommunikation versagt?

Die Krise ist akut, niemand hat sie erwartet. Unter diesen Umständen haben die Schweiz und Deutschland sehr gut und schnell reagiert. Nur ist der Informationsbedarf der Bevölkerung einfach so gross, dass es schwierig ist, ihn zu decken. Gleichzeitig gab es ein grosses Informationsvakuum, in dem es wichtig gewesen wäre, von Anfang an sehr konsistent zu kommunizieren. In Deutschland ging das schief: Bundesländer, Regionalpolitiker, Lokalpolitiker widersprachen sich. Davon haben Verschwörungstheoretiker profitiert.

Was können die Medien besser machen?

Das Problem ist, dass viele Anhänger von Verschwörungstheorien bereits vor Corona in alternativen Medienkanälen unterwegs waren und «Mainstream-Medien» ablehnten.

Gibt es trotzdem einen Weg, sie zu erreichen?

Das ist extrem schwierig. Wir vom Institut für Strategischen Dialog haben beobachtet, dass es sogar noch schwieriger ist, Verschwörungstheoretiker aus ihren Netzwerken rauszuholen, als Rechtsextremisten oder generell Extremisten zu deradikalisieren. Es ist wichtig, auf einer emotionalen Ebene zu arbeiten und wieder eine Vertrauensbasis zu schaffen. Mit Fakten kommt man nicht weit.

Wieso nicht?

Weil die Informationsblase von verschwörungstheoretischen Gruppierungen in sich geschlossen ist. Alle, die versuchen, von aussen etwas an sie heranzutragen, werden als Teil der Verschwörung gesehen. Bei Extremisten ist es oft so, dass sie eine positive Erfahrung mit dem vermeintlichen «Feind» machen und danach ihre Denkmuster hinterfragen.

Und das funktioniert nicht bei QAnon?

Gerade QAnon ist eine komplexe Verschwörungstheorie. Es gibt nicht einfach eine Eigenund eine Feindgruppe. Bei QAnon gibt es viele Feindgruppen. Deshalb ist es wichtig, mehr über die tiefer liegenden Bedürfnisse dieser Menschen zu erfahren: Wieso haben sie sich dieser Gruppierung angeschlossen? Viele fühlen sich nicht gehört, nicht verstanden und im Stich gelassen. Dort muss man ansetzen.

Wie nachhaltig ist die aktuelle Mobilisierung dieser extremen Gruppierungen?

Das ist schwierig vorherzusagen. QAnon etwa verliert seit Jahren keine Mitglieder. Wie sich diese Gruppe weiterentwickelt, hängt stark davon ab, was sich ausserhalb ihrer Kreise in der Welt tun wird. Leider werden die negativen wirtschaftlichen Auswirkungen von Corona noch lange nach der Gesundheitskrise zu spüren sein, was bedeutet: viel Frustration, Angst und Ungewissheit. Ich vermute, dass sie eher expandieren. Mittlerweile haben sie auch Celebrities und Influencer dazugeholt, die ihnen zusätzliche Reichweite verleihen, etwa Xavier Naidoo oder Attila Hildmann.

Welches Thema wird Sie künftig besonders beschäftigen?

Die Impfgegner. Sobald die Impfstoffe da sind, könnten die Spaltungen, die sich bereits jetzt durch die Gesellschaft ziehen, zunehmen. Auf der einen Seite stünden jene, die die gesamte Bevölkerung impfen lassen wollen, damit wir immun werden. Auf der anderen Seite jene, die sich vehement dagegen wehren. Dieser Konflikt zeichnete sich schon an den vergangenen Protesten ab und könnte längerfristige Effekte auf die Gesundheitsversorgung, das gesamte Gesundheitssystem und auch die Corona-Krise haben.

Inwiefern?

Impfgegner-Netzwerke sind global. Wenn sich weltweit viele Menschen nicht impfen lassen, kann es sein, dass das Virus mutiert und es immer wieder zu Ausbrüchen kommt. Deshalb ist es wichtig, dass Impfstoffe genug Vorlauf bekommen und seriös getestet werden. Viele Institute arbeiten vertrauenswürdig. Aber wenn ein Impfstoff – wie in den USA – politisch gepusht wird, damit er rechtzeitig zur Präsidentschaftswahl auf den Markt kommt, verstehe ich, dass die Leute misstrauisch werden.

Julia Ebner warnt davor, verschwörungstheoretische Gruppierungen zu unterschätzen. Foto: Laif

Was ist QAnon?

Ihren Anfang nahm die Verschwörungslegende aus dem ideologisch rechten Spektrum 2017 in den USA. QAnon verbinde unterschiedliche Verschwörungstheorien zu einer Art «Masterverschwörungstheorie», so Julia Ebner. Diese dreht sich um einen «deep state». In dessen Schattenregierung, die über die USA herrsche, sässen bekannte Persönlichkeiten. Unter anderem glauben QAnon-Anhänger, dass Hillary Clinton und Barack Obama – angeblich Satanisten – geheimen Kinderhandel und einen Sex-Ring betreiben. (ahl)

Die Undercover-Forscherin

Julia Ebner wurde 1991 in Wien geboren. Heute forscht sie am Institute for Strategic Dialogue in London zu Extremismus und Radikalisierung und berät internationale Organisationen im Bereich Terrorismusprävention. Für ihre Bücher recherchiert sie verdeckt in radikalen Gruppierungen. (ahl)