Israeli ausser Lebensgefahr

Tagesanzeiger vom 18.8.99

Zürich. – Der israelische Tourist, der am Montagnachmittag von einem 51-jährigen Schweizer in Zürich niedergestochen wurde, ist ausser Lebensgefahr. Laut dem zuständigen Untersuchungsrichter Alexander Knauss hatte der Täter psychische Probleme. Bundesrätin Ruth Metzler bezeichnete die Messerattacke in einer Presseerklärung als „verabscheuungswürdige Tat“, die sie zutiefst bedaure. Sie erwarte eine rasche und lückenlose Klärung.

 

Die Religion spielte eine Rolle

Antisemitismus als Motiv? Die Bluttat eines Schweizers, der am Montag einen Israeli niedergestochen hat, legt diese Vermutung nahe.

Autor: Von Ursula Eichenberger

Montagnachmittag an der Strehlgasse in der Zürcher Altstadt: Ein 48-jähriger israelischer Tourist betrachtet zusammen mit seiner Frau eine Schaufensterauslage. Plötzlich sticht ihm ein 51-jähriger Schweizer ein Messer in den Rücken. Verletzt muss das Opfer ins Spital gebracht werden. Der Täter stellt sich sofort der Polizei (TA vom 17. 8.).

Auch gestern blieben noch viele Fragen unbeantwortet. So viel steht fest: Der Israeli ist ausser Lebensgefahr, und Täter und Opfer kannten sich nicht.

Unmittelbar nach der Tat hat Untersuchungsrichter Alexander Knauss den Täter aus Schaffhausen während zweier Stunden einvernommen. „Der Mann sagte mir, dass er mit dieser Tat auf seine Anliegen aufmerksam machen wollte“, so Knauss. Er habe sich darüber beklagt, von den Behörden nicht ernst genommen zu werden. Worin aber sein Problem lag, konnte Knauss gestern nicht erklären. „Mir ist bewusst, dass es sich dabei um einen für den Tatablauf wichtigen Mosaikstein handelt, doch vorläufig muss der unbekannt bleiben.“

Hätte er keine Kippa getragen . . .

War ein Irrer am Werk? War die Tat antisemitisch motiviert? Laut Knauss hat sich der Täter das Opfer nicht gezielt ausgesucht, doch habe „dessen Religionszugehörigkeit eine Rolle gespielt“. Während der Einvernahme habe der Täter zwar weder das Wort Antisemitismus in den Mund genommen, noch ein abschätziges Wort über Juden geäussert. Sicher sei aber, dass der Mann mit psychischen Problemen zu kämpfen habe. Bereits sind ein psychiatrisches Gutachten in Auftrag gegeben und eine Strafuntersuchung wegen Verdachts auf Tötungsversuch eingeleitet worden.

Obwohl sich Knauss sicher ist, dass der Täter nicht ausschliesslich aus einer antisemitischen Haltung heraus handelte, ist er überzeugt: „Hätte das Opfer keine Kippa getragen, es wäre nicht angegriffen worden.“ Ob weitere Motive den Täter zur Bluttat verleiteten, steht offen. Als in Wiedikon vor vier Jahren ein orthodoxer Jude erstochen wurde, gestand der Täter – ein Türke -, in den Jahren zuvor bereits vier Obdachlose umgebracht zu haben. Als Motiv gab er eine innere Stimme an, die ihn zum jeweiligen Handeln aufgefordert habe.

Für Sigi Feigel, Ehrenpräsident der Israelitischen Cultusgemeinde Zürich, steht im jüngsten Fall jedoch fest: „Der Täter suchte sich bewusst einen Juden aus.“ Im Wissen um die „Empfindlichkeit der Israeli“ fügt Feigel an, dass nicht die ganze Schweiz zugestochen habe, sondern ein Einzeltäter. Als zumindest mitschuldig für den Vorfall bezeichnet er jene Menschen, „welche Tretminen legen und damit den Rassismus anheizen“. Sie müssten sich bewusst werden, dass die Summe ihrer Kampagnen eine verheerende Wirkung habe. Speziell auf psychisch labile Personen.

