«Rechtsextreme möglicherweise etwas vernachlässigt»

Aargauer Zeitung vom 17.11.2011

Interview Der ehemalige Chef des Schweizer Nachrichtendienstes, Peter Regli, verteidigt den deutschen Geheimdienst und plädiert für mehr Staatsschutz in der Schweiz.

Daniel Fuchs

Herr Regli, deutsche Verfassungsschützer konnten islamistischen Terror weitgehend eindämmen. Nun überrascht rechtsextreme Gewalt: Neonazis raubten und mordeten unbehelligt. Was lief falsch?

Peter Regli: Nach 9/11 konzentrierten sich die Geheimdienste weltweit auf den islamischen Gewaltextremismus. Auch in Deutschland sind die personellen Ressourcen des Staatsschutzes beschränkt. Ich vermute, dass man deswegen im Kampf gegen den islamistischen Terror möglicherweise die rechtsextreme Seite etwas vernachlässigt hat. Indem Politiker nun aber mit dem Finger auf den deutschen Verfassungsschutz zeigen, machen sie es sich zu einfach. Es ist schliesslich links-grüne Politik, die sich – nicht nur hierzulande – für einen exzessiven Datenschutz ausspricht. Dieser wurde in der Vergangenheit leider vermehrt zum Täterschutz.

Verübte das «Zwickauer Trio» terroristische Taten?

Ja. Ein Angriff auf Unschuldige ist Terrorismus. Unter diesem Aspekt unterscheiden sich diese rechtsextrem motivierten Taten nicht von jenen des norwegischen Amokschützen Anders Breivik.

Doch normalerweise machen Terroristen auf ihre Taten aufmerksam. Das «Zwickauer Trio» hinterliess aber kein Bekennerschreiben.

Solche Bekennerschreiben – Dschihadisten agieren häufig mit Videos – sind typisch für den islamistischen Terror. Bevor gewaltbereite Muslime als Märtyrer anerkannt werden, müssen sie ihre Tat kundtun. Die rechtsextremen Täter in Deutschland hingegen hatten einen längerfristigen Plan und wollten keine Spuren hinterlassen. Ihr Antrieb war nicht, zu Märtyrern zu werden, sondern Andersdenkende und Ausländer systematisch umzubringen.

Wie konnten die Rechtsradikalen über eine solch lange Zeitspanne unbehelligt morden und rauben?

Die Ermittlungen konzentrierten sich zuerst auf die türkische organisierte Kriminalität. Keine Indizien wiesen anscheinend auf eine Täterschaft in rechtsextremen Kreisen.

Man wirft dem deutschen Verfassungsschutz vor, auf dem rechten Auge blind zu sein. Er sei mit der rechtsextremen Szene gar verbandelt.

Es ist kein Geheimnis, dass vor allem in den neuen Bundesländern viele Jugendliche mit braunen Ideologien sympathisieren. Die Aufgabe des Staatsschutzes wiederum liegt darin, den Staat und seine Bürger vor rechtsextremen, aber auch linksextremen und islamistischen Ideologien zu schützen. Die Nachrichtendienste kommen dabei nicht umhin, so genannte V-Männer als Quellen einzusetzen. Das können Mitglieder einer rechtsextremen Organisation sein. Sie sollen die Dienste über Absichten und Tätigkeiten dieser Organisationen informieren. Die Rekrutierung solcher Leute ist sehr anspruchsvoll und risikobehaftet.

Ist der deutsche Verfassungsschutz von rechtsextremen Ideen infiltriert?

Wenn etwas passiert im rechten Spektrum, kommen umgehend solche Vorwürfe. Im Falle des deutschen Verfassungsschutzes sind zuerst die Resultate der laufenden Untersuchungen abzuwarten, bevor man sich zu solchen Spekulationen verleiten lässt.

Und in der Schweiz?

Betreffend Schweiz wären solche Vorwürfe absolut zurückzuweisen. Der Nachrichtendienst des Bundes ist auf keinem Auge blind. Er ist höchstens etwas kurzsichtig, weil der Gesetzgeber ihm eine schlechte Brille verpasst hat. Die gesetzlichen Grundlagen genügen nicht, um den Staat im erforderlichen Mass zu schützen. Das Parlament hat sich für mehr Freiheit, weniger Sicherheit und damit für mehr Risiken entschieden.

Werden hierzulande Neonazis als Spitzel eingesetzt und als solche gar entlöhnt?

Über die Mittel der Informationsbeschaffung äussert sich der Schweizer Staatsschutz nicht. Ich tue dies auch nicht.

Ein Blick in die Statistik zeigt das Bild einer verhältnismässig harmlosen rechtsextremen Szene. Geht davon in der Schweiz überhaupt noch eine Gefahr aus?

Tatsächlich nimmt rechtsextreme Gewalt ab, während linker Gewaltextremismus zunimmt. Denken Sie nur an die verurteilten Umweltaktivisten, die einen Sprengstoffanschlag auf ein IBM-Forschungszentrum in Rüschlikon planten. Oder an die militanten Tierschützer, die Daniel Vasellas Ferienhaus in Brand steckten. Oder an die linksextremen Chaoten aus der Berner Reitschulszene, die Woche für Woche für Schlagzeilen sorgen. Trotz dieser Zunahme linksextremer Gewalt: Es wäre falsch, die rechte Ecke weniger auszuleuchten.

Linksextreme Gewalt richtet sich gegen Symbole, nicht gegen Minderheiten, heisst es von links.

Wenn man bei der Berner Reitschule Polizisten angreift, am 1. Mai in Zürich Läden anzündet oder Schaufenster einschlägt, ist dies vor allem ein Angriff auf den Staat und damit auf die Bevölkerung. Problematisch ist, dass rot-grün dominierte Städte Linksextremismus kleinreden und verharmlosen. Auch die bürgerlichen Politiker unternehmen nicht wirklich etwas dagegen.

In Deutschland waren Neonazis am Werk. Nicht nur die These macht die Runde, der Verfassungsschutz sei auf dem rechten Auge blind, sondern auch jene, wonach es dieser besonders bei der Bevölkerung in den neuen Bundesländern schwer habe. Erinnerungen an die Stasi würden bis heute nachhallen.

Ich teile diese Auffassung. Die Bevölkerung in den neuen Bundesländern ist bis heute traumatisiert. Nach wie vor herrschen grosse Widerstände gegenüber dem Staatsschutz. Ich würde ähnlich denken, hätte ich miterleben müssen, mit welch menschenverachtenden Methoden DDR-Führung und Stasi ihre Bürger überwachten.

Mit der Fichenaffäre erlebte die Schweiz Ende der 1980er-Jahre einen ähnlichen Schock.

Insbesondere in links-grünen Kreisen ist die Fichenaffäre nach wie vor präsent. Das macht die für den zwingend auszubauenden Staatsschutz notwendigen Gesetzesanpassungen enorm schwierig.

Verstehen Sie jene Schweizer, die sich dagegen stemmen?

Nein, in der Schweiz verstehe ich das nicht. Es sind mehr als 20 Jahre vergangen. Die rechtsstaatlichen Grundlagen sind längst angepasst, sodass es nicht mehr zu einer Überwachung ähnlichen Ausmasses kommen kann.

Peter Regli war von 1991 bis 1999 Chef des Schweizer Nachrichtendiensts.