Fremdenfeindlicher Boden

Dass die jüngste Tat durch die Polarisierung auf politischer Ebene begünstigt wurde, steht auch für Werner Rom, Präsident der Israelitischen Cultusgemeinde, ausser Frage: „Psychisch irregeleitete Leute hantieren in unserem Land auf einem fremdenfeindlichen Boden.“ Eine Aufheizung der Fremdenfeindlichkeit auf Grund der jüngsten Tat befürchten die Zürcher jüdischen Glaubens aber nicht. Nicole Poël beispielsweise, Vizepräsidentin der jüdisch-liberalen Gemeinde Or Chadasch, ist zwar tief betroffen, aber: „Solche Vorfälle machen mir persönlich keine Angst.“ Viel empfindlicher reagiert sie auf Situationen, die von ihrem Ausmass zwar weniger gravierend, in ihrer Häufung aber schwer zu ertragen seien: Wenn etwa jüdische Kinder ihrer äusseren Erscheinung wegen von Schulkameraden dauernd gehänselt würden. An der aktuellen Messerstecherei macht Poël jedoch sehr betroffen, dass dem Täter dermassen grosse Aufmerksamkeit gewiss gewesen sei.

„Dafür hat der Mann quasi perfekt gesorgt“, sagt Rechtspsychiater Martin Kiesewetter. Durch den Tod von Ignatz Bubis und das Bekanntwerden der Schändung seines Grabes sei bereits ein emotionaler Hintergrund aufgebaut gewesen. Und Angriffe auf Juden seien immer ein politisch wie emotional „hoch besetztes“ Thema.

KOMMENTAR Wir alle sind verletzt

Autor: Von Peter Haerle

Wie angenehm wäre es doch, könnten wir die Tat des Messerstechers von Zürich für einen Einzelfall halten, der nichts mit uns und unserer Gesellschaft zu tun hat: Der Täter ein Irrer, das Opfer unglücklicherweise ein Jude, ein Zufall, zurück zum Alltag.

Doch so schnell, wie wir uns das vielleicht wünschen, geht das nicht. Etwas stellt sich dazwischen, etwas Beunruhigendes. War es denn wirklich Zufall? Nein, sagt der Untersuchungsrichter ohne Wenn und Aber: Hätte das Opfer, ein Israeli, keine Kippa auf dem Kopf getragen, wäre er nicht angegriffen worden. Der Täter hat bewusst ausgewählt, und darum handelt es sich um eine antisemitisch motivierte Tat.

Und was geht uns das an? Schliesslich haben w i r nicht zugestochen. Das ist wahr, und trotzdem sind wir Mitbeteiligte. Unsere christliche Kultur ist von Antisemitismus geprägt. Nicht die Botschaft Jesu, aber das, was daraus gemacht worden ist: Haben wir nicht schon als Kind gelernt, dass die Juden unseren Jesus umgebracht haben? Wurde uns Judas (der Name sagt doch alles) nicht schon in der Sonntagsschule als Inbegriff des wankelmütigen Verräters dargestellt, zerfressen von Geldgier?

Ob wir wollen oder nicht: Wir alle haben jahrtausendealtes Sündenbockdenken verinnerlicht. Erst wenn wir das anerkennen, können wir uns vom Antisemitismus zu befreien versuchen.

Auch aus einem anderen Grund sind wir Mitbeteiligte. Einer Gesellschaft, in der latenter Judenhass in Gewalt umschlägt, geht es schlecht. Zu viele Menschen fühlen sich als Verlierer und schlagen aus blindem Hass zu. Und zu viele schweigen dazu oder wägen ihre Worte zu wenig und bereiten damit dem Antisemitismus einen fruchtbaren Boden.

Jetzt war es ein Jude, ein andermal ist es ein Ausländer, dann ein Schwuler. Und wer kommt als Nächster? Antisemitismus und seine Folgen sind ein Angriff auf uns alle, niemand kann sich davor in Sicherheit bringen. Darum sollten wir die Empörung über die Tat von Zürich nicht an die Juden delegieren. Wir alle sind verletzt worden.